Erzählungen
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Inhalt:
Zwei Setter auf der Suche nach den Kinderhänden
Hannah und der Setter mit dem kleinen schwarzen Fleck
Niemandsland
Kurzgeschichten
Zwei Setter auf der Suche nach den Kinderhänden
In der englischen Stadt Matlock in einem roten Backsteinhaus mit kleinem Vorgarten stand in einem Raum neben der Küche eine große Holzkiste mit acht neugeborenen rotbraunen Setterwelpen. Sie lagen wie an einer Schnur aufgereiht am Gesäuge der Mutter. Ihr Quieken war durch das ganze Haus zu hören. Die von der Geburt erschöpfte Hündin schleckte sie alle der Reihe nach ab, so als wollte sie jedes Mal bis acht zählen. Zwischendurch schloss sie die Augen, um sich von der anstrengenden Nacht etwas zu erholen.
Der kleinen Rachel war diese Geräuschkulisse nicht fremd, sie vernahm durch die halbgeöffnete Tür des Kinderzimmers die frohe Botschaft.
„Welpen rief sie“, denn es war nicht der erste Wurf, der hier geboren wurde.
Sie schnappte sich ihren Bademantel, denn es war in einem schlecht beheizten englischen Cottage morgens kalt, sie lief die Holztreppe hinunter und kniete vor der Welpenkiste.
Für ihren Morgengruß, den sie als Streicheleinheiten an die erwachsenen Hunde, die im Flur schliefen, vergab, hatte sie keine Zeit. „Ihr müsst heute warten“, sagte sie im Vorbeilaufen.
Ihre Hand strich zärtlich über die Bäuche der Kleinen, die emsig versuchten sich den besten Platz an einer Zitze der Mutter zu ergattern.
Bei einem kleinen Rüden mit einem herzförmigen weißen Brustfleck hielt sie inne und rief:“Mom, das ist er, das ist Lovebird, so werde ich ihn nennen.“
Und plötzlich vergaß auch der Kleine das Trinken und schmiegte sich fest an die warme Kinderhand, er hob sein kleines Köpfchen in Richtung Rachel und obwohl seine Augen noch geschlossen waren und er nicht sehen konnte, wusste er scheinbar um ihre Zuneigung.
Die Mutter, für die die Welpenaufzucht ein Zubrot war, da sie ihren Job verloren hatte, versuchte Rachels Euphorie zu dämpfen: „Lass uns abwarten, wie er sich entwickelt, wir werden den Schönsten aussuchen, jetzt sehen sie doch alle gleich aus. Du willst doch auch, dass er ein „Sieger“ wird.“
Rachel entgegnete etwas trotzig:“ Meine Entscheidung steht fest.“
Zwei Tage später war eine kleine rote Hündin auf einem irischen Landsitz in der Nähe von Kildare in einem Holzschuppen dabei eine Kuhle zu graben. Das heruntergekommene Anwesen hatte auch schon bessere Tage gesehen und wurde von dem neuen Besitzer in eine Hundezucht umfunktioniert.
Die Hündin war hochtragend und hatte das Bedürfnis sich zurückzuziehen, da die Vielzahl der Jagdhunde verschiedener Schläge, die sich auf dem Anwesen tummelten und an ihr rochen, sie nervten.
Wurfkisten gab es hier nicht, denn der Besitzer, ein korpulenter Mann mit Barbourjacke und Gummistiefel und einer karierten Mütze wie ein echter Lord, legte Wert auf „Naturaufzucht“, was bedeutet, dass die Tiere sich selbst überlassen waren und ihnen nur das Nötigste an Nahrung zukam.
Eine junge Frau aus der Nachbarschaft, die für die Fütterung der über achtzig Hunde zuständig war, beobachtete die Vorbereitungen der kleinen roten Hündin und warf ihr ein Bündel Stroh in die Wurfkuhle.
Am Tag danach lagen sechs kleine Knäul, die meisten rot weiß gefleckt in dem Erdnest.
Die kleine Tochter der Nachbarin Bridget, die ihre Mutter manchmal beim Füttern der Hunde zusah, hörte das Quieken aus dem Schuppen, folgte den hungrigen Rufen der Kleinen und war überwältigt, als sie die „wuselige“ Grube in der Ecke des Schuppens sah. Sie kniete nieder und legte einen kleinen Rüden, der sich zu weit von der Mutter entfernt hatte, wieder zurück in das Nest. Es war der einzige mit einem kleinen weißen kreisförmigen Brustfleck. Sein Fell hatte die Farbe von unreifen roten Kirschen. Die anderen fünf Welpen waren rot- weiß gescheckt. Einer davon hatte einen schwarzen Hinterlauf.
Als sie den Kleinen loslassen wollte schmiegte er sich an ihre Hand und fiepte erschrocken.
„Wenn ich nur könnte, wie ich wollte“, sagte Bridget, ich würde dich mitnehmen und du dürftest auf einer Decke in meinem Zimmer schlafen, aber du brauchst die Milch deiner Mutter, sonst stirbst du. Aber ich werde dich täglich besuchen, du kleiner Charles.“ Ihr fiel dieser Name gerade so ein, da am Abend davor am Fernseher ein Bericht über den freundlichen englischen Thronfolger mit den Flatterohren kam.
Lovebird und seine Geschwister in Matlock entwickelten sich prächtig. Rachel half mit, wenn ihre Mutter den Welpen zusätzlich Fläschchen mit Milch zubereitete, da die Milch der Hündin nicht mehr ausreichte, um die hungrigen Rabauken satt zu bekommen. Rachel legte den kleinen Lovebird auf ihrem Schoß auf den Rücken und schob ihm den Schnuller in den zahnlosen Mund. Der Kleine zog kräftig und strampelte mit den Vorderbeinchen im Takt und das dreimal täglich.
Als er fast zwei Wochen alt war und er wieder an seinem Fläschchen sog, sah Rachel, dass sich seine Augen leicht öffneten. Sein erster Blick galt ihr. Darauf war sie sehr stolz.
Die kleine Bridget aus Irland lief am nächsten Tag als sie aus der Schule kam und ihre Mutter dabei war, Trockenfutter in die zahlreichen Näpfe zu verteilen, in den Schuppen. Sie hatte ein Bündel frisches Stroh unter dem Arm, um den Kleinen das Nest neu auszupolstern.
Ihr Schreck war groß, als sie aber nur noch vier Welpen sah. Schnell suchte sie nach Charlie. Sie war glücklich, als sie feststellte, dass er unter den vier quirligen Hundebabys war und überglücklich, als er sofort ihre Hand suchte.
Ihre Mutter war nicht sehr überrascht, als ihr Bridget sagte, dass es nur noch vier Kleine gab.
„Mr. Mc Donnel meint, dass das bei einer Naturaufzucht normal sei“, versuchte sie ihrer Tochter zu erklären.
„Sie sind jetzt im Hundehimmel“ ergänzte sie, um die Kleine zu beruhigen. „Vielleicht besser als hier“, murmelte sie vor sich hin.
Zwei Wochen später öffnete auch Charlie seine Augen und den ersten Menschen, den er zu Gesicht bekam, war natürlich Bridget.
Mc Donnel, der zwar das Fiepen der Welpen vernahm, sie aber keines Blickes würdigte, pflegte zu sagen: „Wenn sie laufen können, werden sie sich schon zeigen.“
Am Abend, als der Vater von der Arbeit kam, lief ihm Bridget entgegen und berichtete ihm von dem Lob ihrer Lehrerin für ihre guten Leistungen. Sie bemühte sich den ganzen Abend alles richtig zu machen. Den Eltern war das unheimlich, so dass der Vater beim Abendessen in seiner direkten Art sie fragte: „Bridget, spann uns nicht weiter auf die Folter, nenn uns den Anlass für deine Bemühungen, was wünscht du dir?“
Die Antwort kam prompt: „ Ich wünsche mir zum Geburtstag für dieses Jahr und die nächsten Jahre bis ich achtzehn bin, nur ein Geschenk: den kleinen Charlie.“
Sie erklärte ihrem Vater, dass das der kleine Welpe aus Mc Donnels Schuppen sei.
Der Vater machte ein nachdenkliches Gesicht und sagte: “Das wird schwer möglich sein, der alte Geizkragen verkauft seine Hunde in die ganze Welt, da er sich einen Namen gemacht hat aus welchem Grund auch immer. Dass er oft selbst nicht weiß, welches die Eltern sind, interessiert ihn nicht, dafür aber muss der Preis stimmen.
Für einen Hund müsste ich einen Monat arbeiten und du weißt, dass unsere Waschmaschine schon seit Monaten kaputt ist.“
Bridget ging traurig zu Bett und tröstete sich, dass ihr noch einige Wochen bleiben, den Vater umzustimmen.
Als Bridget am nächsten Morgen in der Schule war, rief ihre Mutter Mr.Mc Donnel an und bat ihn, ihrer Tochter den kleinen Hund zu schenken.
Dieser war recht ungehalten und erklärte ihr schroff, dass dieser bereits nach Deutschland verkauft sei und die Mutterhündin gleich mit. „Bei so vielen gefleckten Welpen nimmt mir doch bald keiner mehr ab, dass es rote Irish Setter sein sollen“, sagte er polternd. Der Kleine hat nur einen weißen Brustfleck, das ist erlaubt und der Preis stimmt auch.
Die Mutter behielt die traurige Nachricht für sich und wenn sie in den folgenden Wochen sah, wie rührend sich Bridget um den Welpen kümmerte, wischte sie sich heimlich schon mal eine Träne weg.
Unbemerkt versuchte diese sich mit Charlie aus dem Gehöft zu schleichen, um ungestört mit ihm auf den umliegenden Wiesen spielen zu können. Wenn der Kleine müde war, nahm sie ihn in den Arm und er schmiegte seinen kleinen Kopf in die warmen Kinderhände, so wie am Tag nach seiner Geburt bei der ersten Begegnung mit Bridget.
Auch in Matlock stand nicht alles zum Besten.
Von den drei kleinen Rüden entwickelte sich nur Lovebird prächtig. Die beiden anderen kränkelten. Sie erbrachen häufig die Milch und den Brei und sie lagen am liebsten in der Wurfkiste und ruhten sich aus. Das änderte sich auch nicht als sie etwas größer wurden.
Lovebird aber tollte mit Rachel im kleinen Garten herum und versuchte Schmetterlinge zu jagen.
Wenn er sich ganz wohl fühlte, knabberte er an Rachels Finger. Ihre Hände hatten es ihm angetan.
Eines Tages, als Rachel mit ihrer Schulklasse nachmittags im Zoo war und der Vater, da er Nachtschicht hatte, den Zaun zum Nachbargrundstück flickte, der ziemlich mitgenommen aussah, da die erwachsenen Hunde stets hochsprangen, wenn die getigerte Nachbarskatze selbstbewusst vorbeistolzierte, gesellte sich die Mutter zu dem Vater, um ihm ihr Herz auszuschütten:
„Nächste Woche kommt ein Mann aus Deutschland, um einen kleinen Rüden abzuholen. Es ist die einzige Nachfrage für diesen Wurf. Zwei der kleinen Rüden sind krank, Lovebird habe ich aber Rachel versprochen, was soll ich tun?“
Der Vater legte die Drahtzange zu Boden und lehnte die Rolle mit dem Maschendraht an die Hauswand:
„Ich weiß es nicht“, sagte er verbittert. Du weißt, dass wir mit der Rate für das Auto schon drei Monate hinterher sind, sie werden es pfänden und wie komme ich dann zur Arbeit? Ein Rüde im Haus mit mehreren Hündinnen, bringt Unruhe. Die Nachbarn beschweren sich sowieso ständig.“
„Ich kann das der Kleinen nicht antun“, sagte die Frau und verschwand im Haus.
„Vielleicht nimmt der Deutsche auch einen der Kleinen, wenn ich ihm im Preis entgegenkomme“, dachte sie und machte sich in der Küche zu schaffen.
Wochen später, auf einer Fähre von Dover nach Calais, standen auf dem gleichen Deck in unmittelbarer Nachbarschaft ein weißer Lieferwagen mit einem Setterkopf als Aufkleber und ein PKW mit dem gleichen Emblem, dazu noch reichlich bunte Werbung.
Aus dem Lieferwagen stieg ein gutgelaunter Mann. Sein Trachtenjanker verriet, dass er gerne den Naturburschen zur Schau stellte. Als er den Mann aus dem anderen Fahrzeug erkannte, schien er sich zu freuen. „ So wie ich dich kenne, Hüpfer, warst du auf Einkaufstour“, rief er spöttisch.
„Stimmt, Grunz“, erwiderte der Trachtenmann. Aber ich komme von der Grünen Insel und habe ein erstklassiges Produkt erworben. Er zog Charlie aus dem Lieferwagen. „Allererste Sahne“, protzte er. „ Der alte irische Geizkragen wollte mir auch die zehnjährige Mutter aufschwatzen, als ich ablehnte, hat er sie nach Australien verkauft. „Die Kerle sind hart im Nehmen, ich habe nach England übergesetzt und mir hier noch etwas angesehen, leider zu viele weiße Flecken und jetzt lebt der Kleine schon seit einer Woche in meiner Karre.
Charlie schnupperte ängstlich an der Hand seines neuen Besitzers. Das war nicht der warme Duft, den er von Bridget kannte. Der Geruch von Schweiß und Rauch erschreckte ihn, so dass er laut winselte.
Der andere sah spöttisch auf Charlie. „Nicht gerade für den Ausstellungsring“, lästerte er. „Dafür aber aus einem alten irischen Jagdhundeschlag“ , erwiderte der Naturbursche.
Stolz präsentierte der zweite Mann, nachdem er seine hellen Locken aus der Stirn gestrichen und seinen bunten Schal zurechtgezupft hatte, seinen Einkauf:
Lovebird war ein wohlgenährter Welpe von stattlicher Größe mit dunklen Augen und einem sorgenvollen Gesicht. „Ein Weltsieger“ protzte er stolz. „Alles perfekt, sieh dir die Zähne an“. Er öffnete mit seinen parfümierten Fingern den Fang des kleinen Hundes.
Auch Lovebird schreckte zurück. Am Morgen noch hatte er an Rachels Finger gelutscht, als sie mit ihm spielte, bevor sie ahnungslos zur Schule ging. Er verstand die Welt nicht mehr.
„Lass uns die Kleinen für die Überfahrt im Lieferwagen verstauen. Da können sie nicht weg und wir können uns an der Bar ein Bier gönnen. So vergeht die Zeit schneller.“
Der andere fand die Idee gut und so verstauten sie die Welpen im dunklen, kalten Fahrzeug und machten sich auf zum Oberdeck.
Die beiden Welpen kuschelten sich aneinander, ohne sich richtig zu sehen. Nach kurzer Zeit ließ die Anspannung nach und die Angst wich der Müdigkeit. Sie schliefen beide ein, so als wären sie in ihrer vertrauten Umgebung von zu Hause.
Herr Hüpfer und Herr Grunz erzählten sich viele erfundene Geschichten von großen Jagdhunden und herrlichen „Schönheitskönigen“ und nach jedem Bier versuchte der eine den anderen mit seiner Prahlerei noch mehr zu übertrumpfen.
Am gleichen Abend weinten ein englisches und ein irisches Mädchen bitterlich.
Bei der Ankunft in Calais wurden die beiden Welpen aus dem Schlaf gerissen und Lovebird fand sich in der kalten Box im Kofferraum des anderen Fahrzeugs wieder. Die Decke, die er am Vortag aus Angst durchnässte, hatte niemand gewechselt.
Bevor man sie trennte, drückte sich der kleine drahtige Ire an den wohlgenährten Engländer, so als wollte er ihm sagen: „Lass uns zusammen bleiben.“
Am nächsten Abend wurde Lovebird in einem deutschen Wohnzimmer von einer Schar neugieriger Menschen bestaunt. Auch ein kleines Mädchen aus der Nachbarschaft war darunter. Als sie Lovebird sanft über den Rücken strich, verspürte er etwas wie ein Glücksgefühl. Seine Rute bewegte sich leicht, so als wollte er wedeln.
Die Menschen bestaunten den zukünftigen Sieger, doch die Neugierde war bald vorbei und Lovebird fand sich in einem Zwinger mit zwei halbwüchsigen Rüden wieder.
Diese beschnupperten ihn zuerst neugierig und freuten sich darüber, dass durch dieses neue „Spielzeug“ endlich Abwechslung in ihr Leben gekommen war. In den folgenden Tagen setzten sie dem Kleinen richtig zu, doch Lovebird lernte schnell sich zu wehren. Er setzte seine kleinen Michzähnchen ein und biss um sich. Das beeindruckte die beiden Halbstarken, sie ließen von ihm ab. Er verzog sich in eine Schlafbox, wo er seine Ruhe hatte. Hier verbrachte er die meiste Zeit.
Menschen bekam er nur zu Gesicht, wenn sie die Futternäpfe füllten oder den Zwinger reinigten oder, was für ihn noch schlimmer war, wenn sie ihn auf einen Tisch stellten, wo er regungslos verharren musste und sie ihn abtasteten, an seinen Hoden herumfummelten oder seine Zähne begutachteten. Menschenhände, die für ihn einst Zuneigung bedeuteten, wurden jetzt zur Tortur.
Dennoch wagte er es nicht zu knurren. So tief sitzt die Zuneigung dieser edlen Geschöpfe zur Spezies Mensch. Dieser kann sie in seiner Dummheit misshandeln und sie achten ihn trotzdem. Es gibt nur wenige, die sich in äußerster Not vergessen und wehren.
Lovebirds Erinnerungen an Rachel verblassten so langsam und auch Charlie hatte er wahrscheinlich längst vergessen.
Dieser lebte jetzt auf einem heruntergekommenen Grundstück, das ursprünglich ein Schulhof war und von seinem neuen Besitzer in einen Zwinger umgebaut wurde. Seine Schlafstätte war die ehemalige Jungentoilette, die den strengen Geruch ihrer ursprünglichen Bestimmung beibehielt. Scheinbar hatte man sich keine große Mühe gemacht, diesen zu beseitigen.
Er wurde zum Einzelgänger. Er jagte Amseln und Mäuse, um sich die Zeit zu vertreiben. Aus Langeweile ärgerte er schon mal durch die Gitterstäbe einen der Welpen, die sich in den Zwingeranlagen befanden. Er liebte diese Einsamkeit. Menschen bekam er nur zu Gesicht, wenn Welpenkäufer das Grundstück betraten oder wenn ein schweigsamer hagerer Mann die Futternäpfe füllte.
Einmal kam eine Familie mit zwei Mädchen. Das kleinere der beiden stürmte auf Charlie zu und strich ihm sanft über den Kopf. Der Duft der Kinderhand weckte Erinnerungen an Bridget und er begann zu winseln.
Die Mutter der beiden Kinder war von Charlie nicht besonders angetan. Sie zog die Kleine weg:
„Guck dir lieber die niedlichen Welpen an, dieser hagere Kerl kommt für uns nicht in Frage“.
Charlie war wirklich keine Schönheit. Sein Haar war immer noch das eines Welpen und sein drahtiger Körperbau erinnerte doch stark daran, dass wahrscheinlich der alte Pointer, der auch auf dem irischen Landsitz lebte und der von Zeit zu Zeit Mr. McDonnel zur Jagd auf Moorhühner begleiten durfte, sein Vater war. Doch das alles war Charlie egal.
Für Lovebird schien sich eine Wendung anzubahnen. Eines Morgens wurde er aus dem Zwinger genommen, aus seinem Haar die verfilzten Knoten herausgeschnitten, er wurde zum ersten Mal sogar abgeduscht und gekämmt.
Herr Hüpfer legte ihm eine Leine um, das tat Rachel genauso, wenn sie mit ihm kurze Spaziergänge am Flussufer machte. Oft waren auch die anderen erwachsenen Hunde und Rachels Mutter dabei. Plötzlich wurden seine Erinnerungen wieder wach und er freute sich.
Doch sein Glücksgefühl legte sich schnell, es ging nur im Kreis herum im gepflasterten Hof. Und dann kam wieder die Tortur: Kopf hoch, Zähne zeigen und das unangenehme Gefummel zwischen den Beinen. Aber am Ende gab es zu seiner Überraschung ein Stückchen Käse als Belohnung.
Jetzt war er total verwirrt und wusste nicht, was er davon halten sollte.
Den Sinn dieser Prozedur verstand er erst einen Tag später: In einer großen Ausstellungshalle in der nahen Großstadt musste er das Gleiche noch mal über sich ergehen lassen. Diesmal nur durch eine Frau, die er nicht kannte, die ihm aber freundlich über den Kopf strich. Das mochte er.
Den Rest des Tages verbrachte er in einer Drahtbox. Er sah das rege Treiben um sich herum und wusste nicht, was er davon halten sollte.
Am folgenden Abend kehrte der Alltag zurück. Nur die beiden Halbstarken im Zwinger beschnupperten ihn ausgiebig und glotzten komisch, da er so fremd roch. Doch auch das ging vorbei.
Auch für Charlie gab es Abwechslung.
Eines Morgens packte ihn Herr Grunz in den Kofferraum seines Autos und fuhr los. Etwas später hielt er an einer Wiese, die an ein großes, grünes Weizenfeld grenzte. Es war Frühling, die Obstbäume blühten und die Wiese war von Tausenden gelben Löwenzahnblüten übersät. Als der Mann den Kofferraum öffnete und Charlie das alles sah, traute er seinen Augen nicht. Welch eine herrliche Welt. Der Mann hatte eine Flinte auf dem Rücken. Diese kannte Charlie von dem alten McDonnel, der, wenn er zu viel Whisky getrunken hatte, auf seinem Anwesen ordentlich herumballerte.
Er ließ Charlie von der Leine und rief: “Such den Fasan!“
Dieser sah die herrlichen Felder vor sich und legte los. Er rannte kreuz und quer. Er machte einige Feldlerchen hoch, die ihren Balzgesang unterbrachen und das Weite suchten, er kam an einen Hasen mit welchem er ein Wettrennen veranstaltete.
Die schrillen Pfiffe seines Besitzers vernahm er zwar, doch sie interessierten ihn wenig. Das war das wahre Leben.
Nach einer halben Stunde ließ er sich einfangen, legte sich auf das feuchte Gras und hechelte, was das Zeug hielt. Sein Besitzer schäumte vor Wut.
„Irischer Bastard, das wird Folgen haben“, rief er.
Herr Grunz zog ihn an sich heran, wechselte das Halsband und leinte ihn wieder ab.
Charlie freute sich, scheinbar war sein Ausflug gar nicht so verkehrt. Er lief wieder los, um eine neue Runde zu drehen. Ein schriller Pfiff zerriss die Stille. Im gleichen Augenblick verspürte er einen stechenden Schmerz, der wie ein Blitz in seinen Nacken fuhr.
Er drehte um, rannte zum Fahrzeug und vergrub sich unter der Stoßstange. Herr Grunz lachte hämisch. Er zog Charlie hervor, nahm ihm das Elektrohalsband ab, öffnete den Kofferraum und Charlie verschwand blitzschnell im Auto. Er kauerte sich in eine Ecke und zitterte. Herr Grunz lachte und sagte nur: “Übermut tut selten gut. Ich hoffe, es war dir eine Lehre.“ Sie fuhren wieder nach Hause und Charlie verkroch sich den ganzen Tag in der ehemaligen Kindertoilette.
Monate vergingen und Charlie und Lovebird hatten ihre Ruhe, das heißt, man beachtete sie nicht, aber auch sie ignorierten ihr Umfeld.
Nur manchmal, wenn Lovebird die warme Sonne durch die Gitterstäbe aufs Fell schien, zog er leicht die Lefzen hoch und winselte, so als würde er träumen, einen Traum von einem englischen Garten und einem Mädchen mit weichen, warmen Händen.
An warmen Tagen, wenn alles still war, schnappte sich Charlie eine alte Decke, die herumlag, rollte sich in sie hinein und träumte, dass es Bridgets Schoß wäre und aus seiner Kehle kam ein heiseres Gejaule.
Und dann kam der Tag, der alles ändern sollte.
Auf einer gemähten Wiese stand eine Vielzahl von Fahrzeugen mit teils geöffnetem Kofferraum und aus jeder Box äugten neugierige rote Setterköpfe.
Aufgeregte Menschen rannten mit ihren angeleinten Hunden umher, andere hielten Schreibblöcke in der Hand und taten sehr wichtig. Auch Kinder waren dabei.
Für Lovebird war das alles zu viel. Er beschloss, das Auto nicht zu verlassen, was Herrn Hüpfer in Rage brachte. Dieser musste aber Haltung bewahren. Als er sich aber unbeobachtet fühlte, zog er Lovebird mit einem jähen Ruck aus dem Kofferraum.
Im gleichen Augenblick öffnete sich auch die Tür des Lieferwagens und Charlie blinzelte in die Sonne.
Und plötzlich trafen sich die Blicke beider. Spekulationen, warum und ob sie sich nach Monaten überhaupt erkannten, wollen wir nicht nachgehen. Die Intelligenz, die Intuition, aber auch das Erinnerungsvermögen dieser herrlichen Geschöpfe haben mich so oft schon verblüfft.
Beide waren froh sich wieder gefunden zu haben, obwohl sie sich aus diesem Treiben hier keinen Reim machen konnten.
Sie konnten nicht wissen, dass hier eine sogenannte Zuchtauswahl stattfand, was sie aber auch nicht interessiert hätte, wenn sie deren Sinn verstanden hätten.
Lovebird sah nur, dass in einer Abgrenzung Hunde im Kreis herum geführt wurden und er erinnerte sich an das Geschehen in der Ausstellungshalle und das unangenehme Abtasten, das er über sich ergehen lassen musste. Charlie sah die grünen Wiesen, erinnerte sich an den Schmerz an der Kehle durch den Elektroschock und versuchte sein Halsband abzuschütteln. Der Schreck seines ersten „Ausflugs“ in die Freiheit saß ihm immer noch in den Gliedern.
Sie drückten sich aneinander und waren nicht zum Weiterlaufen zu bewegen.
Herr Grunz und Herr Hüpfer erkannten die für sie peinliche Situation. Ängstliche Hunde und das in der Öffentlichkeit! Die beiden „Saubermänner“ fürchteten um ihren angeblich guten Ruf, und beschlossen die beiden an den Fahrzeugen angeleint zurück zu lassen und sich zuerst mal eine Tasse Kaffee zu gönnen.
„Die beiden schlauen Strolche haben sich scheinbar erkannt“, stellten sie laut fest und schon war die Wiedersehensfreude für ungebetene Beobachter die Erklärung für die Angst der beiden Hunde.
Und wer sie hören wollte, bekam eine Geschichte über das Zusammentreffen zweier Welpen zum Besten, bei deren Ausschmückung sich beide „Lügenbarone“ übertrafen.
Ein kleines Mädchen riss sich plötzlich von der Hand ihrer Mutter los und rannte auf die beiden zu.
„Sieh mal Mama, wie traurig die beiden sind“, sie strich beiden sanft über den Rücken. Lovebird zog die Lefzen hoch und grinste und Charlie verfiel in ein tiefes Grunzen. Ein herrliches Glücksgefühl machte sich in beiden breit und für Augenblicke hatten sie die Welt um sich vergessen.
Mit viel Überredungskunst gelang es der Mutter, ihre Tochter zum Weitergehen zu bewegen.
Lovebird und Charlie blieben zurück, etwas traurig, aber mit der Ahnung, dass die Güte aus der Hand eines Kindes nicht versiegt ist. Aneinandergeschmiegt dösten sie vor sich hin.
Ein plötzlicher heller und lauter Knall durchbrach die Stille. Eine dickliche, etwas wirr blickende Frau hatte wenige Meter von den beiden im Verlauf einer sogenannten Wesensüberprüfung mit einer Schreckschusspistole in die Luft geschossen.
Angst, Entsetzen und Panik ließen Lovebird hochfahren und sein Fluchtreflex löste eine ungeahnte Kraft in seinem Körper aus. Mit einem Ruck zerfetzte er die Lederleine und suchte das Weite.
Charlie, der diese Geräusche zwar aus frühester Jugend kannte, tat dennoch das Gleiche. Ohne ihn wäre Lovebird, dem sogar das Gras unter den Pfoten fremd war, verloren.
Sie liefen, was das Zeug hielt und der leichtfüßige Charlie war überrascht über die entfesselten Kräfte in Lovebirds Beinen. Und sie rannten und rannten und wenn Charlie merkte, dass sein Freund Schlapp machen könnte, schubste er ihn mit seiner Schnauze an, denn er wusste jetzt gibt es kein Zurück mehr, denn die Folgen für beide wären bestimmt furchtbar.
Um sie herum war alles grün. Sie genossen dieses reizvolle Unbekannte.
Wären sie Menschen gewesen, hätten sie gewusst, dass sie Deutschland bereits verlassen hatten und im Elsass unterwegs waren. Doch das alles war für die beiden nicht wichtig. Hauptsache, dass sie endlich frei waren und sie genossen die Freiheit in vollen Zügen.
Plötzlich tat sich vor ihnen eine breite Straße auf, die in Bewegung war. Als sie näher kamen, merkten sie, dass diese aus Wasser bestand, das friedlich vor sich hin floss (die Ill). So etwas hatten sie noch nie gesehen. Man hatte ihnen bis jetzt die Natur vorenthalten, jetzt waren sie dabei, diese vorsichtig zu entdecken. Sie näherten sich vorsichtig dem feuchten Element und waren hocherfreut, dass sie ihren Durst stillen konnten. Charlie war mutiger, er tastete zuerst mit den Vorderbeinen das Unbekannte ab und wagte sich dann immer tiefer in das Wasser hinein. Als er nicht mehr stehen konnte, begann er zu paddeln, seine Beine führten rhythmische Bewegungen aus, er schwamm. Lovebird versuchte es ihm nachzumachen, er traute sich aber nur bis zum Bauch ins Wasser und war auch durch Charlies übermütiges Gebelle nicht dazu zu bewegen, diesem zu folgen.
Völlig übermüdet und mit knurrendem Magen legten sie sich in das hohe Gras und Charlie schlief sofort ein. Lovebird war zu aufgeregt, um zu schlafen. Er lag lange wach und lauschte dem Gesang der Nachtigallen aus dem nahen Gestrüpp und blinzelte den Sternen zu. Er schlief spät ein und wahrscheinlich träumte er von den weichen Händen der kleinen Rachel aus Matlock.
Als er am Morgen wach wurde, kam ihm Charlie mit einem toten Kaninchen im Fang entgegen.
Er hatte sich das Jagen an Mäusen und Ratten auf dem verwilderten Schulhof aus Langeweile selbst beigebracht. Lovebird der zeitlebens nur Fertigfutter kannte, schien sich vor dem Kaninchenfleisch zu ekeln. Da er aber einen Bärenhunger hatte, leckte er vorsichtig an einer Keule. Er musste feststellen, dass ihm bis jetzt scheinbar einiges entgangen ist und er schlug zu. Charlie war zufrieden und nach dem ausgiebigen Frühstück dösten sie noch ein Stündchen in der Sonne, dann brachen sie auf.
Sie liefen den ganzen Tag. Charlie war keine Müdigkeit anzumerken. Seinem kleinen drahtigen Körper schienen diese Strapazen nichts auszumachen. Lovebird war bereits am Nachmittag so erschöpft, so dass sei beschlossen in der Nähe eines Sees Rast einzulegen. Lovebird kühlte sich seine wundgelaufenen Pfoten im Wasser und er verkroch sich im Gebüsch, um etwas zu schlafen.
Charlie aber tänzelte umher und hob ständig seine Nase in den Wind. Ein Duft, der aus der Ferne kam und den er kannte, aber nicht zuordnen konnte, hatte es ihm angetan. Er ließ Lovebird weiter schlafen und „arbeitete sich“ dem Duft entgegen.
Hinter einem Wäldchen stieß er auf einen Campingplatz und er sah viele muntere Menschen, die dabei waren, den Grill für den Abend vorzubereiten. Jetzt konnte er den wunderbaren Duft einordnen. Neben dem verlassenen Schulgelände gab es eine heruntergekommene Gaststätte, die den gleichen Geruch ausströmte und manchmal kippte eine der Kellnerinnen, die mit den Hunden Mitleid hatte, eine Ladung gebratenes halb verdorbenes Fleisch und Knochen über den Zaun. Es kam dann unter den Hunden zu einem furchtbaren Gerangel, doch Charlie gelang es stets, einen ordentlichen Happen zu erwischen.
Also schlich er sich jetzt an den Campingplatz heran. Er war gerade dabei nach einer Stelle im Zaun zu suchen, denn der Geruch hatte es ihm angetan, als er auf eine Kinderschar stieß, die außerhalb des Platzes schreiend einem runden Gegenstand hinterher rannte.
Nur ein kleines Mädchen mit roten Haaren und Sommersprossen saß still und nachdenklich im hohen Gras. Sein Herz begann heftig zu klopfen und alle Erinnerungen an Bridget waren wieder da.
Das Mädchen bemerkte auch ihn und rief ihm etwas in einer Sprache, die er noch nie gehört hatte, zu. Sie lächelte freundlich und Charlie robbte auf dem Bauch langsam auf sie zu. Er legte sich still neben sie und sie strich ihm sanft über den Kopf. Am Geruch ihrer Hand erkannte er, dass es nicht Bridget war, aber es war wunderbar. Er hatte den Duft der Grillwürste vergessen, er hatte die ganze Welt vergessen, sogar Lovebird. Er dachte „sich nur nicht bewegen, dann wird dieser Augenblick nie zu Ende gehen“.
Das Ende kam durch die schrille Stimme einer Frau, die plötzlich vor ihnen stand und das Mädchen anfuhr: „Kannst du nicht wenigstens den Tisch decken, schon wieder hast du einen Köter gefunden, der ist bestimmt voller Flöhe. Wie oft habe ich die gesagt, dass man keine Hunde anfasst.“
Das Mädchen erhob sich, sah noch einmal zu Charlie hinunter und folgte traurig ihrer Mutter.
Dieser sah ihr nach und blieb noch etwas liegen, er konnte sich nicht so plötzlich aus seinem Traum reißen.
Später suchte er Lovebird und sie kehrten zum Campingplatz zurück. Als die Menschen sich zu später Stunde in ihre Wohnwägen verzogen hatten, räumten sie im Nu die Reste von sämtlichen Grills und anschließend verzogen sie sich müde ins Gebüsch am See.
Als Charlie wach wurde, war Lovebird schon dabei seinen Durst zu stillen, das gewürzte Fleisch, das er nicht kannte, war scheinbar zu viel des Guten.
Mit der Sonne zogen sie weiter. Ohne zu wissen, überquerten sie das Dreiländereck und sie waren in der Schweiz. Wenn sie ein Schild mit einem rot umrandeten Schäferhundekopf sahen, zogen sie zügig weiter. Ihr Gefühl sagte ihnen, dass es so besser wäre.
Sie lebten in den Tag hinein. Von Zeit zu Zeit erwischte Charlie wieder mal ein Kaninchen oder sie trafen in kleinen Dörfern auf spielende Kinder, manchmal sogar im Schulhof, die ihr Pausenbrot mit ihnen teilten. Nach einiger Zeit kannten sie schon das Klingelzeichen der Schulglocken und waren pünktlich zur Stelle. Denn neben Käsebrot gab es häufig auch Schmuseportionen. Die kleinen Kinderhände hatten es ihnen angetan. Die meisten Lehrer störte das nicht, es gab natürlich auch welche, die sie verscheuchten. Dann zogen sie einfach weiter.
Als sie eines Morgens unsanft durch das Motorengeratter eines Traktors geweckt wurden und sie ihre Reise fortsetzten, blieben sie nach einiger Zeit plötzlich beide wie angewurzelt stehen. Von weitem klang ihnen ein vertrautes Gebelle entgegen. Das waren Setterstimmen, wie sie sie von eh und je kannten. Sie pirschten sich langsam an einen Bauernhof heran und hofften nicht entdeckt zu werden.
Zu spät, denn über dem Lattenzaun räkelten sich mehr als ein Dutzend Setterköpfe, die mit einem freudigen Gebell ihre Artgenossen begrüßten.
Eine Frau öffnete die Eingangstür und schimpfte mit ihren Hunden: „Habt ihr mal wieder die verwilderte Katze im Visier, der ich eine Schale Milch vor das Tor gestellt habe, sie hat eben auch Hunger…“ Als sie Charlie und Lovebird sah, unterbrach sie ihre Moralpredigt und rief: „Ihr seht aber sehr mitgenommen aus, wo kommt ihr denn her? Herein mit euch!“
Sie öffnete das Tor und die beiden Halbstarken schoben sich durch die Schar neugieriger Hunde, die wie ein Empfangskomitee Spalier standen. Die beiden wurden von allen beschnuppert, was besonders Charlie etwas nervte. Als die Frau ihnen aber eine Schüssel mit Wasser brachte, stürzten sie sich darauf. Die gewürzten Würstchen, die sie vom Grill geräumt hatten, lagen ihnen immer noch im Magen. Die anderen hatten ihre Neugier befriedigt und ließen von ihnen ab. Nachdem sie ausgiebig getrunken hatten, suchten sie sich einen schattigen Platz in der Scheune und schliefen zuerst mal eine Runde.
Sie wurden aber von dem Blöken einiger neugieriger Schafe, die um sie herum standen unsanft geweckt. Charlie kläffte sie sofort an, da er diese Wesen nicht kannte, Lovebird beruhigte ihn aber, er wusste, dass sie harmlos sind, da er ihnen als Welpe auf Rachels Arm auf den Wiesen von Matlock beim Grasen zusah.
An diesem Abend machten sie noch die Bekanntschaft anderer Tiere, die auf dem Bauernhof lebten.
Da war ein aufgescheuchter Hahn mit seinen acht Hennen, die sich wohlweislich vor Charlie in Sicherheit brachten, zwei Rinder mit langen Hörnern, die die beiden Ankömmlinge respektvoll musterten und die drei Katzen, die frech fauchten, wenn die Neuen ihnen zu nahe kamen.
Die Frau, die ihnen das Tor geöffnet hatte, verfolgte vom offenen Fenster amüsiert das Schauspiel. Später kam sie mit einem Kamm und einer Bürste und säuberte beiden das Fell von den lästigen Kletten und Gräsern. Besonders Charlie, der so etwas nicht kannte, musste die Frau gut zureden. Die warme Hand, die von Zeit zu Zeit über seinen Kopf strich, entschädigte ihn für die unangenehme Prozedur.
Lovebird wurde zwar von Herrn Hüpfer vor Ausstellungen mit Schere und Kamm „zurecht gemacht“, und das war wahrlich nicht angenehm, so dass er jetzt die Handgriffe der Frau als Wohltat empfand.
Der wahre Grund für seine stoische Ruhe war aber eine junge Setterhündin, Feja, die stets seine Nähe suchte und die das Geschehen beobachtete. Sie nahm jede Gelegenheit wahr, um sich in Lovebirds Nähe aufzuhalten.
Während Lovebird zurechtgemacht wurde, beobachtete Charlie unentwegt den alten Setterrüden, der scheinbar von den Ankömmlingen nicht begeistert war und Konkurrenz „witterte“, womit er Recht haben sollte.
Charlie hatte solche Rivalitäten auf dem alten Schulgelände oft erlebt und gelernt, sich in Zurückhaltung zu „ üben“, denn Kämpfe zwischen zwei eifersüchtigen Rüden enden fast immer blutig.
Heute waren seine Befürchtungen aber unbegründet, denn die Frau verstand es, durch Zureden den alten Kerl zu beruhigen. „Sicher ist sicher“, dachte sie aber dennoch und nahm ihn mit ins Haus.
Als ihr Mann am Mittag aus Zürich zurückkam und den „Zuwachs“ sah, schien er nicht überrascht, er strich den beiden sanft über den Kopf und sagte: „Gut, dass ihr bei Ursula gelandet seid, ihr werdet es gut bei uns haben.“ Anschließend verschwand er wieder in seinem Agrarlabor, das in einem Teil des stattlichen Bauernhofs untergebracht war.
Am folgenden Wochenende kam die Enkeltochter Hella aus der Stadt zu Besuch. Es war für sie selbstverständlich bei der Pflege der Tiere mitzuhelfen. Sie entdeckte die beiden Neuen sofort und widmete ihnen ihre ganze Aufmerksamkeit. Lovebird genoss diese Zuwendung in vollen Zügen. Er versuchte immer wieder auf ihren Schoß zu klettern, wie er es als Welpe bei Rachel getan hatte.
Auch Charlie wollte etwas von Hellas Gunst abbekommen. Er drückte seinen Kopf ganz fest an das Mädchen. Als es ihm nicht gelang, Lovebird zu verdrängen, legte er sich einfach auf Hellas Füße. Es dauerte nicht lange und er schlief ein.
Ursula und ihr Mann amüsierten sich über das Spektakel und letztendlich befreiten sie Hella von der Belagerung der beiden. Der alte Rüde Fame, der gewohnt war Hellas „Liebe“ in Anspruch zu nehmen und der das Treiben nicht gerade wohlwollend beobachtete, war jetzt wieder entspannt und setzte seinen Mittagsschlaf fort.
Ein Tag wie aus dem Bilderbuch für die beiden Ausreißer. Sie waren glücklich.
Lovebird hatte endlich das Gefühl, angekommen zu sein und als sich am Abend sein Schwarm Feja auf seiner Decke breit machte und ihm dabei nur noch einen Zipfel davon übrig ließ, war für ihn die Welt in Ordnung.
Charlie, den das Abenteuer, die Felder und Wälder zu durchstreifen, schon noch reizen würde, hatte aber keine Wahl. Er musste auf Lovebird aufpassen, denn aus seiner „Rudelerfahrung“ heraus, traute er dem alten Fame nicht und wenn er sich nicht beobachtet fühlte, sah er dem alten Kerl direkt in die Augen. Dieses Drohstarren hatte ihm während seines „Zwingerdaseins“ auf dem ehemaligen Schulgelände manch einen streitsüchtigen Jungrüden vom Hals gehalten.
Im Notfall müsste er Lovebird verteidigen, denn seit ihrer gemeinsamen Fahrt im dunklen Laster auf der Fähre zwischen Dover und Calais fühlte er sich für ihn verantwortlich.
Die nächsten Tage wurde ihre Freundschaft zum ersten Mal auf eine harte Probe gestellt, denn Lovebird hatte nur noch Augen für Feja.
Charlie musste insgeheim zugeben, dass dieser unwiderstehliche Geruch, der von Feja ausging, einen Rüden schon „kirre“ machen konnte. Er wusste, dass jetzt der alte Fame unberechenbar werden könnte und Lovebird in höchster Gefahr war. Deshalb ließ er den Alten nicht aus den Augen.
Eines Morgens, als Ursula den Kaffeetisch deckte und noch etwas verschlafen in den Garten blickte, fiel ihr vor Schreck die Kaffeetasse aus der Hand. Sie stieß einen Schrei aus, so dass ihr Mann Noldi erschrocken herbeieilte. Beide starrten durch das Fenster in den Garten. Hier standen Lovebird und Feja eng beieinander und schauten verklärt Richtung Küche.
„Und jetzt? Wir wollten doch keine Welpen mehr“ sagte Ursula. Ihr Mann Noldi erwiderte in seiner ruhigen Art: „Jetzt ist es wohl zu spät. Hella wird sich freuen und du, wie ich dich kenne, auch.“ Er nahm sich eine Tasse Kaffee und verzog sich mit einem versteckten Lächeln in sein Labor.
Nach einigen Tagen schien Fejas Liebe abzuflauen und sie knurrte Lovebird sogar an, wenn er ihr zu nahe kam. ( So ist es nun mal bei Tieren). Dieser war etwas enttäuscht und er kehrte fast reumütig an die Seite von Charlie zurück.
Charlie war nicht nachtragend, im Gegenteil, er freute sich mächtig, als sein Freund wieder seine Nähe suchte.
Auch der alte Fame beruhigte sich wieder. Er ignorierte die beiden Neuen einfach und verzog sich, so oft es ihm möglich war, in das Arbeitszimmer von Noldi im Labor. Hier hatte von allen Vierbeinern nur er Zutritt.
Die folgenden Wochen waren für alle unspektakulär, aber auch schön. Diese friedliche Stille wurde nur gelegentlich getrübt, wenn ein Bussard vorbeiflog und die Hühner ordentlich in Aufruhr gerieten oder wenn der Postbote kam und die Hundeschar sich verpflichtet fühlte, diesen Ursula zu melden.
Feja aber wurde immer runder und sie fand an dem Treiben im Garten immer weniger Gefallen. Ihr Lieblingsplatz war jetzt der Teppich, den Ursula für sie unter den großen Küchentisch, an dem am Wochenende die ganze Familie Platz nahm, zurechtgelegt hatte. Feja fühlte sich jetzt einfach in der Gesellschaft der Menschen wohler und sie wurde von Hella, die jetzt jedes Wochenende auf dem Bauernhof verbrachte, rührend umsorgt. Sie streichelte Feja den Bauch und jedes Mal jauchzte sie auf, wenn sie spürte, dass ein Welpe sich bewegte.
Lovebird sah sie nur noch, wenn sie sich an sonnigen Tagen in das Gras unter den schattigen Birnbaum legte, um etwas zu schlafen. Manchmal aber suchte sie wieder seine Nähe und er war überglücklich. Er schleckte ganz hingebungsvoll ihre Ohren. Wenn es ihr zu viel wurde, kehrte sie in die Küche zurück. Darüber freute sich besonders Charlie, denn das „Spektakel“ ging ihm mächtig auf die Nerven.
An den folgenden Tagen waren Ursula und Noldi dabei, eine Wurfkiste zu basteln. Die Arbeit im Labor musste warten, es gab jetzt Wichtigeres zu tun. Nur der alte Fame hielt jetzt im Labor die Stellung und wenn er launisch war, erlaubte er selbst Noldis Mitarbeiter nicht, dessen Arbeitszimmer zu betreten.
Eines Abends spürte Lovebird, dass etwas „in der Luft lag“. Ursula rannte aufgeregt umher, sie vergaß sogar, als es Nacht wurde, die Tür des Hundezimmers zu verschließen, so dass sich Lovebird in den Garten schlich, um durch das halb geöffnete Fenster mitzubekommen, was sich in der Küche tat. Charlie folgte ihm.
Regungslos standen beide unter dem Küchenfenster und lauschten.
Nachts gegen halb zwölf hörten sie ein leises Fiepen, das immer lauter wurde und dann ein zweites und ein drittes. Zuletzt war es ein ganzes Fiepkonzert, das aus der Küche drang.
Als gegen Morgen Ursula die Tür der Küche zum Garten öffnete um mit der erschöpften Feja einen Gang durch den Garten zu machen, entdeckte sie die beiden.
„Euch können wir jetzt gar nicht gebrauchen“, rief sie amüsiert, verscheuchte die beiden ins Hundezimmer und schob den Riegel vor.
Am nächsten Morgen durfte Lovebird seine Kinder natürlich sehen. Feja lag noch müde in der Wurfkiste. Als sie Lovebird sah, bewegte sich leicht ihre Rute, dann schlief sie wieder ein. In der Wurfkiste lagen neun kräftige Welpen, 5 Mädchen und vier Jungs, die auf den Schlaf ihrer Mutter keine Rücksicht nahmen und kräftig fiepend deren Zitzen „bearbeiteten“.
Lovebird näherte sich bedächtig seiner Kinderschar und bevor Ursula die Besuchszeit als beendet erklärte, gelang es ihm noch, einen kleinen Rüden mit einem weißen Fleck auf der Brust mit seiner Schnauze sanft zu berühren.
Hella beschloss, diese Sommerferien bei ihren Großeltern zu verbringen und auf den Badeurlaub am Lago Maggiore zu verzichten. Ihre Begründung: „Oma, Feja und die Welpen brauchen mich.“ Auch Ursula und Noldi freuten sich, als Hellas Eltern zustimmten.
Sie kümmerte sich rührend um die Welpen, legte sie abwechselnd an die hinteren Zitzen der Hündin, die prall mit Milch gefüllt waren und streichelte ihnen den Bauch, um die Mutter zu entlasten. Gelegentlich saugte sich ein Welpe an ihrem Finger fest, da sie diesen mit den Zitzen verwechselten, denn noch waren ihre Augen geschlossen.
Manchmal schlichen sich Lovebird und Charlie an die Küchentür. Sie beobachteten das Treiben in der Wurfkiste. Vielleicht kamen in solchen Augenblicken Erinnerungen bei Lovebird an Rachel und bei Charlie an Bridget hoch.
Wenn Hella die beiden heimlichen „Zuschauer“ sah, eilte sie zur Tür und strich ihnen mit ihrer kleinen Hand über den Kopf. Das machte sie glücklich und sie trollten sich.
Mit vierzehn Tagen öffneten die Welpen ihre Augen und wenn Lovebird und Charlie sich wieder mal in die Küche schlichen, wurden sie von der Welpenschar schon mal mit einem heiseren Bellen empfangen. Besonders der kleine Rüde mit dem weißen Fleck musterte sie, so als wollte er fragen, welcher von den beiden wohl sein Vater sei.
Zwei Wochen später wurden sie von Hella einzeln in den Garten gebracht. Die erwachsenen Hunde beschnupperten die Kleinen und verloren schnell das Interesse an den Rabauken, die ihnen mit ihren kleinen spitzen Zähnen ziemlich zusetzten.
Auch Feja war froh, sie mal für eine Zeit vom Hals zu haben. Sie schlich sich, wenn die Küchentür offen war, auf ihren Teppich in die Küche zurück.
Nur Lovebird konnte nicht genug von den Kleinen bekommen. Er tobte mit ihnen bis zur Erschöpfung.
Sie bissen sich an seinen Ohren und seiner Rute fest und ließen sich von ihm hinterherziehen.
Wenn Ursula und Hella beim Einkaufen waren, hatten in erster Reihe die Hausenten das Nachsehen.
Jetzt gesellte sich auch Charlie zu der verrückten Meute und führte den Kleinen stolz seine Vorstehmanieren vor. Als die Kleinen an den Schwanzfedern der Hühner Gefallen fanden, war der Spaß aber begrenzt, denn der riesige weiße Hahn verteidigte sein Harem vehement gegen die Übergriffe der kleinen Rabauken.
Auch Ursula griff ein, wenn das Treiben zu bunt wurde.
Mit acht Wochen waren die Kleinen kaum noch zu bändigen. Sie gruben sich kleine Höhlen in die Blumenbeete und verteidigten diese laut kläffend gegen jeden „Eindringling“.
Wenn sie Lovebird zu stark zusetzten, knurrte er schon mal mächtig, um den Übermut seiner Kinderschar etwas zu bremsen. Charlie sah dem Treiben zu, er genoss ebenfalls diese unbeschwerte Zeit. Die monotonen Monate in der verlassenen Schule mit dem schlechten Geruch der Jungentoiletten, die kargen Mahlzeiten, ja sogar die Tortur mit dem Elektrohalsband, alles gehörte der Vergangenheit an. Diesen Menschen konnte man vertrauen, hier fühlte man sich zu Hause.
Nur manchmal, wenn er sich von allen unbeobachtet fühlte, stand er am Gartenzaun und sog den Duft der Wildnis ein.
Wenn er dann wieder von Hella in den Arm genommen wurde, hatte er scheinbar ein schlechtes Gewissen und er wollte ja nicht undankbar sein. Als Zeichen seiner Zuneigung schleckte er innbrünstig Hellas Handfläche.
An einem verregneten Morgen waren Chalie und Lovebird allein im Garten. Hella schlief an diesem Tag etwas länger, Ursula bereitete das Frühstück vor und Noldi las, wie jeden Morgen, seine Zeitung. Die anderen erwachsenen Hunde, aber auch die Welpen, zogen es vor in der warmen Küche vor sich hin zu dösen.
Die beiden Freunde trabten gemächlich am Gartenzaun entlang und genossen es, allein zu sein.
Plötzlich hielt ein weißer Lieferwagen vor dem Tor, zwei Männer stiegen aus und näherten sich dem Grundstück.
Das süßliche Parfüm von Hüpfer und der herbe Geruch von Grunz‘ Lederjanker eilte ihnen voraus.
Die beiden Hundenasen fingen sie auf und sie wussten, dass ihnen höchste Gefahr drohte.
Instinktiv versuchte Charlie über den Gartenzaun zu springen in der Hoffnung, dass ihm Lovebird folgen werde. Doch dieser rannte bellend in Richtung Küche, um seine Welpen zu beschützen.
Als Charlie das sah, folgte er seinem Freund.
Als die Haustürglocke ertönte, öffnete Ursula die Tür, um nachzusehen ob einer von Noldis Mitarbeiter wieder seinen Schlüssel vergessen hatte, denn das kam öfter vor. Charlie und Lovebird schossen an ihr vorbei und verkrochen sich unter dem Küchentisch. Noldi konnte dieses Verhalten nicht deuten und ging ebenfalls zur Tür, um den Grund für diese Hektik zu erfahren.
„Wir haben sie gesehen, wir lassen uns nicht täuschen“, rief Grunz aufgeregt und Hüpfer nickte beflissen. Ursula und Noldi konnten sich noch immer „keinen Reim“ auf diesen morgendlichen „Besuch“ machen.
„Zuerst einmal Guten Morgen und jetzt klären Sie uns auf, welchem Anlass wir diesen „Überfall“ verdanken “, erwiderte Ursula. Das Gespräch fand über den Gartenzaun statt. Normalerweise sind Ursula und Noldi freundliche Menschen und bitten den Besuch zuerst ins Haus. Scheinbar wussten sie aber, dass diesmal Vorsicht geboten ist.
Herr Hüpfer, der sich mal wieder weltmännisch geben wollte, begann mit seinem Vortrag:
„Wir sind Ihnen zu höchstem Dank verpflichtet, dass Sie die Ausreißer aufgenommen haben, wir werden für die Futterkosten aufkommen. Es sind wertvolle Tiere, die wir für teures Geld gekauft haben, sehr gutes Zuchtmaterial, das bei Ihnen ungenutzt verkommt und das bei uns ordentlich Deckgebühren einbringen wird.“
Noldi, der längst verstanden hatte, worum es ging, hatte das Gefasel satt und obwohl Unhöflichkeiten ihm nicht liegen, beendete er den Auftritt:
„Meine Herren verlassen Sie unser Grundstück, wir können Ihnen nicht weiterhelfen.“
Grunz in seiner einfach gestrickten Art polterte los, dass das Zurückhalten der beiden Hunde Diebstahl wäre und sie sich an die Kantonalpolizei wenden werden.
Stunden später kamen sie mit zwei Beamten wieder, denen die Angelegenheit sehr peinlich war. Sie kannten Noldi als einen seriösen Mann, den sie achteten.
Sie legten eine Eidestattliche Erklärung vor, die von Hüpfer und Grunz unterzeichnet war und die aussagte, dass sie die rechtmäßigen Besitzer der beiden Hunde wären.
Noldi überflog dieses einfach verfasste orthographisch bedauernswerte Papier und reichte es dem Beamten zurück.
Einer der Polizisten, der helfen wollte, machte den Vorschlag, die beiden Hunde bis zur endgültigen Klärung im Tierheim unterzubringen.
Davon hielt Noldi aber gar nichts und nach einem gescheiterten Versuch die Tiere, den beiden abzukaufen, fanden sich Lovebird und Charlie vor Angst zitternd im weißen, dunklen Transporter wieder.
Von einem Tag zum anderen hatte sich in ihrem Leben alles verändert. Gestern tobten sie noch mit den Welpen im Garten und Lovebird war so stolz, dass Feja, die wieder bei vollen Kräften war, ihnen dabei zusah.
Und Charlie dachte nur an die warmen Hände von Hella, die das ganze Leid, das ihm auf der Zwingeranlage widerfahren ist, abstreiften und wegzauberten.
Wie bei der nächtlichen Überfahrt auf der Fähre von Dover nach Calais kauerten sie sich sitzend aneinander. An Liegen war nicht zu denken, da der Blechboden des Fahrzeugs wie damals streng nach Urin roch.
Und wieder weinte ein kleines Mädchen, diesmal in der Schweiz, bitterlich. Feja, die nicht verstand, was vorgefallen war, stand am Gartenzaun und blickte unentwegt in Richtung Straße.
Hella hatte sich nach diesem Vorfall zum ersten Mal in den Ferien mit einem Buch in den letzten Winkel des Gartens zurückgezogen. Sie wollte allein sein.
Ursula ging es nicht anders, gut, dass es die Welpen gab, die sie etwas ablenkten. Sie streichelte sie alle einzeln über den Kopf. Als der Rüde mit dem weißen Fleck an der Reihe war, hielt sie inne. Ein kleines Lächeln huschte über ihr trauriges Gesicht. Sie sah Noldi an, der sich auf der Küchenbank niedergelassen hatte, und ohne ein Wort zu sprechen, verstanden sich beide.
Ursula nahm den Welpen auf den Arm und sie gingen in den Garten auf der Suche nach Hella.
Als sie sie fanden, legten sie Hella den Welpen in den Arm und gingen wieder. Fast beiläufig sagte Noldi:“Es ist Lovebird Junior, natürlich nur solange bis du einen anderen Namen für ihn gefunden hast. Ab heute gehört er dir. Du weißt ein Hund bedeutet auch viel Verantwortung. Doch du wirst es schaffen, schließlich bist du ja unsere Enkeltochter, auf die wir sehr stolz sind.“
Hella drückte den Kleinen fest an sich. Für einen Augenblick war sie wieder glücklich.
Nach Stunden der Fahrt hielt der weiße Lieferwagen auf einer Wiese neben einem großen Transporter, aus dem es kläffte, was das Zeug hielt. Zwischendurch war aus dem Inneren des riesigen Fahrzeugs auch ein klägliches Winseln zu hören.
Die Tür des Lieferwagens wurde aufgerissen und Charlie und Lovebird mit Würgeleinen nach draußen gezogen. Ein gut gelaunter Mann in Gummistiefel kam auf sie zu.
„Das sind also die „Weltenbummler“ und das ist der berühmte Charlie, wir werden ihn kurieren“, sagte er zu Grunz, den er scheinbar besser kannte. Grunz nickte. Lovebird wurde von dem Fremden keines Blickes gewürdigt.
Der Mann nahm aus seinem Rucksack ein Elektrohalsband und legte es Charlie an. Charlie wusste jetzt, dass höchste Vorsicht geboten war. Der furchtbare Schmerz, der ihm dieses Gerät bei seinem ersten „Ausflug in die Natur“ mit Grunz verursacht hatte, saß ihm immer noch in den Gliedern.
Und die Menschen um ihn herum taten so, als ob dies die normalste Erziehungsmethode der Welt sei. Der Stiefelmann hatte einige Bierflaschen aus dem Auto geholt und alle warteten gespannt, dass Charlie einen „Fehler macht“, das heißt das Weite sucht.
(Den Biergeruch kannte Charlie von der Kneipe neben dem alten Schulhof. Also waren sie wieder in Deutschland.)
Nach dieser furchtbaren Fahrt hätte er gerne mal auf dieser Wiese „eine Runde gedreht“, doch diesen Gefallen wird er ihnen nicht tun. Sie würden sich köstlich amüsieren, wenn er vor Schmerz aufjault. Also erledigte er nur sein Geschäft und blieb zitternd neben Lovebird stehen.
Auch ihm wurde so ein Gerät angelegt, aber Lovebird erkannte instinktiv an Charlies Reaktion, dass dieses Ding gefährlich sein muss. Also blieb er in Charlies Nähe und hob nur notdürftig sein Bein an einem Grasbüschel am Wegrand.
Enttäuscht drehten sich die Männer von den Hunden weg. Der Mann in Gummistiefel wandte sich wieder den beiden anderen zu:
„Der eine kennt das Ding und ist vorsichtig, der andere ist zu blöd um abzuhauen. Wenn sie spurten, ist für sie alles in Ordnung und für mich auch.
Also kommen wir zum Geschäftlichen. Ich werde den Kleinen zum Jagdhund ausbilden. Wie sie mir versichern, hat er das Zeug dazu. Was ich aber mit dem Großen machen soll, müssen Sie mir erklären. Man müsste ihm zuerst die Haare abscheren und ihn flott machen, vielleicht ihn mit dem Kleinen zusammen trainieren, denn an diesem scheint er ja zu hängen. Auf jeden Fall werde ich den beiden Manieren beibringen, dass sie in ihren kühnsten Träumen nicht mehr daran denken werden auszubüchsen. Morgen fahren wir los Richtung Spanien, herrliche Jagdreviere zum Trainieren“.
Nachdem er sich mit Grunz und Hüpfer über den Preis geeinigt hatte, wies er seinen Helfer an, die beiden in den Transporter zu bringen.
Als die Tür geöffnet wurde, offenbarte sich für die beiden das Inferno: Auf beiden Seiten übereinander gestapelt je zehn Transportboxen, alle gerade so groß, dass ein Hund darin liegen konnte, aber nicht stehen. Plötzlich jaulten alle „Käfighunde“ los, denn sie dachten, dass sie endlich für einige Minuten ins Freie kämen.
„Fehlalarm, ihr Knastbrüder, heute gibt es keinen Freigang mehr“, rief ihnen der Helfer spöttisch zu.
Drei English Setter, zwei Pointer, zwei Drahthaar und ein Kurzhaar waren die Insassen dieses Infernos.
„Verfrachte die Neuen in die leere Doppelbox, die anderen sind sowieso belegt. Das passt gut, denn der eine ist zu groß für eine normale Box und der andere braucht wenig Platz“ , rief der Mann seinem Helfer zu. Dieser verstand bei dem ohrenbetäubenden Lärm zwar nur die Hälfte, tat aber für Charlie und Lovebird das Richtige.
Auf dem Boden der Box war Stroh aufgeschüttet und sogar ein Wassernapf hing an der Tür.
Auch dieser Transportkäfig war nicht geräumig und normalerweise nur für eine kurze Fahrt für einen mittelgroßen Hund gedacht.
Die Enge war aber für Charlie und Lovebird kein Problem. Sie schmiegten sich aneinander und schliefen sofort ein.
Etwas später setzte sich das Fahrzeug in Bewegung. Jetzt wäre im Normalfall an Schlafen nicht mehr zu denken.
Motorenlärm, schlechte Luft durch eine fehlende Lüftung im Innenraum, das Knurren zweier Boxennachbarn, die sich scheinbar nicht leiden konnten, das Fiepen einer jungen Hündin, die Schmerzen hatte, da sie sich am Tag davor im Stacheldraht verfing, das war für Charlie und Lovebird das „Kontrastprogramm“ zu ihrer behüteten Welt auf dem Schweizer Bauernhof.
Lovebird träumte von seinen spielenden Welpen und Charlie hörte das Weinen von Hella beim Abschied und er spürte ganz deutlich ihre Hände, die versuchten ihn festzuhalten, als die unfreundlichen Männer Lovebird und ihn in den Lieferwagen zerrten.
Auch wenn der Transporter zwischendurch anhielt, blieben die beiden regungslos mit geschlossenen Augen liegen: „Nur nicht aufwachen in dieser neuen, grauenvollen Welt.“
Am späten Abend hielt der Transporter auf dem Parkplatz einer Gaststätte in der Nähe von Arles in Südfrankreich.
Die Hitze im Inneren des Fahrzeuges war unerträglich. Endlich öffnete der Helfer die beiden Flügeltüren und führte die Hunde an der Leine einzeln auf eine angrenzende vertrocknete Wiese am Rande eines Reisfeldes zum Lösen.
Lovebird und Charlie waren die letzten und er zog sie beide zusammen aus ihrer Box, er wollte endlich seine Arbeit beenden. Der Gummistiefelmann saß bereits mit einem Glas Rotwein auf der Terrasse der Gaststätte und flirtete mit der Bedienung.
Charlie reckte seine feine Nase in den heißen Wind, der ihnen kräftig entgegenwehte, und sog die vielen fremden Düfte auf.
Lovebird, der zwar total erschöpft war und der sich an seinen Freund drückte, merkte aber, dass Charlie hellwach war, sein Herz pochte, seine Muskeln spannten sich, diese fremde Welt hatte es ihm angetan.
Auch der Helfer merkte Charlies Regungen und er überprüfte die Funktion des Elektohalsbandes, indem er auf den Auslöser drückte. Charlie schrie auf, der Helfer lachte, doch nur für einen Augenblick, denn blitzschnell sprang Charlie wütend an ihm hoch und verbiss sich in seiner Jacke. Der Helfer verlor das Gleichgewicht und ging zu Boden.
Charlie war nicht mehr bereit, all diese Demütigungen und Misshandlungen hinzunehmen.
Der Gummistiefelmann beobachtete von der Terrasse den Vorfall, eilte herbei und zog Charlie weg von seinem Helfer. Dieser brüllte, dass er Charlie erschießen werde und den Großen gleich mit.
Sein Chef, der scheinbar nicht aus Ruhe zu bringen war, erwiderte lachend:
„Das wirst du bleiben lassen, du hast ihn herausgefordert. Ich habe mit seinem Besitzer einen Vertrag und dieser hat Vorkasse geleistet, also beruhige dich und sei vorsichtig mit diesem Teufelskerl“.
Er brachte Charlie und Lovebird selbst in den Transporter, knallte die Tür der Box zu und raunte Charlie im Weggehen an: „Sei vorsichtig, ein zweites Mal lasse ich das nicht durchgehen, ich verpasse dir dann eine Kugel.“
Er ließ die eine Flügeltür des Fahrzeugs offen, da diese Hitze im Innern unerträglich war und er seine „wertvolle Fracht“ in einem Monat wieder an ihre Besitzer aushändigen wollte. Dann ging er schnell wieder in Richtung Terrasse, denn die junge Kellnerin hatte es ihm angetan.
Diese höllischen Schmerzen, die das Elektrohalsband an seinem Hals verursacht hatte, ließen Charlie auch in der Box nicht zur Ruhe kommen. Lovebird kauerte in einer Ecke und sah hilflos zu, wie sein Freund versuchte sich abzureagieren. Dieser drehte sich unentwegt in dem engen Käfig, scharrte mit seinen Pfoten das Stroh von einer Ecke zur anderen, um das Brennen an seinem Hals los zu werden.
Und plötzlich, als bei seinen Bewegungen zufällig an die Käfigtür stieß, öffnete sich diese.
Verblüfft hielt er inne und sah zu Lovebird, der auch sofort registrierte, dass die offene Hintertür eine einmalige Chance war.
Fast gleichzeitig stürmten beide hinaus. Die Futterbehälter, die herumstanden, wurden durch die Gegend geschleudert, ein Wasserkanister fiel um, die zwei Englishsetter jaulten vor Schreck auf.
Charlie und Lovebird stürmten in die erneut gewonnene Freiheit, die sich so gut anfühlte, obwohl sie heiß und trocken war.
Und wieder rannten und rannten sie. Das Wasser, das noch in den Reisfeldern stand, war eine willkommene Kühlung. Sie überquerten eine kleine Straße, wateten durch einen halb ausgetrockneten Bach, bis sie einen großen undurchdringlichen Schilfgürtel erreichten und sich auf einer kleinen, trockenen Insel niederließen.
Hier waren sie sicher, hier würde sie niemand finden.
Die beiden Männer hatten von dem Tumult im Transporter nichts mitbekommen. Der Stiefelmann war mit seiner Kellnerin beschäftigt und der Gehilfe betrank sich. Er hatte es immer noch nicht überwunden, dass ihm Charlie die Jacke zerfetzt hatte. Ihm ging nur ein Gedanke durch den Kopf:
„Den werde ich mir morgen vorknöpfen, der wird sein blaues Wunder erleben!“
Als sie am Morgen beide noch etwas verschlafen mit dröhnendem Kopf zum Transporter kamen, hatten sie ihr „Wunder“.
Der Helfer brüllte los und griff nach seiner Flinte:
„Ich erschieße sie beide, ich werde sie finden und dann gibt es keine Gnade!“
Der Stiefelmann blieb ruhig und er pfiff seinen Helfer zurück: „Der Kleine ist intelligenter als du. Die sind jetzt über alle Berge. Es war meine Schuld, ich hätte die Flügeltüren verschließen sollen, dann säßen sie jetzt in der Falle. Der dämliche Grunz, der in Spanien zu uns stoßen sollte, wird am Flughafen von Valencia ganz schön staunen, wenn sein Köter mal wieder ausgebüxt ist. Gut, dass ich für solche Fälle einen schlauen Passus im Vertrag habe. Und jetzt lass uns losfahren. Pinkelpause für die „Knastbrüder“ gibt es später.“
Der Transporter setzte sich in Bewegung Richtung Spanien und Charlie und Lovebird blinzelten aus ihrem Versteck der aufgehenden Sonne zu.
Die beiden waren vom hellen Licht des Südens regelrecht geblendet.
Sie schliefen bis zum Abend. Der Tag war zu heiß, um weiter zu ziehen. Als es kühler wurde, brachen sie auf und staunten ganz schön, als sie nach wenigen hundert Metern an eine Wiese gelangten, die übersät war von grasenden Kaninchen.
Doch diese heile Welt hatte auch ihre Schattenseiten. Am Rande der Wiese hoppelten einige kleine Häschen wirr durch die Gegend. Sie waren fast erblindet und suchten verzweifelt nach Wasser. Sie litten unter einer furchtbaren Krankheit, von Menschen „geschaffen“, um die Wildpopulation in Australien zu dezimieren und die in Europa zum gleichen Zweck bewusst eingeführt wurde. Die Hybris des Menschen, über die Natur zu bestimmen, kennt keine Grenzen. Charlie und Lovebird aber waren hungrig und sie griffen zu. Natürlich wussten sie nicht, dass sie dadurch das Leid der totgeweihten Tiere beendeten.
In Windeseile flüchteten die noch gesunden Tierchen in ihren Bau und die beiden Freunde zogen weiter.
Aus der Ferne sahen sie die hohen Mauern einer beleuchteten Stadt mit einem hohen Turm und instinktiv machten sie einen Bogen um diese. Sie liefen die ganze Nacht durch. Wenn sie an Straßen kamen, warteten sie geduldig, bis die Lichtkegel der Scheinwerfer nicht mehr zu sehen waren, dann überquerten sie die Fahrbahn. Zwischendurch legten sie eine Rast ein, um sich zu erfrischen. Die Landschaft war mit zahlreichen Seen bestückt, so dass es Wasser in Hülle und Fülle gab.
Gegen Morgen erreichten sie eine Anhöhe mit Weinbergen und einem Gebäude mit dicken alten Mauern. Wären sie Menschen gewesen, hätten sie gewusst, dass sie sich in einem alten Klosterhof befanden.
Es war eine herrliche Welt, friedlich und fast unberührt. Schwarze Weintrauben schimmerten durch die dunkelgrünen Blätter der Reben. Wildkräuter wuchsen hier ungebremst und der Duft ihrer Blüten war betörend.
Zwischen den Weinstöcken tummelten sich Rothühner und Charlie war aus dem „Häuschen“. Aber jedes Mal, wenn er sich an sie heranschlich und zum Sprung ansetzte, verfiel Lovebird in ein dumpfes Jaulen und die Hühnchen flatterten davon. Dass er durch seine Warnungen Charlie zur Weißglut brachte, war ihm egal. Diese kleinen herrlichen Geschöpfe hatten es ihm angetan.
Als die Sonne so richtig aufging, fielen ihre Strahlen auf das grünliche Meer, das den unteren Teil des Hügels eingrenzte und sie ließen es herrlich leuchten.
Die beiden waren neugierig und stürzten sich in die Fluten. Sie wollten endlich den beißenden Geruch, den es überall in dem Transporter gab und der sich in ihrem Fell festgesetzt hatte, loswerden.
Der Geschmack des Wassers war für die beiden ungewohnt, denn es schmeckte nach Salz.
Sie staunten nicht schlecht, als ihnen eine hohe Welle entgegenkam. Diese heranrollende Wassermasse versetzte Lovebird in Schrecken und er rannte zum Ufer.
Hier saß ein kleines Mädchen, sie lachte laut und rief ihnen in einer fremden Sprache etwas zu. Wahrscheinlich amüsierte sie sich über den wasserscheuen Setter. Sie strich ihm sanft über die Stirn und zog ihn zu sich in den Sand, der mit grünen und braunen Steinen „gepflastert“ war.
Charlie eilte herbei und schmiegte sich von der anderen Seite an das Kind.
„Gut, dass ich zwei Hände habe“, muss sie wohl gesagt haben. Sie zog mit ihren kleinen warmen Kinderhänden die beiden an sich heran.
Charlie hatte die Lider halb geschlossen, Lovebird sah mit seinen großen Kulleraugen voller Ehrfurcht das Mädchen an. Aus Angst, dass der Traum zu Ende sein könnte, wagten beide nicht, sich zu bewegen.
Eine junge Frau kam auf die drei zu. Sie schien von dem Bild nicht überrascht zu sein.
„Hast du wieder Schützlinge entdeckt, um die du dich kümmern musst? Dein Vater wird mal wieder staunen, aber er kann dir ja keinen Wunsch abschlagen. Also los lasst uns gehen.“ sagte sie zu ihrer Tochter Fleur, die der Vater liebevoll so nannte, weil sie angeblich so schön wie eine Blume war.
Der Vater des Mädchens war der Pächter des kleinen Restaurants am südlichen Teil der Klostermauer.
Er und seine Familie lebten in dem Anbau, der im Mittelalter die Schlafstätte der Pilgermönche war.
Er sah von oben die sonderbare Gruppe auf sein Lokal zusteuern und er rief seiner Tochter zu:
„Mon Dieu, Fleur, was bringst du mir da, wir haben doch schon den verletzten Reiher, das kleine Entenküken und die kranke Möwe in unserem kleinen Garten. Du weißt doch, dass hier im Naturschutzgebiet Hunde nicht erlaubt sind.“
Fleur drückte ihrem Vater einen Kuss auf die Wange und „flötete“:
„Lass das meine Sorge sein, wir haben Schulferien, ich habe viel Zeit, ich werde die beiden verstecken, wenn Gäste im Restaurant sind. Du sagst doch immer, dass Gesetze da sind, damit sie umgangen werden. Lass mich nur machen. Und jetzt rück etwas Essbares heraus, die beiden haben bestimmt Hunger.“
Der Vater konnte sich normalerweise gegen alle durchsetzen, sogar gegen den „borstigen“ Abt des Klosters. Gegen seine Tochter hatte er keine Chance. Also ging er in die Küche und kam mit einem Brot und Käseresten zurück.
Es folgten herrliche Tage.
Morgens streunten die beiden Hunde mit Fleur durch die Weinberge oder sie sahen durch den Zaun den Pfauen im Klostergarten zu, wie sie angeberisch ihre Schwanzfedern zu einem Rad aufstülpten und dabei schrille Laute von sich gaben. Mittags sah man die beiden mit Fleur am Meer. Wenn ihre Gönnerin nur einen Fuß ins Wasser setzte, folgten ihre Blicke unentwegt dem Mädchen und auch der wenig mutige Lovebird hätte sich „todesmutig“ in die Wellen gestürzt, wenn Fleur Gefahr gedroht hätte.
Abends, wenn die Gäste aus der nahen Großstadt kamen, brachte Fleur die beiden in den Garten der Gaststätte.
Die Freude der anderen Gartenbewohner, die Fleur aufgenommen hatte, hielt sich in Grenzen. Man ging sich aus dem Weg. Lediglich der alte Reiher hakte gelegentlich mit seinen spitzen Schnabel nach ihnen. Wenn die letzten Besucher die Gaststätte verlassen hatten, öffnete Fleurs Vater das Gartentor und entließ die beiden in die Freiheit.
Diese waren zufrieden und dankbar. Immer, wenn sie in ihrem Leben von kaltherzigen Menschen misshandelt und gedemütigt wurden, fanden sich warme Kinderhände - die von Rachel, Bridget, Hella und jetzt Fleur- die ihnen sanft über den Kopf strichen und alles war vergessen.
Sie tauchten wieder ein in ein Leben, das von Geborgenheit und viel Freiheit geprägt war.
Tagsüber folgten sie Fleur auf Schritt und Tritt. Die Eltern amüsierten sich über die „Leibwächter“ ihrer Tochter. Insgeheim waren sie aber zufrieden, wenn Fleur nicht allein durch die wilde Landschaft strich. Sie war nämlich eine kleine Einzelgängerin und kannte jeden Baum und jeden Vogel des Anwesens rings um das Kloster.
Als der Vater seine Tochter mal wieder zu Gesicht bekam, erinnerte er sie daran, dass am folgenden Wochenende in der Kleinstadt am Fuße des Klosters das Fest der Reiter und der Stiere stattfand. Fleur bestand darauf, ihre beiden Begleiter mitzunehmen.
Das störte den Vater wenig, denn das Fest wurde auf der Wiese mit einem Frühstück vor dem Stiertreiben eingeleitet und hier gab es neben den zahlreichen Menschen auch eine Vielzahl von Hunden, die mit den Kindern herumtollten.
„Alles andere wird sich ergeben“, meinte der Vater, denn er war froh, seine Familie dabei haben.
Als sie am folgenden Sonntag auf der Wiese ankamen, waren Charlie und Lovebird begeistert.
Der Duft von Bratwurst und Grillfleisch verfing sich in ihren Nasen. Das war auch für die beiden zu dieser Stunde etwas ungewöhnlich, aber es roch verführerisch und Charlie äugte schon nach einem unbewachten Grill, um ihn abzuräumen. Fleur schien seine Gedanken zu erraten und nahm ihn an die Leine.
„Du wirst noch genug abbekommen“, meinte sie nur, zog die beiden weiter und sie präsentierte sie stolz ihren Freundinnen. Diese überhäuften Lovebird und Charlie mit ihren Streicheleinheiten.
So viel Kinderhände, das hätten die beiden sich niemals träumen lassen. Sie genossen den Morgen in vollen Zügen. Die anderen herumtollenden Hunde waren vergessen, ja sogar die Würste waren jetzt für Charlie nebensächlich.
Unweit der Wiese graste auf einer eingezäunten Fläche friedlich eine Herde schwarzer Stiere. Charlie waren sie nicht geheuer, besonders einen alten Haudegen, der im Kampf bereits ein Horn eingebüßt haben musste, beobachtete er argwöhnisch.
Instinktiv merkte er, dass von dem schwarzen Koloss Gefahr ausgehen könnte, dann müsste er Fleur beschützen und er würde es tun.
Lovebird ergötzte sich am Spiel der Reiter mit ihren schneeweißen Pferden, die sich zum Spaß mal ein kurzes Rennen lieferten und besonders eine junge Amazone hatte es ihm angetan, da sie ihn unentwegt musterte. Wahrscheinlich stellte sie sich ihn als Reitbegleiter vor. Seine schlanke Gestalt und sein seidiges langes Haar hatten es ihr „angetan“. Er war stolz über diese Aufmerksamkeit und trabte einige Augenblicke neben ihr her, um dann aber schnell wieder zu Fleur zurückzukehren. Schließlich wusste er, wo er hingehörte.
Fleur, die mit einem Auge seinen „Flirt“ beobachtete, verzieh ihm großzügig, was man von Charlie nicht behaupten kann, er ignorierte seinen Freund buchstäblich , indem er sich von ihm abwandte und noch konzentrierter den einhörnigen Bullen fixierte.
Als das Wiesenfrühstück dem Ende entgegenging und die übrig gebliebenen Stierwürste an die Hunde verteilt waren, war auch Charlie wieder gelassener. Mit vollem Magen wirken Gefahren kleiner, letztendlich hatte er Fleur ja auch alleine gründlich beschützt und schließlich war Lovebird ja sein Freund. Versöhnt brachen alle auf, nachdem die Reiter sich sieben der Stiere aus der Herde gegriffen hatten und sie in vollem Galopp Richtung Stadt trieben. Vergnügt stellte Charlie fest, dass der Einhörnige auch unter den ausgesuchten war. Wäre er ein Mensch gewesen, hätte er bestimmt Genugtuung empfunden, dass es seinem vermeintlichen Feind an den Kragen ging. Er konnte ja auch nicht wissen, dass hier in der Arena die Stierkämpfe ein unblutiges Spiel waren und die Stiere gefeiert wurden und nicht die hochnäsigen Toreros.
Unter Fanfarenklänge wurden einige Stiere in die Arena getrieben. Halbstarke sportliche Jungs in Weiß gekleidet versuchten den wilden Burschen Rosetten von den Hörnern zu pflücken, was die schlechtgelaunten schwarzen Temperamentsbolzen nicht einfach so akzeptierten. Sie schlugen die Jünglinge in die Flucht, die sich in letzter Not durch einen Sprung auf die Balustrade retteten.
Charlies einhörnigem „Freund“ ging das Spektakel ganz besonders auf die Nerven. Er jagte wild fauchend durch die Arena und scharrte anriffslustig im Sand, der bis auf die Zuschauerränge flog. Die weißen Knaben nahmen sich vor ihm in Acht.
Fleur hatte bald genug von der Vorführung. Sie drängte zum Aufbruch als sie merkte, dass Charlie und Lovebird, die sich, da es sehr eng war, unter die Sitze verzogen hatten, immer wieder versehentlich von Menschen getreten wurden.
Der Nachmittag, den sie in der Stadt verbrachten, war auch nicht besonders amüsant. Menschenmengen schlängelten sich durch die engen Straßen, manche waren leicht angetrunken, andere sangen laut, um auf sich aufmerksam zu machen.
Als Fleurs Vater endlich einen Tisch in einem Eiscafe ergattert hatte, für Fleur einen großen bunten Eisbecher und eine Schüssel mit Wasser für die beiden Freunde brachte, waren alle froh, dem Treiben entwichen zu sein.
Doch der Friede hielt nicht lange. Eine ältere Dame stellte diskret ihren Eisbecher zu Boden und ihr elegant geschorener Pudel war dabei, diesen auszuschlecken. Der flinke Dackel der gegenüberliegenden Gaststätte war blind vor Wut über diese ungeheuerliche Bevorzugung des weißen Schnösels. Wie oft hat er sich schon einen Becher echtes Vanilleeis gewünscht. Er schoss heran, um dem Pudel das Eis streitig zu machen. Beide kläfften „was das Zeug hielt“. Lovebird amüsierte sich, doch für Charlie war das zu viel. Er richtete sich auf und knurrte richtig los. Die beiden Kontrahenten waren vor Schreck wie gelähmt und gaben auf.
„Lass uns aufbrechen, die Stadt ist nichts für die beiden und für mich auch nicht. Wir sind lieber in den grünen Weinbergen, weit weg von dieser lauten Welt“, sagte Fleur. Ihre Eltern hatten auch genug, also fuhren sie zurück und genossen noch den Sonnenuntergang am Meer.
Langsam senkte sich die Sonne wie ein roter Feuerball in das graublaue Meer und überall war Ruhe und Friede.
Die folgenden Wochen verliefen ruhig. Die beiden Freunde entspannten sich und genossen die Zuwendung von Fleur.
Wenn ihre Gönnerin aber mit ihrer Mutter unterwegs war, um Einkäufe für das Restaurant zu erledigen, verzogen sich Charlie und Lovebird unter eine alte Eiche am Fuße der Weinberge und dösten vor sich hin.
Wenn sich zufällig ein junges Rebhuhn in ihre Nähe wagte, gelang es Lovebird nur mit viel Nachdruck, Charlie zu beruhigen, denn dieser fühlte wieder das Blut seiner Ahnen in seinen Adern, er begann am ganzen Körper zu beben, seine Nüstern weiteten sich und er fing instinktiv an die Luft zu kauen.
Lovebird fand dieses ganze Getue scheinbar lächerlich und er begann sogar zu knurren, um das kleine Huhn zu verscheuchen. Ob er wusste, dass er ihm damit das Leben rettet?
Als Fleurs Vater aus der Stadt kam, brachte er eine Nachricht mit, die, wie er glaubte, seine Tochter erfreuen würde. Ihm fiel ein Plakat auf, auf dem in einem nicht allzu weit entfernten Schloss ein „Setterfest“ angekündigt wurde.
„Da müssen wir unbedingt hin, denn unter ihresgleichen werden sich Charlie und Lovebird bestimmt wohl fühlen“.
An dem besagten Tag machte sich die Familie mit ihren beiden Settern auf den Weg zum Schloss, das dreißig Kilometer entfernt in einer grünen Seenlandschaft lag.
Im Umfeld des Schlosses parkten zahlreiche Fahrzeuge, die auf eine rege Beteiligung schließen ließen.
Als sie den Schlosshof betraten, staunten Fleur und ihre Familie nicht schlecht. Hier fand ein reges Treiben statt.
Auf einem aus Brettern zusammengezimmerten Podest wurden alle Teilnehmer vermessen.
War einer der Setter zu groß, wurde er schon im Vorfeld vom Wettbewerb ausgeschlossen.
Der schöne, hochgewachsene Lovebird hatte Pech. Seine edle Gestalt und seine glatten langen Haare, die sich im Wind bewegten, konnten die strengen Juroren nicht überzeugen. Zweimal schwangen sie ihr Messband und der eine verkündete mit einer donnernden Stimme: „eliminé“, was ausgeschieden bedeutet. Charlie hatte die erwünschte Größe und ihm wurde eine der Drahtboxen, die im Schlosshof aufgebaut waren, zugewiesen.
Wer Charlie kannte, wusste, dass ihm diese Käfige schon vom alten Schulhof und besonders vom Transporter des „Stiefelmannes“ zutiefst verhasst waren.
Lovebird freute sich, dass er als „Ausgeschiedener“ bei Fleur bleiben durfte.
Verdutzt sah die Familie zu, wie Charlie in die Box verfrachtet wurde und alle wussten, dass das nicht gut gehen würde.
Im Speisesaal des Schlosses begann in der Zwischenzeit die Eröffnungszeremonie. Herren im Anzug und Damen in Ballkleidern hielten Ansprachen. Ein dicklicher Herr aus Irland war scheinbar der Ehrengast der Veranstaltung. Dezent wischte er stets die Spuren von seinem Tweedjackett, wenn ein Hund ihm zufällig zu nahe kam.
Fleurs Eltern nahmen an einem Tisch Platz und bestellten sich ein Frühstück. Ihr Interesse an dem Vortrag über den Setter als internationales Kulturgut hielt sich in Grenzen.
Fleur hatte es abgelehnt, den Saal zu betreten. Sie wollte mit Lovebird in Charlies Nähe bleiben. Dieser begann in der Zwischenzeit in seinem Käfig lautstark zu rebellieren.
Nach und nach waren alle Käfige mit roten „Insassen“ gefüllt. Die meisten fügten sich ihrem Schicksal und dösten vor sich hin.
Fleur saß auf einem Mäuerchen und war entsetzt über das, was sie sah.
Eine alte weißhaarige Dame gesellte sich zu ihr. Sie bemerkte Fleurs Aufregung und versuchte sie zu trösten: „Bleib ruhig mein Kind, ich kenne all diese hohlen Reden. Die Tiere interessieren sie nicht. Wichtig sind die Urkunden und die Pokale. Manche von ihnen leben in der Stadt in einem Penthouse und ihre Hunde verbringen ihr Dasein bei einem Ausbilder im Zwinger, andere tingeln von einem Zirkus zum anderen und ihre Hunde sitzen ihr halbes Leben in Drahtkäfigen. Du musst wissen, ich habe vor Jahren die schönsten Setter gezüchtet, stolz, kräftig mit herrlichem Haar. Heute will man nur noch die kleinen „Hungerhaken“, die nur noch aus der Entfernung an einen Setter erinnern, sehen. Die Zeiten ändern sich, die Menschen inbegriffen und die Hunde auch.“
Ein grollender Donner in der Ferne kündigte ein Gewitter an, das nicht lange auf sich warten ließ.
Ein Regenguss prasselte auf die Hunde in den Boxen nieder.
Fleur war nicht mehr zu halten, sie lief zum Saal und rief: „Ihr müsst die Hunde ins Trockene bringen!“
Aus allen Ecken war der Unmut der Versammelten zu hören: „Bitte Ruhe, Kind du störst!“ riefen einige empörte Stimmen.
Verzweifelt wandte sich Fleur an die alte Frau, die unter einem Dachvorsprung sich vor dem Gewitter in Sicherheit gebracht hatte:
„Helfen wenigstens Sie mir“, rief sie verzweifelt.
„Los Kind, lass uns die Boxen öffnen und die Hunde befreien.“
In Windeseile schoben die Frau und das Kind alle Riegel an den Käfigen zurück und die Hunde stürmten kläffend ins Freie.
Es begann ein heiteres Spiel übermütiger Hunde. Sie rannten kreuz und quer durch die Pfützen, die sich im Schlosshof gebildet hatten. Auch Charlie war dabei. Lovebird konnte an dem verrückten Toben keinen Gefallen finden. Die Nähe zu Fleur war ihm wichtiger. Er schmiegte sich an sie, denn jetzt hatte er sie nur für sich allein.
Ein dürrer alter Herr mit spärlichen Haaren, einer der Funktionäre, wollte zu seinem Fahrzeug, da er seinen Hut vergessen hatte, denn es zog ihm plötzlich empfindlich um die Ohren.
Er kam aber nur bis zur Tür. Von dem Treiben im Schlosshof schockiert, rannte er so schnell es ging in den Saal zurück. Mit viel Mühe gelang es ihm, den Versammelten klar zu machen, dass ihre Hunde „ausgebrochen“ waren:
„Sie haben sich befreit“, stammelte er mit schwacher Stimme.
Alle stürzten in den Schlosshof.
In der Zwischenzeit hatten die übermütigen, glücklichen Tiere den Weiher entdeckt, der an das Gut angrenzte und dessen Uferbereich von schwarzem Moor bedeckt war. Sie wälzten sich im Schlamm und sie genossen ihre Freiheit, während die Menschen für Augenblicke zu sprachlosen Betrachter wurden. Dann begann ein wirres Pfeifen und Rufen.
Duzende Trillerpfeifen sorgten für ein perfektes Durcheinander. Die sonst so folgsamen Hunde reagierten einfach nicht auf die Befehle ihrer Besitzer. An eine Vorführung und Begutachtung der nassen und von Morast bedeckten Setter war nicht mehr zu denken.
Durch ein Mikrophon gab der Veranstalter „aufgrund widriger Umstände“ das Ende des „Setterfestes“ bekannt.
Alle traten die Heimreise an.
Charlie fand sich wieder bei Fleur und Lovebird ein. Die alte Dame verabschiedete sich mit einem dicken Kuss von Fleur. Sie flüsterte ihr zu: „Das haben wir gut gemacht.“
Fleurs Vater, der seine Tochter kannte, fragte sie leise: „Du hast doch nicht etwa deine Hand mit im Spiel gehabt?“
Sie zwinkerte ihm zu, blieb ihm aber eine Antwort schuldig.
Die Familie kehrte mit den Hunden in das Kloster in den Weinbergen zurück und sie genossen diese wunderbare Stille, die lediglich durch die Rufe der Rothühner unterbrochen wurde. Fleurs Vater gönnte sich auf der Terrasse auch ein zweites Glas Rotwein, denn er hatte für diesen Abend die Leitung des Restaurants seinem Stellvertreter überlassen, da er das Bedürfnis verspürte, mit Frau und Tochter den Abend ausklingen zu lassen.
Die Hektik in der Küche entging ihm dennoch nicht und nur mit Mühe gelang es seiner Frau ihn zurückzuhalten:
„Es geht einmal auch ohne dich und wir freuen uns so, dich einmal für uns zu haben“, sagte sie. Ihre Worte wurden von Fleur durch einen Kuss auf die Wange des Vaters zusätzlich bestätigt.
Als es auf der Terrasse kühl und der Mistralwind immer stärker wurde, zog sich die Familie in ihre Wohnung zurück und, früher als sonst, schlief auch Fleur ein. In der Küche der Gaststätte war noch ordentlich etwas los und die verführerischen Gerüche hinderten Lovebird am Einschlafen. Charlie träumte bereits auf einer Decke im Eingangsbereich. Seine kleinen Füße bewegten sich im Takt und er gab sonderbare Laute im Schlaf von sich.
Das Toben im Schlosshof war etwas, das seinem Geschmack entsprach und nun versuchte er, in seinem Traum das herrliche Spiel zu verarbeiten.
Es war schon sehr spät und Lovebird, der auch recht müde war, hätte auch schon geschlafen, wäre da nicht so ein leicht beißender Geruch gewesen, der seiner feinen Nase Unbehagen verursachte.
Er schlich sich in den Garten, doch hier blies ihm der entfesselte Wind ganze Rauchschwaden entgegen. Der eine Teil des Daches, der über der Küche war, stand bereits in Flammen.
Lovebird packte die Angst. In seiner Verzweiflung weckte er Charlie, der sofort begriff, dass höchste Gefahr drohte, denn auch das Treppenhaus war voller Rauch.
Instinktiv wussten beide, was zu tun war. Sie rannten bellend die Treppe hoch. Lovebird kratzte heftig mit beiden Pfoten an Fleurs Tür. Der beißende Rauch schnürte ihre Kehlen zu, doch Charlie verbiss sich mit seinen scharfen Zähnen in der Schlafzimmertür der Eltern.
Als Fleurs Vater die Tür aufriss, krochen die Flammen bereits das Treppenhaus empor. Er schrie auf, zog seine Frau aus dem Schlafzimmer , rannte in Fleurs Zimmer, warf eine Decke über sie und rannte mit ihr auf dem Arm die Treppe hinunter. Seine Frau mit Lovebird und Charlie folgten ihm.
Sie rannten in den Klosterhof. Hier kamen ihnen die Mönche wild gestikulierend mit Wassereimern entgegen. Einer der Mönche hatte aus seiner Zelle die Flammen gesehen und die anderen geweckt.
Der Abt hatte sofort die Feuerwehr verständigt, die nach wenigen Minuten eintraf. In der Zwischenzeit hatten die Mönche Schläuche gelegt und die Pumpe am Klosterbrunnen in Gang gesetzt, um das Schlimmste zu verhindern.
Die erschöpfte Familie hatte sich auf einer Bank im Klosterhof niedergelassen.
Fleur klammerte sich an ihren Vater, während die Mutter weinend Charlie und Lovebird unentwegt über den Kopf strich und stammelte: “Danke, ihr habt uns das Leben gerettet, ihr seid ein Geschenk des Himmels“.
Später, als das Feuer gelöscht war, verbrachten sie die Nacht in einer freien Zelle des Klosters und der kratzbürstige Abt war sogar damit einverstanden, dass Charlie und Lovebird bei der Familie schlafen durften.
„Den Heiligen Rochus aus Montpellier hat ein Hund vor dem Hungertod bewahrt, jetzt retten zwei Hunde in unserem Kloster drei Menschen das Leben. Man sollte diesen Geschöpfen in unserer Gegend ein Denkmal setzten“ sprach der alte Herr halblaut vor sich hin und verschwand ebenfalls in seiner Zelle.
Am nächsten Tag stellte sich heraus, dass der Koch, der am Abend vorher scheinbar überfordert war, vergessen hatte, den mit Starkstrom betriebenen Elektroherd auszuschalten.
Die Handwerker der Gegend waren gern gesehene Gäste im Restaurant, einige von ihnen waren auch mit Fleurs Vater befreundet. Sie fanden sich alle am folgenden Abend im Kloster ein, denn die Nachricht vom Brand hatte in der Region die Runde gemacht. Sie versprachen, innerhalb von zwei Wochen die Schäden zu beheben. Der Abt spendierte einige Flaschen Rotwein aus seiner „heiligen Sammlung“, um das Versprechen zu besiegeln.
In den folgenden Tagen wurden die beiden Setter zur Sensation der ganzen Region.
Heerscharen von Menschen kamen, um die beiden Lebensretter zu sehen, Kamerateams lauerten an den Klostermauern um ein Bild von dem Mädchen und ihren Settern zu erhaschen. All das ging Fleur ziemlich auf die Nerven, deshalb verschwand sie mit Charlie und Lovebird die meiste Zeit in der wilden Landschaft. Wenn sie ganz alleine waren, schloss sie sie ganz fest in ihre kleinen Arme und sagte „Danke“.
Die beiden Freunde genossen die Liebkosungen und verbrachten Stunden am Fuße des Kreuzes, das versteckt in den Weinbergen stand.
Die Regenbogenpresse griff gierig die Geschichte von den beiden „Lebensrettern“ auf und überbot sich mit fantasievollen Ausschmückungen.
Bald hatte die Geschichte auch Paris erreicht, natürlich auch die anderen Departments und das Ausland.
Als Herr Hüpfer, wie jeden Morgen, in die Bildzeitung vertieft seinen Kaffee schlürfte, bevor er seine Zwinger ausspritzte, traute er seinen Augen nicht: „Zwei wunderbare Setter retten in Südfrankreich Menschenleben“.
„Die kenne ich doch“, rief er und griff zum Telefon, um Grunz anzurufen.
Sie mussten unbedingt ihren Besitz zurückholen.
„Jetzt, wo die Hunde durch die Presse so richtig bekannt wurden, wird ihr finanzieller Wert in die Höhe schnellen. Wenn ich Glück habe, kann ich Charlie in Frankreich „verscherbeln“, die stehen auf diese kleinen Kerle“, dachte er und er begann sofort mit den Reisevorbereitungen.
Er hatte nicht vor, sich mit Charlie länger herumzuärgern. Hunde waren für ihn eine Ware. Er kaufte sie, sie blieben bei ihm einige Jahre zur Zucht, dann wurden sie weiterverkauft. Besonders wenn die Tiere älter wurden, „verhökerte“ er sie mit Vorliebe ins Ausland. „Aus den Augen aus dem Sinn“ pflegte er zu sagen.
Herr Hüpfer verfuhr ähnlich, nur war er weniger plump in seiner Argumentation. Er erfand stets einen traurigen Grund, der ihn veranlasste, die Tiere abzugeben. Häufig erzählte er mit Tränen in den Augen, dass diese unglücklich wären und das Leben im Zwinger sie krank machen würde. Und so war manch altes Mütterchen bereit, für einen älteren Hund einige Hundert Euro zu bezahlen, nur um ihn „zu retten“.
Einen Tag später stand der weiße Lieferwagen vor dem Kloster. Es war ein herrlicher Morgen und Fleur war gerade dabei, in Begleitung einer Freundin mit Lovebird und Charlie zu einem Spaziergang aufzubrechen.
Hüpfer und Grunz lagen auf der Lauer, sie wollten ohne viel Aufsehen die beiden Hunde in den Wagen verfrachten und verschwinden. Mit einer Fangleine ausgerüstet, warteten sie, um die beiden Setter zu Gesicht zu bekommen.
Als sie die Mädchen mit den Hunden sahen, stiegen sie aus. Der für die Hunde so unangenehme Geruch aus dem Inneren des Transporters eilte den beiden voraus. Er verfing sich in den feinen Hundenasen und diese witterten die Gefahr, noch bevor sie die beiden Männer sahen.
Lovebird jaulte auf und Charlie knurrte so fürchterlich, dass sogar die beiden Mädchen vor Schreck erstarrten. Augenblicke später waren die Hunde in den Weinbergen verschwunden.
Hüpfer und Grunz „warfen“ sich in ihr Auto und versuchten hinterher zu rasen. Nach wenigen Hundert Metern hatte sich ihr Fahrzeug an einer Abbiegung festgefahren und je mehr sie versuchten zu beschleunigen, um es wieder frei zu bekommen, desto tiefer gruben sich die Räder in den sandigen Boden.
Sie beschlossen zum Kloster zurückzukehren, um Hilfe zu holen.
Das war bestimmt keine gute Idee, denn die beiden Mädchen, die weinend zurückliefen, hatten bereits über die beiden „Hundefänger“, die es auf Charlie und Lovebird abgesehen hatten, berichtet.
Hier war die Aufregung groß. Schimpfend und wild gestikulierend gingen einige der Mönche auf die Ankömmlinge zu.
Der Abt merkte schnell, dass er Deutsche vor sich hatte, die kein Französisch verstanden. Er verbrachte als junger Mann einige Jahre als Militärgeistlicher in Baden-Baden. Er hatte an der klassischen deutschen Literatur und der deutschen Sprache Gefallen gefunden. Als er wieder nach Frankreich zurückkehrte, sprach er ein makelloses Deutsch, natürlich mit diesem charmanten französischen Akzent.
Er wandte sich an die beiden Männer: „Die Deutschen sind gebildete Menschen und keine Hundediebe. Diese Tiere sind heilige Geschöpfe Gottes, die drei Menschen das Leben gerettet haben. Sie gehören zum Kloster wie wir. Und jetzt verschwindet von hier, bevor wir die Polizei verständigen.“
Als Hüpfer und Grunz über ihr Missgeschick mit dem Auto berichteten und um Hilfe baten, stießen sie auf taube Ohren. Für die Menschen hier waren sie Diebe.
Sie versuchten noch, dem Abt die Besitzurkunden beider Hunde zu zeigen, doch daran war dieser nicht interessiert.
„In eurer Literatur gibt es die Geschichte von einem Kind, das von einem weisen Richter den Menschen zugesprochen wird, die es pflegen und bei denen es sich wohl fühlt. So verhält es sich auch mit diesen Tieren. Selbst wenn sie euch gehören, werden sie wohl wissen, warum sie eure Nähe fürchten, denn das berichteten mir die beiden Mädchen. Geht also, die Tiere gehören hier her und hier werden sie bleiben.“
Die beiden verstanden die Geschichte nicht, Literatur war nicht ihre Sache, also trollten sie sich und liefen Richtung Montpellier, um dort die Polizei um Hilfe zu bitten.
Fleur lief unterdessen durch die Weinberge und suchte Charlie und Lovebird. Sie glaubte fest, sie am alten Steinkreuz zu finden, denn hier hatten sie herrliche Stunden zusammen verbracht. Hier konnte sie den beiden ihr Herz ausschütten und sie war sicher, dass sie jedes Wort verstanden. Wenn sie aber einmal traurig war, schmiegten sich beide fest an sie und sie hatte schnell ihren „Kummer“ vergessen. Leider waren sie nicht hier. Sie lief hinunter zum Meer und suchte sie in den Dünen unter den schattigen Büschen, wo sie stundenlang dem Rauschen der Wellen lauschten. Auch hier fand sie sie nicht. Auf der Grasfläche unterhalb der Weinberge konnte Charlie stundenlang den Rothühnern vorstehen oder nachschleichen, aber auch hier waren sie nicht.
Ihre letzte Hoffnung war die Wohnung im Kloster. Sie redete sich ein, dass die beiden schlau seien und sich bestimmt vor den beiden unfreundlichen Menschen hier versteckt hätten. Sie lief durch den kleinen Garten, durchsuchte jedes Zimmer, aber auch hier fand sie sie nicht. Sie lief sie zu ihrer Mutter, warf sich in deren Arme und wieder weinte ein kleines Mädchen bitterlich.
Am späten Nachmittag kamen Grunz und Hüpfer mit zwei Polizisten aus Montpellier zurück. Der eine sprach etwas Deutsch. Der Großvater des jungen Mannes blieb nach der Kriegsgefangenschaft in Frankreich und wenn er mit seinem Enkel allein durch die Camargue streifte, sprach er Deutsch und rezitierte Balladen von Goethe und Schiller.
Wild mit der Besitzurkunde gestikulierend, näherten sich Grunz und Hüpfer mit ihrer Begleitung dem Kloster.
Der ältere der Polizisten begrüßte Fleurs Vater mit einem Handschlag und dem üblichen „wie geht’s?“.
Vorher fragte er die Beteiligten, ob es sich wirklich um die zwei „Lebensretter“ handele, denn über die beiden hätte ja die Presse ausführlich berichtet. Seine Frage wurde durch die Mönche bejaht.
Anschließend zog er sich mit dem Abt ins Kloster zurück, um in Ruhe den Sachverhalt zu erörtern.
Grunz und Hüpfer redeten in der Zwischenzeit unentwegt auf den jüngeren Beamten ein. Dieser war froh, dass sein Vorgesetzter nach kurzer Unterredung mit dem Abt wieder den Klosterhof betrat und er jetzt dessen Entscheidung mehr schlecht als recht übersetzen durfte:
„Die beiden Urkunden sind kein Beweis, da sie gefälscht sein könnten. Bei den beiden Hunden handele es sich um Tiere, die unter dem Schutz des Klosters stehen, da sie Menschenleben gerettet haben.
Ein Abschleppunternehmen wird das festgefahrene Fahrzeug bergen. Für das unerlaubte Befahren des Naturschutzgebietes wird ein Bußgeld verhängt, dessen Höhe die Polizeidirektion festlegen wird.“
Hüpfer begann auf seine übliche Art zu winseln, was ihm dieses Mal nicht half, Grunz biss die Zähne zusammen und als die beiden wieder allein Richtung Stadt schritten, stieß er wüste Beschimpfungen gegen die Franzosen aus: „Zuerst das Elsass, jetzt unsere Tiere.“
Lovebird und Charlie waren in der Zwischenzeit Richtung Spanien unterwegs. Und jedes Mal, wenn sie einen weißen Transporter sahen, machten sie einen großen Bogen. Die Angst, Hüpfer und Grunz in die Hände zu fallen, saß tief.
Sie liefen zwei Tage ohne Unterbrechung, doch plötzlich sah Charlie, dass die Kräfte seinen Freund verließen. Um es Lovebird leichter zu machen, täuschte auch er Müdigkeit vor und sie ließen sich im Gestrüpp am Rande eines Weihers nieder. Der Schlaf übermannte sie schnell und beide träumten von den weichen Händen von Fleur, die ihnen über den Kopf strichen. Oder waren es die von Rachel, von Bridget oder von Hella?
Sie liefen tagelang durch wilde, menschenleere Landschaften und dennoch war Vorsicht geboten. Besonders morgens und abends war die Luft von dem heiseren Knallen der Schrotflinten erfüllt. Die Jagdsaison hatte begonnen.
Jedes Mal, wenn es wieder losging, verkrochen sich die beiden ins Dickicht der vielen Garriguewälder mit ihren kleinwüchsigen Bäumen und warteten ab, bis das Spektakel zu Ende war. Hysterische Pointer sausten an ihrem Versteck vorbei mit der gebogenen Nase im Wind und wenn sich nur der leiseste Hauch einer Witterung in ihren Nüstern verfing, bremsten sie plötzlich ab, standen theatralisch, um sofort wieder loszustürmen.
Lovebird verstand das alles nicht. Charlie sah interessiert zu und amüsierte sich, wenn er sah, dass einer dieser „Elitejäger“ mal wieder eine Kette Rothühner im wilden Eifer überlaufen hatte.
Einmal nur wurde es für die beiden brenzlig, denn eine junge English Setter Hündin mit feinem Näschen hielt plötzlich an, sie witterte ihresgleichen. Ihre Neugierde war zu groß. Lovebird war von dem schwarz-weiß gefleckten Mädchen angetan, doch Charlie knurrte verhalten doch bestimmt, so dass die Engländerin weitertrottete. Die Gefahr war zu groß, dass sie von den Jägern aufgegriffen worden wären.
Es war immer das gleiche Ritual. Wenn die Jagd zu Ende war, warteten Lovebird und Charlie noch etwas ab, bis die Staubwolken der Fahrzeuge am Horizont verschwanden, dann machten sie sich auf, die getöteten Hühner und Kaninchen, die von den Hunden und den Jagdhelfern nicht gefunden wurden, einzusammeln.
Manches Kaninchen, das sich unter Schmerzen verletzt ins Gestrüpp verkriechen konnte und hier qualvoll verendet wäre, wurde von ihnen erlöst.
Ohne es zu wissen überquerten sie die französisch-spanische Grenze und trafen plötzlich überall auf vom Kaufrausch beseelte Menschen, die aus hell erleuchteten Supermärkten prall gefüllte Tragetaschen schleiften, die nach Wurst, Schinken und Käse rochen. Die beiden folgten ihrer Nase. Erst an der Theke einer Duty Free-Metzgerei fielen sie einem Gesellen auf, der mit zwei ganzen Schinken auf dem Rücken ankam. Brüllend verscheuchte er die beiden.
Charly und Lovebird zogen also unverrichteter Dinge und hungrig weiter.
Zwei Tage danach erreichten sie eine große Stadt – wären sie Menschen gewesen, hätten sie gewusst, dass sie sich in Barcelona befanden. Hier herrschte Ausnahmezustand. Tobende Menschen, brennende Polizeifahrzeuge und überall diese gelben Plakate, die aufgebrachte Jugendliche durch die Luft schwangen.
Sie liefen durch die Straßen, doch niemand beachtete sie. Wo waren die Kinder geblieben, diese göttlichen Wesen, die mit ihren kleinen weichen Händen den Kummer zweier unglücklicher Hunde einfach wegwischen könnten? Nur ganz selten sahen sie Kinder auf einem Balkon, die ihnen in einer Sprache, die sie nicht verstanden, etwas zuriefen. Besonders Lovebird begann sofort zu wedeln, er dachte bestimmt, dass es etwas Freundliches war. In einer umgekippten Mülltonne fanden sie Essensreste, die sie nicht verschmähten, da ihr Magen ordentlich knurrte.
Sie verließen die Stadt und sie zogen weiter. Und plötzlich schimmerten ihnen die Wellen am Ufersaum der Costa Brava entgegen. Doch es war ein anderes Meer, grau-blau, ohne die grünen flachen Steine am Fuße des Klosters, ohne die Weinberge und Wiesen mit dem Geruch des wilden Thymians und ohne Fleur.
Auch hier gab es Menschen, auch fröhliche Menschen, die im Meer badeten und sich gegenseitig voller Übermut lachend ins Wasser stießen. Viele Menschen, mehr Menschen als die beiden je gesehen hatten.
Und in dem angrenzenden Ort gab noch mehr davon. Tausende Frauen und Männer, die die Promenade entlang liefen, viele mit einer Bierflasche in der Hand, andere lagen am Rande eines Schwimmbeckens, reckten ihren braunen Po in die Sonne. Diese hatte etwas an Kraft verloren, denn es wurde Herbst. Der Touristenstrom war aber noch nicht abgeflaut, denn jetzt galt es, von den günstigen Angeboten der Nachsaison zu profitieren.
In den Biergärten qualmten die Grills und Lovebird und Charlie konnten einmal mehr nicht widerstehen. Also schlichen sie sich, in der Hoffnung etwas abzubekommen, heran. Ihre Rechnung ging auf. Die Menschen waren in Feierlaune und manch einer ließ absichtlich ein Stückchen Fleisch unter den Tisch fallen.
Vor allem Charlie stand durch seine hagere Gestalt in ihrer Gunst. Eine rundliche Dame aus Bayern war besonders spendabel, sie ging des Öfteren zum kalten Büffet, um „für das arme Hunderl“ noch einen Happen abzustauben.
Natürlich fielen ihre Gunstbezeugungen auch der Bedienung auf. Ein mürrischer Kellner versuchte, wenn er sich unbeobachtet fühlte, durch Fußtritte die beiden Hunde zu verscheuchen. Sie waren ihm genauso zuwider wie die vielen fröhlichen, fremden Menschen.
Als die Nacht hereinbrach, waren Lovebird und Charlie nicht glücklich, aber satt. Sie trotteten zum Strand zurück, um in den Dünen zu schlafen. Der missmutige Kellner verfolgte sie mit seinen Blicken. Er griff zum Telefon.
Als Lovebird und Charlie eine passende Stelle gefunden hatten, kuschelten sie sich aneinander.
Übermüdet schliefen sie ein und bemerkten die beiden Gestalten nicht, die sich langsam heranschlichen. Sie legten ihnen Drahtschlingen, an deren Enden ein Stock befestigt war, um den Hals. Die beiden Hunde schreckten auf und versuchten die Flucht zu ergreifen, aber es war zu spät. Sie wurden auf einen Anhänger verfrachtet, festgebunden und eine halbe Stunde später in einer Perrera, einer der berüchtigten spanischen Tötungsstationen für Tiere abgegeben.
Am nächsten Morgen gingen die beiden Hundefänger zur Stadtverwaltung, um ihren Scheck abzuholen.
Tierfänger hatten Hochkonjunktur. Bettelnde Hunde und streunende Katzen aus dem Stadtbild fernzuhalten, war die Devise des neu gewählten rechten Bürgermeisters.
Als die blutrote Herbstsonne hinter den Pinienwäldern aufging, fielen ihre warmen Strahlen auch auf die Betonmauern der Perrera und sie färbten das hässliche Grau der Betonmauern in ein helles Rot. Die Nacht davor war schon kalt und alle Tiere genossen jetzt still die Wärme.
Als die Sonne aber höher stieg, fiel sie auf das gesamte Elend, das sich ihr im Innern der Betonboxen offenbarte.
An den leeren Zitzen einer abgemagerten Podenco-Hündin hingen drei hungrige Welpen.
Die Mutter versuchte sie abzuschütteln, was nur dazu führte, dass sie sich fester mit ihren kleinen Zähnen in der Milchleiste der Hündin verbissen. Sie wusste, dass ihre Kleinen verloren waren und nie zu den ruhmreichen Windhunden, der einstige Stolz der alten Spanier, gehören würden.
In einer Ecke lag ein alter Schäferhund, der immer wieder versuchte aufzustehen, was ihm aber nicht gelang und so kroch er vorsichtig bis zum Wassernapf, um festzustellen, dass er leer war.
Ein English Setter drückte sich die ganze Nacht schon an die Betonwand, da ihm der übelriechende Betonboden zuwider war. Noch zwei Tage zuvor lag er auf einem weichen Teppich neben dem Bett seines kranken Besitzers. Nach dessen Tod hatten die Kinder „keine Verwendung“ mehr für den alten Hund und einer der Söhne des Verstorbenen brachte ihn kurzer Hand in die Perrera.
Ein schlanker Pointer, der bei der Jagd ein paar Dutzend Schrotkugel abbekommen hatte, schreckte bei jedem Geräusch zurück und verkroch sich in einer dunklen Ecke. Einige halbwüchsige Podencos begannen wild tobend den Wassernapf durch den Zwinger zu werfen, um ihren Hunger zu vergessen. Jedes Mal, wenn der Blechnapf auf dem harten Boden aufschlug, jaulte der junge Pointer laut auf.
Lovebird und Charlie saßen mit drei jungen Mischlingen in der Einzäunung für Neuankömmlinge.
Die jungen Rüden hatten anfangs versucht, die beiden Freunde zu provozieren, indem sie sie mit hochgestellter Rute umkreisten.
Doch Charlie war nicht gewillt, dieses Spiel zu tolerieren. Durch sein furchtbares Grollen, das selbst die alten Haudegen im ehemaligen Schulgelände in Deutschland in die Flucht schlug, zeigte er auch diesmal wieder, wer das Sagen hat.
Die jungen Rüden gaben auf, Lovebird kauerte mit traurig hängenden Augenlidern in einer Ecke, doch Charlie war hellwach. Mit kleinen Schritten und wachem Auge durchschritt er die Umzäunung.
Sein Blick fiel auf eine Stelle in der oberen Ecke des Drahtkäfigs. Hier hatte der Draht scheinbar etwas nachgegeben. Charlie setzte zum Sprung an. Seine muskulösen Hinterbeine bogen sich wie eine Sprungfeder und ließen seinen Körper hochschnellen. Nach einigen Versuchen brach das verrostete Gewebe. Bei einem weiteren Versuch verletzten herunterhängende Metallteile seine Kopfhaut, doch er gab nicht auf. Und plötzlich gelang es ihm sich mit seinen Vorderpfoten an der Außenwand der offenen Stelle hochzuziehen und er war frei.
Lovebird hatte Charlies Aktivitäten genau beobachtet. Das laute Winseln von Charlie außerhalb des Drahtkäfigs hatte er verstanden. Er musste ihm folgen.
Er versuchte ebenfalls hochzuspringen, doch sein Gewicht drückte ihn immer wieder nach unten. Einmal erreichte er mit seiner Nase die Öffnung, bei seinem nächsten Versuch brach er zusammen, seine Kräfte hatten ihn verlassen.
Still kauerte er in einer Ecke. Er hatte aufgegeben. Selbst auf Charlies intensives Winseln reagierte er nicht.
Die Mischlinge begannen ihn zu beschnuppern und kläfften ihn an. Er ließ alles über sich ergehen.
Die Halbstarken trieben es immer bunter. Dieses wehrlose, rote Haarbündel in der Ecke ließ sie scheinbar für einen Augenblick ihr Gefangensein vergessen. Ihr Übermut war kaum noch zu steigern und so merkten sie auch zu spät, wie ein rotes Kraftpaket von oben auf sie niederging.
Charlie hatte seinen Fluchtweg wieder benutzt, diesmal um seinem Freund beizustehen.
Voller Schreck verkrochen sich die jungen Rüden in einer Ecke der Umzäunung. Charlie näherte sich Lovebird, er zog die Lefzen hoch, so als würde er ihm zulächeln. Er konnte ihn einfach nicht allein lassen, er musste ihn beschützen in dieser Welt voller Widrigkeiten. Sie kuschelten sich aneinander, so wie sie es zum ersten Mal als Welpen taten in dem kalten weißen Transporter auf der Überfahrt von Dover nach Calais.
Später kam ein Wärter und kippte etwas Trockenfutter auf den Betonboden der einzelnen Zwinger.
Die jungen Mischlinge stürzten sich knurrend auf das Futter. Scheinbar hatten sie schon einige Tage nichts gefressen.
Die beiden Freunde ignorierten die Trockennahrung. Sie lagen fest aneinander geschmiegt in ihrer Ecke. Jetzt hatte auch Charlie resigniert. Mit Lovebird zusammen hätte er eine Flucht gewagt. Gemeinsam hätten sie alle Hindernisse überwunden. Alleine, ohne seinen Freund weiterzuziehen und diesen seinem Schicksal zu überlassen, kam für ihn nicht in Frage.
Mittags zogen zwei mürrische Männer den alten Schäferhund aus dem Betonzwinger. Da er nicht laufen konnte schleiften sie ihn über den trockenen steinigen Boden in einen Blechcontainer.
Der alte Rüde wehrte sich nicht. Kein Winseln, kein Jaulen, nur noch Totenstille.
Am späten Nachmittag betrat eine schwarz gekleidete ältere Frau das Gelände. Ein Scheitel teilte ihr schulterlanges schwarzes Haar in zwei gleichmäßige Hälften. Ihr faltiges, braunes Gesicht war voller Anmut. Sie näherte sich dem Wärter, der sich mit einer Bierflasche unter den einzigen Baum auf der Anlage, der etwas Schatten spendete, verzogen hatte und sie steckte ihm wortlos, ohne ihn anzusehen, einige Scheine zu.
Sie ging von einem Zwinger zum anderen und verteilte die Happen, die sie in einer großen Tasche mitgebracht hatte.
Sie näherte sich jedem Tier, ihre dünnen Lippen bewegten sich und sie gaben ihre leisen Worte preis, die nur für die Tiere bestimmt waren.
Die Hunde wurden ruhig und selbst die Welpen unterbrachen ihr Winseln.
Bei Lovebird und Charlie verweilte sie etwas länger, wahrscheinlich weil sie zu den Neuankömmlingen gehörten.
Danach ging sie wieder wortlos an dem Wärter vorbei zum Ausgang. Ihre kleinen knöchernen Hände waren verkrampft, ihre Nägel gruben sich tief in ihre Handflächen. Als das schwere Eisentor sich kreischend wieder verschloss, war es für einen Augenblick still, doch dann war ein Schluchzen zu hören, jetzt nicht leise und demütig, sondern wild und laut. So laut, dass es die ganze Welt hören konnte.
Lovebird und Charlie verschliefen mit knurrendem Magen die folgenden Tage in einem schmutzigen Zwinger irgendwo im spanischen Hinterland.
Es schien, als hätte die Welt sie vergessen.
Doch dem war nicht so.
Fleurs Vater, der die verweinten Augen seiner Tochter nicht mehr sehen konnte, fasste einen Entschluss. Er setzte einen Finderlohn, der seinen Einnahmen eines Monats entsprach, aus und es gelang ihm auch den jungen Reporter der „Midi Libre“, welcher über die „Lebensretter im Kloster“ vor Monaten fast täglich berichtete, für die Sache zu begeistern. Dieser startete einen Spendenaufruf, um den Finderlohn von Fleurs Vater auszuweiten.
Nach kurzer Zeit folgte ein Aufschrei in den sozialen Netzwerken. Die Pressefotos von Lovebird und Charlie gingen um die Welt. Täglich meldeten sich bei der Zeitung neue Spender.
In der Schweiz hielt der Winter Einzug und bei Ursula und Noldi auch die Normalität.
Ursula pflegte den Kontakt zu den neuen Besitzern von Lovebird und Fejas Welpen und Noldi verbrachte sehr viel Zeit in seinem Labor. Am Wochenende kam häufig Hella mit Flame, Lovebirds Sohn mit dem weißen Stern auf der Brust, zu Besuch und wenn alle nachmittags in der Küche mit dem großen Fenster zum Garten am Tisch saßen und sich Ursulas Apfelkuchen schmecken ließen, schweiften Hellas Augen über die spielenden Hunde und ihre Gedanken waren weit weg. Sie rannte hinaus, schnappte sich ihren kleinen Flame, der zu einem stattlichen Rüden heranwuchs und kehrte mit ihm in die Küche zurück. Sie saß mit ihm auf dem Boden in der gleichen Ecke, in welcher sie immer mit seinem Vater saß, sie strich ihm mit ihren kleinen Händen über die sanften Wölbungen seiner Stirn und der junge temperamentvolle Hund hielt still, so still als könnte er nie davon genug bekommen, so als würden diese kleinen Hände für ihn die Welt bedeuten.
Alle akzeptierten notgedrungen das Geschehene und als die ersten Schneeflocken fielen, schien es für die Familie so zu sein, wie es immer war.
Wenn da nur nicht eines Morgens Noldis Mitarbeiter zufällig auf ein Bild gestoßen wäre. Er reichte sein Smartphone an Noldi weiter:
„Zwei Hunde wie die Eurigen werden in Frankreich vermisst und die Welt steht Kopf.“
Noldi warf ein Blick auf die Fotos, er traute seinen Augen nicht, er lief mit dem Smartphone zum Wohnzimmer und legte das Gerät wortlos vor Ursula auf den Tisch.
„Es sind Lovebird und Charlie, ich würde sie unter Tausenden von roten Settern erkennen“, sagte Ursula aufgeregt. Nur die Zusammenhänge waren ihnen nicht klar.
Und so machten sich an die Arbeit.
Noldi gelang es, telefonisch Kontakt zu dem jungen Reporter von „Midi Libre“ aufzunehmen. Dieser berief sich zuerst auf den Datenschutz, dann witterte er aber eine neue Story und am Ende war er bereit, den Kontakt zwischen Fleurs Vater und Noldi herzustellen.
Ursula und Noldi erfuhren, dass eines Tages ein Mädchen zwei Setter am Meer in der Nähe eines Klosters fand, diese mit nach Hause nahm, versorgte und ins Herz schloss, dass dann zwei Männer aus Deutschland kamen, die versuchten die Hunde einzufangen, was ihnen aber nicht gelang.
(Ursula und Noldi wussten nach der Beschreibung, dass es Grunz und Hüpfer waren).
Fleurs Vater berichtete Noldi auch über den weiteren traurigen Verlauf der Geschichte, dass die Hunde in panischer Angst davonrannten und im Umfeld des Klosters nicht mehr gesehen wurden und dass er in seiner Verzweiflung über die Medien und den Finderlohn versucht, den verschwundenen Hunden auf die Spur zu kommen.
Noldi erzählte Fleurs Vater wiederum seinen Teil der Geschichte und am Ende stand für beide fest, dass es keine Verwechslung war und dass es sich nur um Lovebird und Charlie handeln konnte.
Sie beschlossen in Kontakt zu bleiben. (Hella wollten sie diese Nachricht später schonend vermitteln).
Ursula erinnerte sich, dass Lovebird und Charlie vorsichtshalber nach ihrer Ankunft vom Tierarzt geimpft wurden, sie suchte sofort das Impfbuch der beiden, das sie verständlicherweise Grunz und Hüpfer nicht ausgehändigt hatte und teilte Fleurs Vater die Chip-Nummern mit, in der Hoffnung zur Suche beizutragen.
Menschen aus ganz Europa, denen diese Hunderasse ans Herz gewachsen war, bemühten sich zu helfen. Spaziergänger mit zwei roten Hunden an der Leine wurden misstrauisch beäugt und manch einer musste Rechenschaft ablegen, dass er der wahre Besitzer seiner Hunde sei.
In Matlock wusste jedes Kind, dass Rachels Mutter diese herrlichen Hunde züchtete und als sie eines Morgens beim Becker in der Schlange stand, reichte ihr die Nachbarin ihr Smartphone mit dem Post von den beiden Settern.
Da sie in Eile war, erwiderte sie nur, dass die Welt voller roter Hunde sei. Die Geschichte verfolgte sie aber den ganzen Tag und am Abend suchte sie die Nachricht und verglich die in der Zwischenzeit veröffentlichten Chip- Nummern mit ihren Unterlagen. Sie wurde blass, griff nach einem Stuhl, um sich hinzusetzen, denn sie landete einen Treffer. Als Rachel schlief, berichtete sie ihrem Mann von ihrer Entdeckung.
Beide kamen zu dem Entschluss, die Tochter vorerst von dieser Nachricht zu verschonen, denn nach dem Verkauf des kleinen Lovebird war ihr Kind wochenlang nicht ansprechbar.
Jede Chip-Nummer beginnt mit einer Zahlenkombination, die das Geburtsland des Hundes dokumentiert und deshalb meldete sich eine Dame des irischen Zuchtverbandes auch bei Mc Donnel, um ihn über den Vorfall zu informieren. Leider stieß die Lady bei ihm auf taube Ohren. Nachdem er seine Unterlagen sichtete, folgte nur ein kurzer Satz: „Charlie wurde nach Deutschland verkauft, korrekt bezahlt, der Rest ist unwichtig“, dann legte er den Hörer auf. Am nächsten Tag, als Bridgets Mutter die Hunde fütterte, war der alte Mc Donnel in Plauderlaune: „Angeblich treibt sich der kleine Bastard, den deine Tochter haben wollte, in Frankreich herum. Fang ihn ein und er gehört euch“, sagte er spöttisch und zeigte ihr die Fotos auf dem Smartphone.
Keinen erneuten Kummer für die Tochter - das war auch bei Bridgets Eltern die Devise.
Insgeheim aber waren sowohl Rachels wie auch Bridgets Mutter fest entschlossen, zu der französischen Familie Kontakt aufzunehmen.
Und während sich die Meldungen in den sozialen Netzwerken überschlugen und täglich neue unwahre Geschichten konstruiert wurden, saßen die beiden Setter in einem verrosteten Zwinger in Spanien und warteten auf ihren Henker.
Die Tage wurden kälter und es schien so, als würde der Herbst nahtlos in den Winter übergehen. Dieser ist im Süden wesentlich milder als in Mitteleuropa, jedoch auch feuchter. Durch längere Regenphasen werden die ausgetrockneten Flächen von einem satten Grün überzogen.
Für Lovebird und Charlie war dieser Regen kein Segen.
Sie kauerten im letzten Winkel des Zwingers und dennoch war ihr Fell durchnässt, denn der Mistral, dieser unerbittliche Wind, blies die Feuchtigkeit durch alle Ritzen des verrosteten Blechdaches.
Am Wochenende kamen manchmal ältere Menschen mit einer Futterspende vorbei, ganz selten auch Familien mit Kindern, die sich den Eintritt in den Zoo sparen wollten. Angewidert von dem Schmutz und Unrat, der überall herumlag, verließen sie aber schnell wieder das Gelände.
An einem Sonntagmorgen stand plötzlich ein jüngerer Mann vor dem Zwinger, er war freundlich, aber er wirkte mit seinen Versuchen, Charlie und Lovebird aus der Ecke zu locken, etwas unbeholfen.
Er ging zu einem der Wärter, der gelangweilt auf einem Zahnstocher herumkaute, und fragte ihn in einem gebrochenen Spanisch nach dem Preis für beide Setter.
Dieser erkannte schnell, dass sein Gegenüber zu den vielen ausländischen Bauarbeitern, die er nicht mochte, gehörte und schwieg. Der Mann dachte, der Wärter wolle den Preis hochtreiben und versuchte ihn milde zu stimmen, indem er ihm in einem holprigen Spanisch seine Geschichte erzählte:
Er komme aus Rumänien und arbeite in Lloret auf dem Bau. Seine Frau habe einen Job in einer Kleinstadt nördlich von Rom. Die beiden Töchter lebten bei den Großeltern in einem Dorf südlich von Bukarest und er selbst habe dort bereits ein Grundstück für ein Haus gekauft. Jedes Jahr zu Weihnachten sei er für drei Wochen zu Hause bei seiner Frau und seinen Kindern.
Das sei ein ganz besonderes Dorf, denn ganz in der Nähe hätte ein reicher Engländer ein Gut erworben. Die englischen Gutsverwalter werden bei ihren Spaziergänger stets von zwei roten Settern begleitet. Und diese beiden Hunde haben es seinen Töchtern angetan. Und jedes Mal, wenn sie ihn über WhatsApp kontaktierten - monatelang der einzige Kontakt zu seiner Familie - folge stets die gleiche Bitte: „Bring für jede von uns als Weihnachtsgeschenk einen roten Setter.“
Er habe versucht in einem Zoogeschäft, wo diese putzigen Hunde ja in den Schaufenstern zu sehen sind, zwei Hunde zu kaufen, doch für den aufgelisteten Preis müsste er zwei Monate schuften, also riet ihm ein Freund, mal in der Perrera nachzusehen und siehe, hier sei er fündig geworden natürlich, wenn der Preis stimme.
Der Wärter begann plötzlich schallend zu lachen:
„Nimm die Köter und verschwinde und verschone mich mit deinen Familiengeschichten, morgen wären sie sowieso eingeschläfert worden und am besten du bleibst mit deiner Sippe in Rumänien, denn die Arbeitsplätze in Spanien sind auch nicht unbegrenzt. Hier, nimm dir zwei Leinen und Halsbänder, da liegen noch welche herum. Die Hunde, denen sie gehörten, haben keinen Hals mehr zum Anleinen “, sagte er spöttisch und kaute weiter auf seinem Zahnstocher.
Der Mann leinte Lovebird und Charlie an und sie folgten ihm willig aus dem Zwinger.
In der Gemeinschaftsunterkunft ließ er die beiden Hunde vorerst im Fahrzeug und wartete ab. Als seine Mitbewohner sich wie jeden Sonntag in einer Kneipe zu einem Bierchen trafen, holte er die Hunde aus dem VW-Bus, stellte sie unter die Dusche und wusch den Lehm aus ihrem Fell. Danach kämmte er sie mehr schlecht als recht.
Lovebird und Charlie ließen alles über sich ergehen. Sie waren müde und erschöpft und dieser Mann, der sie aus dem Gefängnis befreit hatte, gehörte bestimmt zu den Guten. Am Abend brachte er sie wieder zum Bus, fuhr mit ihnen eine Runde und nachdem beide eine Fleischdose verdrückt hatten, schliefen sie auf dem Rücksitz ein, er öffnete einen spaltbreit das Seitenfenster und verließ dann den Bus Richtung Arbeiterunterkunft. Vorher fotografierte der schweigsame Mann die beiden mit seinem Handy und schickte das Foto an seine Töchter.
Die Ladefläche hinter der Rückbank war eine kuriose Ansammlung von Lebensmittel in Dosen, Schuhen in Kartons, Kleider in schwarzen Plastiksäcken, Elektrogeräten und vielem mehr. Auch ein bereits geschmückter Weihnachtsbaum aus Kunststoff war dabei.
Am nächsten Tag kehrte er früh morgens zu seinem Fahrzeug zurück, fütterte die Hunde, leinte sie an und ließ sie in einer nahen Grünanlage ihre Geschäfte erledigen.
Dann legte er eine CD mit einer sonderbaren Folkloremusik ein und fuhr los. Er fuhr stundenlang ohne Unterbrechung. Zwischendurch sang er mit und versuchte die sonderbare Melodie zu übertönen. An Charlie und Lovebird zogen flüchtige Bilder vorbei, schneller, immer schneller, bis sie müde wurden und einschliefen.
Die Nacht verbrachten sie auf Rastplätzen. Der Mann öffnete eine Wurstdose für sich und eine Fleischdose für die Hunde. Nach dem Essen trank er eine Flasche Bier, legte den Fahrersitz zurück, so dass Charlie und Lovebird auf dem Rücksitz zusammenrücken mussten und schlief ein.
Wortlos stand er am Morgen auf, ließ die Hunde ihr Geschäft erledigen, nahm einige Happen zu sich, startete dann sein Fahrzeug und fuhr los. So ging es tagelang.
Nach einer viertägigen Fahrt verließen sie die Autobahn und die Straßen wurden immer kleiner, holpriger und staubiger, bis sie vor einem kleinen Haus anhielten.
Lovebird und Charlie, die mal wieder eingeschlafen waren, wurden durch einen ohrenbetäubenden Lärm geweckt. Lachende Menschen stürzten aus dem Haus, vor dem das Fahrzeug hielt, aber auch aus den Nachbarhäusern. Menschen umringten den Bus. Der schweigsame Mann stieg aus, rief etwas in einer fremden Sprache, er schien glücklich zu sein. Eine junge Frau hing an seinem Hals, er nahm zwei Mädchen auf den Arm und zeigte durch das Seitenfenster auf Charlie und Lovebird. Die Kinder drückten sich die Nasen an der Scheibe platt und die beiden Setter saßen regungslos da, sie wussten nicht, wie ihnen geschah, sie konnten die Situation nicht einordnen.
Als sich die Euphorie gelegt hatte, nahm der stille Mann, der jetzt alles andere als schweigsam war, da er ununterbrochen lachend auf die Frau und die Kinder einredete, die beiden Hunde aus dem Bus und drückte jedem der Mädchen eine Leine in die Hand, der etwas größeren Tochter, die von Lovebird und der kleineren die von Charlie. Zaghaft nahmen die Kinder ihr Geschenk in Empfang.
Bis jetzt hatten sie diese schönen roten Hunde nur aus der Entfernung bei den englischen Herrschaften gesehen, jetzt gehörten sie ihnen. Vorsichtig versuchte die Größere, Lovebird mit der Hand über die Stirn zu streichen, die Kleinere tat bei Charlie das Gleiche.
Das Eis war gebrochen. Diesen Kinderhänden konnten die beiden Setter nicht widerstehen.
Obwohl niemand in Frankreich etwas über den Verbleib der Hunde wusste, überschlugen sich dort die Ereignisse. Täglich gingen neue Spenden von tierlieben Menschen aus der ganzen Welt bei der Regionalzeitung in Montpellier ein und täglich war in den sozialen Netzwerken der neueste Spendenstand zu lesen.
Fleurs Vater bereitete die Hysterie bereits Unbehagen, denn die vielen Tausend Euros, die als Finderlohn zusammenkamen, halfen der kleinen Fleur nicht über ihre Trauer hinweg, da von Charlie und Lovebird jede Spur fehlte.
Umso mehr freute sich die Familie aber über den Anruf zweier Frauen aus England und aus Irland. Jetzt erfuhren sie wenigstens etwas über die Abstammung ihrer vermissten Lieblinge. Besonders Rachels Foto von Lovebird als Welpe und Bridgets bunte selbstgemalten Bildchen von Charlie auf einer grünen Wiese vor den Toren des Gutes, die nach dem Telefonat in einem Brief an Fleur ankamen, hatten es ihr angetan.
Und auch aus der Schweiz traf eine Botschaft ein, diesmal von Hella, die jetzt auch im Bilde war, an Fleur adressiert. Zeilen voller Trauer, aber auch Hoffnung. Sie schrieb, dass Charlie und Lovebird immer klug und zäh gewesen wären und noch nicht alles verloren sei.
(Nur Hüpfer und Grunz meldeten sich nicht. Wahrscheinlich war ihnen entgangen, dass die beiden Hunde, die sie verraten hatten, jetzt im Rampenlicht standen. Vielleicht aber saßen sie auch wieder in dem stinkenden Transporter auf einer Straße irgendwo in Europa, um für Lovebird und Charlie rechtzeitig zu Weihnachten einen Ersatz zu besorgen.)
In dem kleinen rumänischen Dorf aber kehrte am nächsten Morgen wieder der Alltag ein. Die Jungen gingen zur Arbeit, die Alten sägten Holz, um die gusseisernen Öfen zu heizen oder versammelten sich im spärlich beheizten Dorfladen.
Die beiden glücklichen Mädchen zeigten voller Stolz den Nachbarkindern ihre vierbeinigen Weihnachtsgeschenke aus Spanien. Ihr Vater stand am Fenster und beobachtete seine Töchter. Es freute ihn, sie so glücklich zu sehen.
Die größere hieß Doina und sie sollte den Vater an ein altes rumänisches Volkslied mit dem gleichen wohlklingenden Namen erinnern, die kleine nannten sie Dorina. In ihrem Namen verbargen sich alle unerfüllten Wünsche der Eltern - und das waren viele.
Aber nicht alle Menschen des Ortes freuten sich beim Anblick der Setter.
Für die Alten waren Hunde nutzlose Geschöpfe, die sich über den Abfall hermachten oder den Nutztieren zusetzten, wenn sie hungrig waren. Sie warfen mit Steinen nach den Tieren, besonders wenn sie mit den Widrigkeiten des Lebens nicht klar kamen. Achtung vor anderen Geschöpfen kannten sie nicht. Der Vater der Mädchen kannte diese Einstellung, aber dennoch ließ er es sich nicht nehmen mit seiner Frau, seinen Töchtern und den Hunden einen Spaziergang durch das Dorf zu machen, um auf dem neu erworbenen Grundstück nach dem Rechten zu sehen.
Er erzählte mit leuchtenden Augen den Mädchen, dass hier ein großes, schönes Haus in mediterranem Stil stehen werde, mit zwei Kinderzimmern, mit großen Türen und vielen warmen Räumen.
Als die kleine Dorina fragte, ob sie nächstes Jahr zu Weihnachten schon in dem neuen Haus wohnen würden, wurde der Vater ziemlich verlegen und schwieg, die Mutter wischte sich verstohlen eine Träne weg.
Sie traten den Rückweg an.
Charlie und Lovebird aber fühlten sich nicht wohl, denn es entging ihnen nicht, dass sie von freilaufenden Hunden in gebührendem Abstand verfolgt wurden. Dutzende wuschelige abgemagerte Geschöpfe schlichen ihnen hinterher. Diese verschwanden aber blitzschnell, wenn ein Fahrzeug sich ihnen näherte oder sie Menschen erblickten.
An einem Holzzaun mit angefaulten Brettern stand eine ärmlich gekleidete alte Frau. Als sie die Familie mit den Settern sah, lachte sie böse und rief den Mädchen zu:
„Haltet sie nur fest und verschließt heute Abend das Tor, denn sie kommen wieder mit dem LKW, um die Straßenhunde einzusammeln. Ein Segen für uns, denn sie fressen uns die Haare vom Kopf diese Biester. Sie sollen sogar Menschen anfallen, wenn der Hunger sie plagt. Seid sie sie in Bukarest jagen, ziehen sie sich in die Dörfer zurück. Sie ziehen ihnen das Fell über die Ohren und machen Handschuhe daraus.“
Doina begann laut zu weinen und Charlie wusste instinktiv, dass er sie beschützen musste. Er knurrte laut und näherte sich mit hoch gestellten Nackenhaaren der bösen Frau. Diese geriet in Panik und lief kreischend davon.
Die Mutter versuchte am Abend die Mädchen zu beruhigen und erklärte den beiden, dass die alte Frau eine Hexe sei und dummes Zeug geredet habe, um die Kinder zu erschrecken.
Sie wusste aber, dass Teile der Geschichte der Wahrheit entsprachen, denn es gab hier sehr viel Elend und ausgesetzte Tiere waren keine Seltenheit. Als die Mädchen schliefen, verschloss sie das Tor und stellte eine Schüssel mit Essensresten davor.
Sie wusste, dass ihr Mann seine Töchter abgöttisch liebte und ihnen jeden Wunsch von den Augen ablas. Und wenn sie ihre Töchter sah, die an die Setter geschmiegt einschliefen, verdrängte sie auch die Frage, wie die Großeltern die beiden Hunde durchfüttern sollten, wenn die spanischen Dosen mit Hundefutter aufgebraucht waren.
Nachts hörte sie, wie Fahrzeuge mit quietschenden Reifen durch die staubigen Straßen fuhren und manchmal hörte sie auch das erbärmliche Jaulen eines Hundes, der sich in der Schlinge der Häscher verfing.
Sie schmiegte sich an ihren Mann und versuchte einzuschlafen.
Am Morgen als sie die Küche betrat, saß ihr Mann kreidebleich am Frühstückstisch, das Smartphone in der Hand.
Sie überflog den Post und verstand nun die Aufregung ihres Mannes.
Ein spanischer Freund hatte ihm die Suchmeldung mit den Fotos der beiden Hunde weitergeleitet.
Er las immer wieder laut die magische Zahl : 35.950 Euro und stammelte dabei:
„Wir sind gerettet. Wir können mit dem Rohbau unseres Hauses beginnen. Sie werden alle die Augen aufreißen, wenn sie unseren Prachtbau sehen, wie ein kleines Schloss wird es aussehen. Du kannst im kommenden Jahr bei den Mädchen bleiben und ich werde im Sommer Urlaub nehmen und an unserem Haus arbeiten. Ich habe bereits diese französische Nummer angerufen und dieser Teufelskerl hat für heute Abend bereits ein Flug von Montpellier nach Bukarest gebucht, wie er das nur geschafft hat. Ich werde meinen Bruder mitnehmen. Ohne Geld keine Hunde, das kann er wissen. Ich lasse mich von einem Franzosen nicht reinlegen.“
Er rannte wild fuchtelnd durch die Küche, suchte einige Kleider zusammen, denn draußen war es frostig kalt, schnappte sich Charlie und Lovebird und zog sie am Halsband in den Bus.
Die Frau lief ihm zur Tür hinterher und rief: “Und die Mädchen, was sage ich den Mädchen, wenn sie wach werden?“
Ihre Worte wurden von dem Geräusch des aufheulenden Motors verschluckt. Sie schloss die Tür, legte ein Holzscheit in den verrosteten Ofen und ließ sich ratlos auf einem Stuhl nieder.
Als die Mädchen aufwachten, schöpften sie anfangs keinen Verdacht, denn sie glaubten, der Vater mache mit den beiden Settern einen Spaziergang, so wie es manchmal die reichen Engländer mit ihren Hunden taten.
Die Frau gab ihr Bestes die Kinder abzulenken. Sie beschloss mit den Mädchen mit dem Linienbus, der im Winter nur einmal täglich fuhr, zu einem Einkaufsbummel nach Bukarest zu fahren. Sie lief etwas abwesend mit den Mädchen durch die verschneiten Straßen der Hauptstadt und sah in den Schaufenstern vieles, das sie aus Italien kannte, nur wesentlich teurer. Ihr Einkauf beschränkte sich auf zwei Puppen für die Mädchen und eine Flasche Korn für die Großeltern.
Ihre Gedanken waren bei ihrem Mann. Fällt er vielleicht auf einen Betrüger herein? Wie werden es die Mädchen aufnehmen? Tut er das Richtige? Normalerweise konnte sie sich auf ihn verlassen. Er war ein Familienmensch, er hielt das Geld zusammen, während andere, die in Spanien arbeiteten, ihr Gehalt mit jungen Dingern verprassten.
Und selbst, wenn sie es nicht zugeben wollte, freute sie sich auch auf das neue Haus.
Sie kehrte mit den Mädchen in ihr Dorf zurück und brachte sie nach dem Abendessen zu Bett. Die Kleinen fragten nicht mehr,wo der Vater mit den Hunden geblieben sei.
Später hörte sie aus dem Zimmer, in dem die Mädchen schliefen, ein leises Schluchzen.
Ihr Mann kam nach Mitternacht nach Hause, legte eine Umschlag mit großen Scheinen auf den Tisch und sagte: „Der Franzose ist ein Ehrenmann und sehr, sehr sympathisch, vielleicht werden wir mal nach Frankreich reisen.“
Die Frau war froh, dass ihr Mann zurück war und bevor sie zu Bett gingen, fragte sie nur: „ Und wie erklären wir es den Mädchen?“
Er blieb ihr die Antwort schuldig, da er keine hatte.
Die Frau konnte nicht einschlafen. In der Nacht hörte sie wieder den Lärm der Hundefänger, die durch die Straßen kurvten und wieder die ängstlichen Schreie der Tiere, die in ihre Fänge gerieten.
Doch dieses Mal wollte es gar nicht aufhören und zuletzt hörte sie ein leises Winseln, das immer lauter wurde.
„Jetzt muss Schluss sein“, sagte sie sich, griff sich eine Jacke und stürzte nach draußen. Sie wusste zwar, dass sie gegen die Hundefänger nichts ausrichten konnte, aber sie wollte wenigstens ihrer Wut Luft machen.
Als sie das Tor öffnete, sah sie die zwei kleinen winselnden Knäuel, die sich unter der Einfahrt versteckten. Sie waren erst einige Wochen alt und zitterten am ganzen Leib. Sie ergriff die Welpen und brachte sie in die Küche.
Sie legte sie auf die Decke von Charlie und Lovebird, rubbelte ihnen das Fell trocken, wärmte ihnen auf dem Gaskocher eine Tasse Milch, die sie gierig tranken, und sagte halblaut: „Euch schickt uns der Himmel oder das Christkind.“
Als Doina und Dorina am Morgen aufwachten, trauten sie ihren Augen nicht, als sie die Welpen sahen, sie begannen sofort sie zu umsorgen, denn die beiden Hundekinder sahen so hilflos aus. Auch für ihren Vater war es jetzt einfacher, ihnen die Geschichte von dem französischen Mädchen Fleur, das den ganzen Tag weinte, da es Charlie und Lovebird so sehr vermisste, zu erzählen. Den finanziellen Teil der Geschichte behielt er aber für sich.
Als Fleurs Vater und der Reporter von Midi Libre am nächsten Morgen mit Charlie und Lovebird in Montpellier landeten, war es noch früh, und so gelang es dem Vater ohne Belästigung durch die Boulevardpresse am Flughafen mit den Hunden in ein Taxi zu steigen und bevor Fleur richtig wach war, das Kloster zu erreichen.
Als diese noch etwas schlaftrunken durch das Fenster blickte, fiel ihr plötzlich die Kakaotasse aus der Hand und sie rannte im Nachthemd in den Klosterhof, denn sie sah ihren Vater mit Charlie und Lovebird aus dem Taxi steigen. Die Begrüßung ließ sich nicht in Worte fassen. Endlich hatte das lange, bange Warten ein Ende.
Fleur fiel ihrem Vater um den Hals und dieser wusste, dass er das Richtige getan hatte und dass kein Aufwand zu groß gewesen war, um seine Tochter glücklich zu sehen.
Die Wochen vor Weihnachten hatten in Südfrankreich etwas vom Zauber des ewigen Herbstes. Der fast menschenleere Strand in der Nähe des Klosters erholte sich jetzt von den Strapazen des Sommers. Eine milde Sonne, die mittags die vielen bunten grünen Steinen am Meer erwärmte, schuf zwischen den Dünen für Fleur und ihre beiden Settern eine warme Oase zum Träumen.
Hier war sie mit ihren Hunden alleine und ungestört, hier konnte sie den Schmerz und die Trauer, das endlose Bangen des Sommers hinter sich lassen.
Ihre Eltern ließen sie gewähren, wenn sie sich zurückzog, und stellten keine Fragen.
Der Vater war in seinem Restaurant mit den Weihnachtsvorbereitungen beschäftigt und arbeitete in jeder freien Minute an seinem Plan, der für Fleur die große Überraschung werden sollte.
Zur Mittagszeit an Heilig Abend, als Fleur gerade dabei war mit Charlie und Lovebird noch eine Runde zu drehen, stand plötzlich ein Auto mit Schweizer Kennzeichen im Klosterhof, ein Mädchen riss die Wagentür auf und stürmte auf die Gruppe zu. Fleur war verblüfft, die beiden Setter aber freuten sich riesig, denn sie hatten Hella sofort erkannt. Als Ursula und Noldi mit dem halbstarken Flame an der Leine dazu kamen, verstand Fleur die Zusammenhänge und sie freute sich ebenso sehr. Lovebird konnte seinen Sohn beschnuppern und Charlie war zu dem Wildfang so gütig, wie sonst zu kaum einem anderen Rüden.
Die beiden Mädchen wollten sich sofort mit den drei Hunden absetzen, doch Fleurs Vater bat die Kinder, nicht zu lange wegzubleiben, denn sie müssten alle noch zum Flughafen nach Montpellier, der nur fünfzehn Kilometer entfernt war, dort erwarte sie der nächste Teil der Überraschung.
Nachdem die beiden Mädchen von ihrem Spaziergang zurückkamen, fuhren alle nach Montpellier, natürlich hatten sie die Hunde dabei.
Fleurs Vater hatte in einer Tragetasche selbstgeschriebene Schilder versteckt.
Als das Flugzeug aus London ankam, hielt er das Schild mit dem Namen „Rachel“ hoch, ein Mädchen rannte heran und stürzte sich sofort auf Lovebird.
„Das muss er sein“, rief sie zu ihrer Mutter, die sie begleitete. Die stürmische Begrüßung musste abgebrochen werden, denn fünfzehn Minuten später landete das Flugzeug aus Dublin und das Schild „Bridget“ wurde gezückt. Das irische Mädchen drückte sich an seine Mutter, überblickte die Runde und nahm, ohne ein Wort zu sagen, Charlie in den Arm.
Fragend blickten alle Fleurs Vater an, denn dieser hatte noch ein Schild mit den Namen „Doina und Dorina“. Er meinte, dass die rumänischen Mädchen unbedingt dabei sein müssten, denn schließlich habe ihr Vater Lovebird und Charlie aus der Hölle der spanischen Perera gerettet.
Als das Flugzeug aus Bukarest landete, tauchten am Terminal zwei kleine Mädchen in warmen, wolligen Mänteln, zwei wuscheligen Welpen im Arm, mit ihren Eltern auf.
„Jetzt sind wir vollständig“, sagte Fleurs Vater und er fuhr fort:
„Dies ist eigentlich die Einladung von Charlie und Lovebird, die ich in ihrem Namen organisiert habe. Sie wollten heute all die Menschen, die ihnen Gutes getan haben und die sie geliebt haben, um sich haben. Lasst uns zusammen Weihnachten feiern und Freunde bleiben.“
Sie fuhren alle zusammen zurück und bezogen ihre Zimmer im stillgelegten Teil des Klosters.
Danach trafen sie sich zu einem üppigen Abendessen im Restaurant. Die Erwachsenen genossen die französischen Spezialitäten, doch die Kinder waren durch die Flut der Eindrücke so überwältigt, dass die meisten Köstlichkeiten unberührt auf ihren Tellern blieben.
Nach dem Essen trafen sich alle wieder zum Weihnachtsgottesdienst in der ehrwürdigen mittelalterlichen Klosterkirche.
Die Mönche hatten ausdrücklich im Vorfeld die Menschen aus der Umgebung gebeten, ihre Tiere zum Weihnachtsgottesdienst mitzubringen.
Die steinernen Bänke der Kirche waren mit roten Kissen belegt, der Altar war mit vielen Blumen geschmückt und die Mönche trugen ihre festlichen schwarzen Sonntagskutten. Der Abt hielt eine feierliche Predigt über den heiligen Rochus aus Montpellier. Als dieser auf seiner Rückreise in Piacenza mit der Pest infiziert war, wurde er von niemandem gepflegt. Er „empfahl sich Gott“ und ging in eine einsame Holzhütte im Wald. Dort wurde er der Legende nach von einem Engel gepflegt, und ein Hund brachte ihm solange Brot, bis er wieder genesen war.
Doch die Engel des heutigen Weihnachtsabends, so betonte der Abt, seien Rachel, Bridget, Hella, Doina und Dorina und natürlich Fleur, denn, so wie der Hund für den Heiligen da war, so waren diese sechs Kinderengel für Lovebird und Charlie, diese beiden wunderbaren Geschöpfe Gottes, da.
In einer Ecke der alten Kirche, auf warmen Decken, lagen Lovebird, Charlie, Flame und die kleinen rumänischen Waisenhunde. Sie verstanden zwar die Worte des Abtes nicht, sie blinzelten aber ins Kerzenlicht und waren glücklich.
Lovebird drückte sich fest an seinen Freund Charlie und alle genossen die zahlreichen Kinderhände, die ihnen das Fell kraulten. Wie sehr hatten die beiden diese Kinderhände gesucht, besonders an den Tagen, als sie in Käfigen eingesperrt waren und von der Welt vergessen schienen.
Nachwort:
in den letzten vierzig Jahren habe ich bei Spaziergängen und mannigfaltigen Veranstaltungen Hunderte Setter gesehen.
Die meisten haben sich in meinem Gedächtnis eingebrannt, so dass ich mir viele noch heute gut vorstellen kann. Das ist auch nicht verwunderlich, da jedes Tier einzigartig ist, mit besonderen Eigenheiten und einer oft von Menschen auferlegten „Biographie“.
Zahlreiche dieser Setter Schicksale werden sich in etwas veränderter Form wiederfinden in „Zwei Setter auf der Suche nach den Kinderhänden“, einer Fortsetzungsgeschichte über zwei Rote, die sich der Willkür ihrer Besitzer nicht beugen wollten, die zufällig Freunde wurden und dann das Weite suchten.
Eine Legende, die man sich in Frankreich erzählte, ging mir seit Jahren nicht mehr aus dem Kopf:
Ein junger Setter brach aus seinem kargen Zwingerdasein aus und ließ sich nicht mehr einfangen. Wenn sich Menschen ihm näherten, suchte er das Weite. Er wurde angeblich in der Provence gesehen, am Atlantik, in der Champagne und in der Bretagne. Er war klug und schlau und lebte viele Jahre als freier „Selbstversorger“. Dieser Setter diente mir als Anregung für die Fortsetzungsgeschichte.
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Ob wirklich passiert oder nicht, das ist egal. Hauptsache, dass die Geschichte wahr ist!“ sagt Kästner und ich habe reale Bausteine für meine Erzählung zusammengefügt.
R. Didicher
Hannah und der kleine Setter mit dem schwarzen Fleck
Stille Nacht, heilige Nacht
Nur ein Mädchen einsam wacht
Ein Tag vor Heilig Abend, ein verregneter Abend in einem schmucken süddeutschen Dorf.
- Der Verfasser hatte auch kurz in Erwägung gezogen, die Geschichte in ein Reihenhaus ins Ruhrgebiet oder sogar nach Oberbayern zu verlegen. Die Protagonisten wären dieselben geblieben.-
Eine große, geschmückte Terrasse mit farbigen Lichtern, Engeln und bunten Weihnachtsmännern an der Hauswand.
Advent, Tage der Besinnung, der Kerzen und der Erwartung der Geburt des Christkinds.
Verdutzt standen fünf Hunde im Zwinger am Rande des Grundstücks vor ihren leeren Futterschüsseln und wunderten sich über das Lichter-Spektakel, das sie nicht einordnen konnten und sie warteten und warteten, doch die Futternäpfe blieben leer.
Bei dem regen Treiben hatte man sie einfach vergessen, denn im Wintergarten des noblen Einfamilienhauses wurde der Christbaum geschmückt. Eine prächtige Tanne, die bis zur Decke ragte, eingehüllt in Lametta und bestückt mit hunderten bunten künstlichen Kerzen, sollte Wohlstand, Selbstbewusstsein und Luxus ausstrahlen.
Der Adventskranz aus Kunststoff auf dem Wohnzimmertisch sah fast echt aus, aber die vier blutroten Kerzen aus dem Vorjahr wollten einfach nicht brennen.
Die Tochter des Hauses trällerte Weihnachtslieder und assistierte ihrem Vater, der stolz den Fasanenhahn rupfte, der ihm vor die Flinte gekommen war. Bunte Federn schwebten durch die offene Küchentür in die kalte Winternacht und verloren sich im Nichts.
Etwas schwerfällig wanderte eine Setterhündin durch den Garten. Sie sah müde aus. Bei Tageslicht konnte man sehen, dass Lefzen und Schnauze bereits mit einem grauen Schimmer überzogen waren.
In einem bestimmten Alter, wenn Hunde dann fast zu Menschen werden, strahlen sie Würde aus; sie kennen uns besser als wir uns selbst und sie verdienen als Partner behandelt zu werden.
Die Hündin hatte sich aus dem Holzverschlag am Ende des Zwingers befreit und war auf der Suche nach einem sicheren Ort für die Geburt ihrer Welpen.
Getrieben von innerer Unruhe durchstreifte sie den Garten.
Als sie die Straßenseite des Grundstücks erreichte, hielt sie inne und lauschte. Eine vertraute Stimme rief ihren Namen und ein dünner Arm schob sich durch den Zaun aus Schmiedeeisen. Eine warme Hand wischte die Regentropfen von der Schnauze des Hundes und verharrte lange auf dem oberen Teil des Kopfes, so als wollte sie etwas Wärme spenden.
Die leisen Worte der Kinderstimme schienen wie ein Zauber zu wirken. Die Hündin presste ihren Kopf an die kalten Gitterstäbe und ihre Rute bewegte sich im Takt. Für einen Augenblick war sie glücklich.
Doch dann öffnet sich die Haustür und eine Frau, die dabei war, die letzten Geschenke aus dem Kofferraum ihres Wagens ins Haus zu tragen, blieb bei dem Anblick dieser zärtlichen Geste für einen Augenblick verblüfft vor der Haustür stehen.
Hier sah sie das, wonach sie sich ein ganzes Leben sehnte: Verbundenheit und innige Zuneigung.
Doch die Realität holte sie schnell wieder ein und verärgert rief sie ihrem Mann zu: „Dieses dusselige Mädchen von den neuen Nachbarn schleicht wieder um unser Haus und macht die Hunde verrückt, tu endlich etwas“.
„Lass sie einfach in Ruhe, sie liebt Hunde und putzt täglich zwei Mal den Zwinger. Wenn das ihre Akademikereltern wüssten, würde es bestimmt Ärger geben. Übrigens sehe ich niemanden“ erwiderte er und kehrte in die Küche zurück, um die blutverschmierten Federn von seinen Händen zu waschen.
Das Mädchen Hannah war auch wieder verschwunden und die Hündin Ria setzte die Suche nach einer Zufluchtsstätte für ihre Welpen fort.
Geprägt vom Instinkt ihrer Urahnen, den Wölfen, versuchte sie unter einer hohen Tanne eine Höhle zu graben. Sie stieß ihre Nase in den feuchten Boden, doch ihre Pfoten verfingen sich im Wurzelwerk und sie gab auf.
Sie sah das rege Treiben im hell erleuchteten Wintergarten und presste neugierig ihre lehmige Schnauze an die Glaswand. Als die Frau das sah, bekam sie einen Tobsuchtsanfall. Sie scheuchte die Hündin in die Holzhütte zurück und schob den Riegel vor.
Hannah ging traurig nach Hause und legte sich in Gedanken versunken auf die Couch. Später kramte sie ihr Smartphone aus der Jackentasche, schmierte sich ein Butterbrot und sah beim Essen sich die Fotos der letzten Wochen an, denn der Mann hatte nichts dagegen, wenn sie beim Reinemachen des Zwingers die Hunde fotografierte. „Hauptsache danach ist alles sauber“, sagte er.
Sie scrollte die Fotos vor und zurück und hielt jedes Mal, wenn sie auf ein Bild der tragenden Hündin Ria stieß, inne und flüsterte: „Ich denke ganz fest an dich.“
Ihre abendlichen Streifzüge durch das festlich geschmückte Dorf, aber auch ihre Rückkehr fielen niemandem auf. Die Mutter war wie jeden Abend bei ihrem Aktivistinnentreffen und der Vater spielte wie jeden Abend stundenlang Klavier. „Wieder Beethoven und wieder klopft das Schicksal an die Tür“, dachte Hannah und schlief auf der Couch ein.
Bettelnd standen die Hunde am nächsten Morgen hinter den Gitterstäben ihres Zwingers, als der Mann den Garten betrat.
Als er sich mit einem Futtersack näherte, heulten sie alle auf einmal los.
„Stellt euch nicht so an, der Wolf frisst auch nur einmal in der Woche, wenn er Glück hat“, sagte er mürrisch und füllte die Näpfe. Oder wollte er vielleicht doch nur sein schlechtes Gewissen überspielen?
Am nächsten Nachmittag brachte er einen Ballen Stroh vom Feld und breitete es in der Holzhütte aus.
Die tragende Hündin stand dabei und hechelte, da die Senkwehen eigesetzt hatten.
Er war in Plauderlaune: „Streng dich an und gib dein Bestes, du kennst meine Vorgaben. Über zehn Welpen müssen es sein. Leiste deinen Beitrag zum neuen Geländewagen. Du siehst, ich gebe mir Mühe und bastele dir ein fürstliches Bett. Man sagt, eure Vorfahren in Irland haben ihre Welpen in Erdkuhlen zur Welt gebracht. Im Stall von Bethlehem gab es übrigens auch nur ein Bett aus Stroh“.
Und da die vorweihnachtliche Stimmung auch bei ihm Wirkung zeigte, ging er in den Keller, kramte einen alten Kassettenrekorder aus einer verstaubten Ecke, legte eine Weihnachtskassette ein und war überrascht, dass der Kasten noch funktionierte:
„Der Heilig Abend gehört der Familie, aber deine kostbaren Kinder sollen bei Weihnachtsklängen geboren werden, solange die Batterien halten. Ich sehe morgen nach dir“, sagte er und stellte noch eine Schüssel Wasser und Napf mit Trockenfutter in die Holzhütte.
Auch bei Hannas Familie wurde es fast festlich. Ihr Vater schnitt am Heilig Abend im Garten einige Tannenzweige und stellte sie in eine Vase, die Mutter baute ein Krippenspiel, das sie als Kind von ihren Eltern geschenkt bekam, auf dem Fensterbrett auf, schob eine Tiefkühlpizza in den Herd und stellte einen Teller mit Plätzchen, ein Geschenk einer Freundin, auf den Tisch. Sie aßen schweigend die Pizzastücke, der Vater füllte zwei Gläser mit Rotwein und Hannah nahm sich eine Cola aus dem Kühlschrank. Der Vater hob das Glas, er war im Begriff etwas zu sagen, vielleicht „Frohes Fest“ oder so. Doch dann klingelte das Telefon. Die Mutter nahm ihre Jacke aus der Garderobe und verließ wortlos das Haus. Der Vater setzte sich an das Klavier und spielte Weihnachtslieder. Die beiden gefüllten Weingläser standen den ganzen Abend verwaist auf dem Küchentisch.
Hannah saß lange am Fenster und starrte auf die beleuchteten Dekorationen auf den Hauswänden der Nachbarn: Umrisse von dicken Weihnachtsmännern, von putzigen Rehen mit zu großen Ohren und vielen, vielen Sterne aus leuchtendem Kunststoff.
Aus der Ferne ertönte der Klang einer Glocke, die zur Christmette rief. Plötzlich wurde es auf den Gehsteigen lebendig und Hannah sah viele kleine und große Silhouetten, die sich alle in Richtung Kirche bewegten.
Sie nahm ihren Mantel und verließ das Haus. Ihre Blicke suchten den Zaun des Nachbarhauses ab. Sie hatte das Bedürfnis etwas Warmes, Lebendiges zu berühren, eine feuchte Hundeschnauze, die glatte Innenfläche eines dieser faltigen Ohren, oder einfach nur den Geruch des feuchten Felles einzuatmen.
Doch es war keiner der Setter zu sehen. Leise, fast flüsternd, rief sie Rias Namen - vergebens. Dieses Mal waren die Zwinger fest verschlossen. Schließlich könnten die Hunde aus Langeweile einen Passanten anbellen, um ihn zum Spielen aufzufordern und so die heilige Ruhe des Abends stören.
Hannah war im Begriff nach Hause zurückzukehren, sie lehnte sich traurig an das kalte Tor, sie wollte noch einen Augenblick den Hunden etwas nahe sein.
Plötzlich gab das Torelement nach und öffnete sich wie von Zauberhand. Die Frau hatte wohl bei der Auswahl ihrer Garderobe Schwierigkeiten und da Eile geboten war und man nicht als Nachzügler beim Gottesdienst eintreffen wollte, hatte sie in der Hektik vergessen das Tor abzuschließen.
Hannah kannte den Weg vom Tor zu den spärlichen Behausungen der Hunde und ohne darüber nachzudenken, schlug sie ihn ein.
Sie schob den Riegel zum Holzverschlag zur Seite und stand vor einer stark hechelnden Ria. Die Lichterdekoration am Wintergarten und Gartenpavillon sorgten für genügend Licht im Inneren des Raums.
Zuerst suchte sie die Off-Taste des Kassettenrekorders, um die kitschige Beschallung abzustellen, dann setzte sie sich in eine Ecke des Holzkastens, um von außen nicht gesehen zu werden und nahm Ria ganz fest in den Arm.
Die Hündin stand noch immer hechelnd vor Hannah und presste ihren Kopf und Hals fest an das Mädchen.
Und plötzlich ging ein Beben durch ihren Körper, sie hörte auf zu hecheln und vollführte im Stroh einige Drehbewegungen, so als wollte sie die trockenen Halme zu einem weichen Nest formen. Sie legte sich in die Vertiefung und begann zu pressen. Wellenlinien breiteten sich über ihren Körper aus, dann hielt sie inne und Hannah hörte ein leises Fiepen.
Mit der Lampe ihres Smartphones suchte sie das Stroh ab, ihre Hände berührten ein kleines, feuchtes Knäuel. Es war warm und voller Leben.
Instinktiv legte Hannah das neugeborene Setterkind an die Zitzen der Mutter. Ria schleckte es unentwegt mit ihrer elastischen Zunge, um seinen Kreislauf anzuregen. Das Kleine schmatzte vor sich hin und als Hannah ihm vorsichtig mit der Hand über den Rücken strich, merkte sie, dass es fast trocken war.
Vorsichtig hob Hannah den kleinen Welpen hoch und jetzt verstand sie auch, warum Weihnachten die Zeit der Wunder ist, denn dieses kleine Wesen, das sie in der Hand hielt, war ein Wunder.
Das Mädchen war überwältigt von diesem Glücksgefühl und Tränen flossen über ihre Wangen.
Die Christmette war längst zu Ende, doch die festlichen Klänge fanden noch lange durch die kalte Winterluft ihren Weg zu der Holzhütte: „Stille Nacht, heilige Nacht, einsam wacht ...“
Hannah summte, ohne es zu merken, die berührende Melodie mit, dann schlief sie erschöpft ein.
Für das Ehepaar schien das Mädchen nicht zu existieren. Beide starrten in die Kuhle aus Stroh, in der fünf niedliche Welpen lagen und eifrig die Zitzen der Mutter „bearbeiteten“. Ria schleckte sie alle der Reihe nach ab. Auch sie verstand scheinbar die Aufregung der Menschen nicht.
Hannah wagte zu fragen, was passiert sei.
Verzweifelt zeigte der Mann auf einen Welpen, der sich an einer der hinteren Zitze der Mutter zu schaffen machte. Es war ein kleiner kräftiger Rüde. Auf seinem hellbrauen Fell war an der Halspartie ein großer schwarzer Fleck zu sehen.
„Sieht doch niedlich aus“, meinte Hannah.
Herrn Glotz blieb fast die Luft weg. Polternd verließ er den Raum. Die Frau nahm sich Hannah ins Gebet:
„Wenn das jemand erfährt, ist unser Ruf ruiniert. Hier muss der schwarzer Köter der Nachbarn am Werk gewesen sein. Hast du ihn herein gelassen? “ fuhr sie Hannah an.
Diese verstand die Aufregung der beiden immer noch nicht:
„Mal etwas anderes, nicht so ein Einheitsbraun und es gibt doch auch Welpen mit einem weißen Brustfleck oder einer kleinen weißen Blesse“, erwiderte Hannah.
Das war für den Mann, der mit einem Papierbogen wieder zuückkam, zu viel: „Scher dich nach Hause, heute Abend kannst du die Zwinger putzen, ansonsten warst du zum letzten Mal hier“, raunte er Hannah zu.
Das Mädchen erkannte, dass es jetzt besser war, den Heimweg anzutreten.
Sie suchte ihr Smartphone und wollte noch schnell den Welpen mit dem schwarzen Fleck fotografieren.
„Keine Beweise“ brüllte der Mann und wollte nach dem Handy des Mädchens greifen, das aber schon außer Reichweite war.
Am Tor sah Hannah noch, wie der Mann mit dem Blatt Papier fuchtelte und seiner Frau stotternd die Zuchtregularien vorlas. Sie hörte nur immer: „Ohne jede Spur von Schwarz“.
Obwohl sie sehr müde war, musste sie immer an den kleinen Setter mit dem schwarzen Fleck denken.
Zu Hause hatte niemand ihre Abwesenheit gemerkt. Sie schlich in ihr Zimmer und verkroch sich in ihr Bett. Sie genoss so richtig die kuschelige Wärme der Bettdecke und sie schlief auch sofort ein.
Als sie aufwachte, fand sie auf ihrem Nachtkästchen in buntes Papier verpackte Weihnachtsgeschenke: eine CD „Mozart, Große Messe in C Moll“, ein Geschenk ihres Vater, und ein Gutschein für ein Yogastudio. „Bestimmt von meiner Mutter“, dachte sie. Da lag auch noch ein Umschlag mit hundert Euro, von Oma - wie jedes Jahr. Lächelnd legte sie alles zurück auf den Nachttisch.
Beim Mittagessen bedankte sie sich artig für die Geschenke. Da es mal wieder sehr still war und der Vater recht einsilbig nach seinem Klavier schielte, versuchte sie ihn in ein „Fachgespräch“ zu verwickeln. Damit konnte man ihn aus der Reserve locken:
„Papa, wie erklärst du bei deinen Genetikvorlesungen den Studenten die Vererbung der Haarfarbe? Wir schreiben nach den Ferien eine Klassenarbeit darüber.“
Wenn es um Fachwissen ging, war dieser verschlossene Mann nicht zu bremsen und er erklärte seiner Tochter ausführlich, dass die Haarfarbe beim Menschen durch Gene bestimmt wird, die den Anteil an Melanin, das Pigment, das für die Färbung verantwortlich ist, regulieren. Je mehr Melanin, desto dunkler die Haarfarbe. Und „dunkel“ dominiert über „hell“. Wenn also zwei dunkelhaarige Menschen aufhellende Genanteile mit im Erbgut haben, könne es durchaus sein, dass die Kinder blondes Haar haben.
„Und wie sieht das mit der Fellfarbe bei Tieren aus“, fragte Hannah weiter und der Vater legte los:
„Im Prinzip ist das genauso. Nur kommen hier noch Gene hinzu, die Einfarbigkeit, gescheckt, trikolor, gepunktet oder gestreift regeln. Das ist beim Menschen etwas einfacher, da kommt nur noch „glatt“ bzw. „kraus/gewellt“ als Merkmal hinzu.
„Und gibt es hier auch Ausnahmen?“, bohrte sie weiter.
Die Mutter „roch den Braten“ und etwas verärgert warf sie ein: „Es geht doch mal wieder um die Hunde von diesen Neureichen im Haus gegenüber, halte deinem Vater nicht zum Narren“, fügte sie noch hinzu und verschwand.
Unbeirrt fuhr der Vater in seiner Rolle als Professor fort:
„Ja, diese Ausnahmen nennt man Mutationen. Es kann zum Beispiel sein, dass durch solch einen Defekt kein Melanin gebildet wird, das nennt man dann Albinismus. Und manchmal bildet sich auch zu viel Melanin, dann entstehen ganz dunkle Bereiche, oft aber nur kleine Flecken“
Nach diesem Exkurs lächelte Hannah dankbar und dachte nur: “Wie blöd können Menschen doch sein, die ganze Aufregung nur aufgrund einer verrückten Laune der Natur, die auch noch lustig aussieht“. Denn der kleine Welpe mit dem schwarzen Fleck sah schon recht putzig aus.
Als sie am Nachmittag nach Ria sehen wollte, traf sie Herrn Glotz im Garten.
Sie versuchte, ihm das Zustandekommen des schwarzen Flecks bei dem Welpen aus wissenschaftlicher Sicht zu erklären.
Herr Glotz hörte mit offenem Mund zu und schien kein Wort zu verstehen.
„Eine „Mustatation“? Alles Blödsinn, es war der Labrador der Nachbarn und dabei sind es nur fünf Welpen, wieder ein Verlustgeschäft. Wenn es mehr wären, würde ich ihn entsorgen. Ich habe bereits meinen Tierarzt angerufen. Der hat schon so manches Unerwünschte wegoperiert. Er meinte nur, ich soll in acht Wochen mit dem Welpen vorbeikommen, jetzt wäre er noch zu klein“, sagte er stotternd vor Zorn und verschwand.
Hannah verzog sich in die Holzbaracke, streichelte zuerst Ria ganz ausgiebig, dann fuhr sie dem kleinen Welpen liebevoll mit dem Zeigefinger über den schwarzen Fleck und sagte:
„Mir gefällst du so, ich würde dich Black nennen“.
Da Herr und Frau Glotz sich unbeobachtet fühlten, berieten sie sich auf der Terrasse über die weitere Vorgehensweise: „Der Welpe muss weg, bevor die ersten Welpenkäufer kommen, wenn sich das herumspricht, kommt es zum Eklat und du kennst die Lästermäuler von der Konkurrenz“.
Seine Frau stimmte ihm zu und meinte nur: „Doch nicht heute an Weihnachten, dem Fest der Liebe. Und pass auf, dass die Kinder nichts mitbekommen.“
Hannah hatte alles mitbekommen und geriet in Panik. Als Herr und Frau Glotz wieder im Haus waren, lief sie nach Hause. Sie wollte sich mit ihren Eltern beraten, doch diese machten nach langer Zeit einmal wieder zusammen einen Spaziergang durch das Dorf. Sie heulte los und verschwand in ihrem Zimmer.
Sie saß am Fenster und weinte. Ihr Blick streifte in die Ferne und sie sah, wie plötzlich die ersten Schneeflocken durch die Luft wirbelten. Und es wurden immer mehr. Nach einiger Zeit waren die Dächer der Nachbarhäuser und auch die Straßen mit einem weißen Flaum bedeckt:
„Es könnte so schön sein“, dachte sie und wieder fiel ihr der kleine Setterwelpe mit dem schwarzen Fleck ein und sie heulte los. Plötzlich richteten sich ihre Augen auf den Umschlag von ihrer Oma.
Sie stutzte, hielt einen Augenblick inne, dann öffnete sie das Couvert, entnahm das Geld, schnappte sich ihren Mantel und überquerte die Straße.
Als Herr Glotz sie sah, sagte er: „Gut, dass du kommst, ich hatte keine Zeit die Zwinger sauber zu machen, schließlich ist heute Weihnachten.“
Hannah überhörte seine Worte, sie nahm den kleinen Welpen mit dem schwarzen Fleck auf den Arm, streichelte Ria über den Kopf und hielt Herrn Glotz den 100 Euro Schein hin: „Mehr habe ich nicht.“
Dieser begann zu lachen: „Der wird nicht überleben ohne Mutter“, sagte er.
„Lassen Sie das meine Sorge sein“, sagte Hannah.
Doch plötzlich gefiel ihm dieser Gedanke und er grinste vor sich hin. Er griff nach dem Geldschein und freute sich, dass alle Probleme gelöst schienen.
Er ging zum Haus zurück, um bei seiner Frau mit seiner geschäftstüchtigen Lösung zu prahlen. Im Gehen rief er noch: „Aber morgen wird geputzt“.
Doch das hörte Hannah nicht mehr, denn sie lief bereits über die Straße mit dem kleinen Black unter dem Mantel. Schneeflocken fielen auf ihre vor Aufregung geröteten Wangen. Sie spürte sie nicht, sie sah auch die Kinder nicht, die sich Schneebälle zuwarfen. Sie war glücklich.
Zu Hause angekommen, rannte sie durch das Haus auf der Suche nach einer Wärmflasche. Als sie diese endlich gefunden hatte, legte sie den Welpen kurz auf ein flauschiges Handtuch, füllte die Kunststoffflasche mit warmem Wasser und schob sie darunter. Der Welpe fiepte vor sich hin.
Verblüfft standen plötzlich Hannahs Eltern, noch in ihren Mänteln, an der Tür des Wohnzimmers und trauten ihren Augen nicht.
Ihr Vater fand endlich seine Sprache wieder. „Du hast das Tier geklaut, bring es schleunigst wieder zurück“, fuhr er seine Tochter an.
„Nein, ich habe den Kleinen gekauft mit Omas Weihnachtsgeld, er heißt übrigens Black “, entgegnete Hannah. Auch die Mutter mischte sich ein: „Kind, du musst das Würmchen ins Tierheim bringen, die sind bestimmt in der Lage, es zu versorgen.“
An Hannahs Blick konnte ihr Vater erkennen, dass der Rat der Mutter bestimmt der falsche war.
Er ergriff seinen Mantel, den er bereits abgelegt hatte und murmelte etwas von Notapotheke und Babymilch und verschwand.
Nach einer halben Stunde kam er zurück mit einer Babyflasche und einer Packung Trockenmilch in der Hand. Sein blasses Gesicht hatte Farbe bekommen und seine Augen strahlten: „Als Kinder haben wir verwaiste Kätzchen und einmal sogar einen Igel großgezogen. Das wird mit dem Welpen ebenfalls klappen“, sagte er und seine Worte klangen überzeugend.
Hannah war überrascht, über seine Kindheit hatte ihr Vater nie gesprochen. Sie hatte immer die Vorstellung, dass es außerhalb von Biologie und Musik für ihn nichts gab.
Die Mutter ließ ihrem Unmut über Herrn Glotz freien Lauf: „Halsabschneider, Betrüger, Tierquäler, man müsste ihm den Tierschutz auf den Hals hetzen.“
Auf einmal hielt sie inne, ihr Finger fuhr ganz sanft über den Bauch des Welpen und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.
Gemeinsam bereiteten Hannahs Eltern das erste Fläschchen für den kleinen Black zu. Dieser genoss die warme Milch und er schmatzte zufrieden.
Hannahs Mutter sah dabei ihren Mann an und Erinnerungen kamen auf: „Weißt du noch, wie du für Hannah das erste Fläschchen zubereitet hast, weil ich nach der Geburt zu geschwächt war und meine Milch nicht ausreichte, um die Kleine satt zu bekommen?"
Lächelnd antwortete der Vater: „Wie könnte ich das vergessen.“
Er war etwas verlegen, schnell ging er in den Abstellraum und kam mit einem Wärmekissen zurück. Sie betteten den kleinen Black auf das Kissen und der Vater überprüfte mit seiner Genauigkeit als Wissenschaftler die eingestellte Temperatur. Er schaltete noch einen Thermostat dazwischen, um das Kissen vor Überhitzung zu schützen.
Jetzt saßen sie alle schweigend zusammen auf der Couch und genossen den Abend. Der Vater öffnete eine Flasche Wein und füllte drei Gläser. Hannah war überrascht, als er ihr auch ein Glas anbot. Er sah ihre Verwunderung und meinte nur: „Du musst es ja nicht leer trinken. Lasst uns auf Weihnachten anstoßen und auf dieses kleine Christkind mit dem schwarzen Fleck.“
Später nahm Hannah den kleinen Black samt Ausrüstung mit in ihr Zimmer, doch an Schlafen war nicht zu denken. Um zwei Uhr morgens gab sie ihm noch ein zweites Fläschchen und massierte seinen Bauch, so wie Ria mit ihrer ungestümen Zunge stets unermüdlich die Welpen traktierte, vielleicht nur etwas unsicher, aber dennoch schien es der kleine Black zu genießen.
Gegen Morgen schlief sie endlich ein.
Sie wurde von ihrem Smartphone geweckt und sie las folgende Nachricht:
„Hallo Hannah, unerwartet habe ich eine Einladung zu einer Jagd in Südafrika erhalten. Wir sind bereits auf dem Flughafen in Frankfurt. Meine Frau möchte auch dieses herrliche Land kennen lernen. Unsere Tochter freut sich schon auf den Krüger Park. Um die Hunde zuhause wird sich unser Nachbar Herr Kraus kümmern.
Du wirst ihm bestimmt helfen? Schließlich habe ich dir ja den Welpen geschenkt und du liebst doch angeblich Hunde. Ein Taschengeld könnte ich auch noch locker machen. Viel Spaß, Bruno Glotz“
(Anmerkung des Erzählers: Die Nachricht wurde grammatikalisch und orthographisch bearbeitet, um sie den Lesern verständlich zu machen.)
Wütend rannte Hannah ins Wohnzimmer: „Von wegen geschenkt, gekauft habe ich Black von Omas Weihnachtsgeld!“
Ihre Eltern saßen beim Frühstück und sie verstanden ihre Aufregung nicht. Als sie jedoch Hannahs Gesichtsausdruck sahen, fürchteten sie es gäbe Probleme mit dem kleinen Black.
Sie hielt ihnen das Smartphone hin. Auch die Eltern waren sprachlos, als sie die Nachricht gelesen hatten.
Dann sagte die Mutter: „Ich habe in den drei nächsten Wochen Urlaub und könnte mich um den kleinen Black kümmern, es würde mir sogar Spaß machen.“
Der Vater meinte, dass er jetzt in der vorlesungsfreien Zeit auch mal „kürzer treten könnte“ und er natürlich auch dabei sei.
Beide rieten Hannah, sich um die verwaisten Hunde zu kümmern, da Herr Kraus zwar ein lieber, aber betagter Herr sei, den alle im Ort gut kannten, da er sich durch Gelegenheitsjobs seine kleine Rente aufbesserte, mit der gesamten Hundeschar und den Welpen von Herrn Glotz aber bestimmt nicht zu Recht kommen würde.
Hannah trank recht abwesend ihren Kakao, ein freches Lächeln huschte plötzlich über ihr Gesicht, sie nahm ihren Mantel und verschwand.
Der Vater, der diesen Blick seiner Tochter kannte, ahnte nichts Gutes. Er rief ihr von der Wohnzimmertür noch nach: „Kind mach keinen Blödsinn, tu nichts Unbedachtes.“
Bevor die Mutter in Hannahs Zimmer ging, um den kleinen Black zu versorgen, wurde sie nachdenklich: „Unsere Tochter ist, ohne dass wir es merkten, erwachsen geworden und sie übernimmt Verantwortung, wenn unverfrorene Menschen diese von sich weisen. Solchen Züchtern müsste man das Handwerk legen“.
Der Vater nickte und meinte nur: „Und dann kämen bestimmt alle Hunde in Tierheim, in eine fremde Umgebung, vielleicht zu fremden Menschen. Wer weiß schon, was gut ist. Aber Hannah wird für die Tiere da sein. Sie würde jedem Regenwurm beistehen, wenn er Hilfe braucht.“
Als Hannah die Straße überquerte, kam Herr Kraus bereits auf sie zu: „Gut Mädchen, dass du mir hilfst, mein Herz macht mir schon seit einigen Tagen zu schaffen und ich kann mich kaum bücken, wahrscheinlich Rheuma, doch ich muss etwas dazu verdienen. Anfang des Jahres erwarten wir wieder eine Mieterhöhung“, sagte er und schloss das Tor auf.
Als sie sich den Zwingern näherten, blieb Herr Kraus plötzlich stehen: „Wenn die Tiere nur nicht so stinken würden, die Arbeit macht mir nichts aus“, meinte er.
„Das sind nicht die Hunde, das ist ihre Haltung. Sie sind dazu verdammt, die meiste Zeit ihres Lebens auf 12 Quadratmeter zu verbringen und viele haben noch weniger an Fläche zur Verfügung. Die Herren, die die Tierschutzgesetze verfasst haben, sollten das mal ausprobieren“, schimpfte Hannah.
Und plötzlich hellte sich ihr Gesicht auf: „Herr Kraus, ich habe eine Idee: Sie haben doch den Schlüssel zum beheizten Wintergarten. Ich würde die Hunde kräftig mit Schnee abreiben, damit sie nicht mehr riechen, dann kommen alle in den Wintergarten und können auf der Fußbodenheizung schön trocknen.“
Für Herrn Kraus roch das nach Arbeit und Hannah sah an seinem Gesichtsausdruck, dass seine Begeisterung sich in Grenzen hielt, deshalb fuhr sie rasch fort: „Natürlich erledige ich das allein ganz allein und wenn ich einen Rat brauche, weiß ich wo ich Sie finde.“
Dieser Gedanke gefiel dem alten Herrn und er meinte, dass dies in Ordnung gehe, da er sowieso noch zur Apotheke müsse. Er überließ Hannah den Schlüssel zum Wintergarten und zum Eingangstor und verschwand.
Natürlich durchschaute er das Mädchen, er kannte sie gut genug und in dem kleinen Ort war bekannt, dass sie für Hunde alles tun würde.
Er stellte sich das Gesicht von Glotz bei dessen Rückkehr vor. Ihm konnte es egal sein, denn er hatte sich, da er den Geizkragen kannte, von diesem im Vorfeld 300 Euro in bar aushändigen lassen.
Als Herr Glotz verschwunden war, rannte Hannah zuerst nach Hause und packte alle Decken, die ihre Mutter für die Altkleidersammlung vorbereitet hatte, in zwei große Tüten.
Dazu kamen noch zwei Rollen Küchenpapier und ein Shampoo. So bepackt kehrte sie in den Wintergarten zurück.
Sie breitete eine flauschige Decke zwischen zwei Zitronenbäumchen aus, nahm Ria aus dem Holzverschlag und rieb sie kräftig mit Schnee ab, sie füllte etwas Wasser in einen Eimer, der unter dem Wasserhahn im Wintergarten stand, gab etwas Shampoo dazu und säuberte damit Rias Gesäuge. Anschließend legte sie sie auf die Decke und trocknete ihre Zitzen mit Küchenpapier ab. Die Hündin genoss die Prozedur und reckte sich zufrieden auf der warmen Decke.
Danach brachte Hannah die Welpen, die jaulend im Stroh herumkrochen, da sie ihre Mutter vermissten, einzeln unter ihrem Pullover in den Wintergarten. Sie legte sie zu Ria. Die hungrigen Kleinen suchten sofort die Zitzen der Mutter und legten los.
Anschließend fütterte sie alle Hunde, öffnete die Tür zum Zwinger und ließ die ganze Meute ausgiebig im Garten spielen. Anfangs waren die beiden Älteren etwas vorsichtig, denn sie wussten, dass der gepflegte Garten mit den akkurat angelegten Rasenflächen für sie tabu war.
Als sie aber dem Spiel der Jüngeren einige Minuten zusahen und merkten, dass keine Konsequenzen folgten, machten sie tüchtig mit. Sonderbarerweise bereitet das Toben im Schnee Hunden generell eine besondere Freude.
Hannah genoss das bunte Treiben. Sie warf einige Schneebälle nach den Übermütigen und rief ihnen zu: „Auch ihr habt ein Recht auf Urlaub, wenn die Menschen durch die Welt reisen, so als könnte man hier keinen Spaß haben.“
Und sie hoffte, dass der nächste Schneefall alle Spuren verwischen würde.
Sie ließ die Hunde im Garten, schloss das Tor ab und eilte nach Hause, beflügelt von ihrem neuen Einfall:
Den kleinen Black packte sie samt Wärmflasche mit den Worten unter ihren Pullover: „Jetzt besuchen wir deine Mutter. Die bösen Menschen sind weg und ich bin jetzt die Königin aller Hunde“. Eigentlich war diese Aussage mehr für ihre Mutter gedacht, die nicht verstand, was ihre Tochter jetzt schon wieder ausheckte.
Diese schüttelte zwar den Kopf, aber eigentlich freute sie sich über die Energie und die Begeisterungsfähigkeit ihrer Tochter, wenn es um Tiere ging.
Hannah kehrte in den Wintergarten zurück und legte den kleinen Black an die Zitzen seiner Mutter. Der Kleine saugte sich sofort an einer „Zapfstelle“ fest und genoss die Muttermilch in vollen Zügen.
„Schmeckt wohl besser als die Flasche, aber du müsstest es mir ja nicht so deutlich zeigen, du böser Junge“, scherzte Hannah.
Ria erkannte den Welpen sofort wieder und schleckte ihm ausgiebig zuerst den Bauch, dann die kleinen Öhrchen und als er mit dem Trinken fertig war auch die Schnauze.
Satt und zufrieden reihte sich Black zwischen seine Geschwister ein und Hannah hätte ihn kaum wiedererkannt, wenn da nicht der kleine schwarze Fleck am Hals gewesen wäre, der ihn für sie so einzigartig machte.
„Jetzt müssten auch die Bedenken ihres Vater, dass der Kleine nicht genug von der so wichtigen Muttermilch der ersten Tage mit all den wichtigen Abwehrstoffen zu sich nehmen würde, ausgeräumt sein, dachte Hannah.
Im Wintergarten war es angenehm warm und bei einigen Zitrusbäumchen öffneten sich bereits die Knospen. Ihr Duft vermischte sich mit dem der gepflegten, sauberen Welpen.
Zufrieden streckte sich Hannah auf der Decke neben Ria und den Welpen aus und schlief ein.
Sie wurde von einem Klopfen an der Glasscheibe geweckt.
Hannah schreckte hoch, ihr erster Gedanke war, dass Familie Glotz frühzeitig zurückgekehrt sei. Sie atmete auf, als sie das Gesicht von Herrn Kraus sah: „Mädchen, ich will dir ein bisschen helfen, den „Saustall“ aufzuräumen.“
Und schon legten sie los. Sie nahmen die anderen fünf Hunde aus dem Zwinger, ließen sie einige Minuten im Schnee toben, danach wurden auch sie mit Schnee abgerieben. Herr Kraus brachte in einem Eimer warmes Wasser, Hannah gab etwas Shampoo dazu und damit wurden dann die Ohren und der Bauch der Hunde gesäubert.
Danach eilte Hannah nach Hause, kam mit einer Schere zurück und sie schnitt alle verfilzten Haarteile aus dem Fell, besonders unter den Ohren sah es schlimm aus.
Die Hunde waren nicht mehr wieder zu erkennen. Besonders eine alte Hündin genoss die ausgiebige Fellpflege.
Normalerweise veräußerte Herr Glotz seine Hündinnen, wenn sie das Zuchtalter überschritten hatten.
„Wirtschaftlich nicht mehr rentabel und zusätzlich blockiert sie den Platz einer jungen Hündin“, war stets seine Argumentation. Doch diese alte Hundedame mit schneeweißem Gesicht war angeblich der einzige Hund, der seiner Frau ans Herz gewachsen war. Deshalb hatte sie das Glück oder das Pech noch hier verweilen zu können.
Hannah legte im Wintergarten die restlichen Decken aus und Herr Kraus öffnete die Tür mit der Hoffnung, dass alle Tiere sofort hineinstürmen würden. Doch weit verfehlt. Nur zaghaft näherten sich die Hunde. Sie hatten oft die leidvolle Erfahrung gemacht, dass es für sie verboten war, das „Imperium“ der Menschen zu betreten.
Doch Hannahs Zureden half, fast kriechend bewegten sie sich vorwärts und jeder fand schließlich seinen Platz auf einer Decke.
Nur Ria war etwas aufgeregt, sie richtete sich auf, um ihre Welpen gegen die „Eindringlinge“ zu beschützen. Als sie aber merkte, dass alle friedlich waren, ging sie weiter ihrer Hauptbeschäftigung, der „Welpenpflege“, nach.
Hannah zeigte Herrn Kraus ihren Black: „Von meinem Weihnachtsgeld gekauft“, sagte sie stolz.
Herr Kraus wollte ihr den Spaß nicht verderben und bemerkte nur, dass der schwarze Fleck am Hals ganz lustig aussehe, insgeheim dachte er aber, dass Hannah von dem Schlitzohr Glotz hereingelegt wurde.
Nach der Fütterung machten sich beide auf den Heimweg. Herr Kraus konnte es kaum erwarten, seiner Frau über den aufregenden Nachmittag zu berichten.
Hannah schnappte sich den kleinen Black, steckte ihn wieder unter den Pullover und erklärte dem Kleinen, der durch die Wärme sofort einschlief, dass der Besuch bei der Mama nun zu Ende sei und dass man am nächsten Tag wieder kommen wolle.
Hannahs Eltern warteten bereits mit dem Abendbrot und Hannah griff ordentlich zu, denn Arbeit macht hungrig.
Nach dem Abendessen bereitete Hannahs Mutter noch eine Flasche für den kleinen Rabauken vor: „Falls er in der Nacht aufwacht und wieder so jämmerlich losheult“, meinte sie nur.
Hannahs Vater schielte einige Male zu seinem Klavier, doch er wusste, dass er den Kleinen mit seiner Musik aufwecken würde, also verzichtete er auf sein Klavierspiel.
Danach saßen sie alle drei um die kleine Kiste herum, in die sie Black gebetet hatten und genossen den Abend.
Als Hannah am Morgen aufstand, war ihre Mutter schon in die Stadt gefahren, um Einkäufe zu tätigen, so dass Hannah und ihr Vater allein frühstückten.
Der Vater blätterte etwas nachdenklich in seinen Manuskripten für das nächste Semester und blickte etwas verloren durch das geöffnete Fenster den Schneeflocken hinterher.
Das gefiel Hannah gar nicht. Die letzten Tage hatte sie ihn viel aufgeräumter erlebt. Und wieder hatte sie einen ihrer genialen Einfälle:
„Hallo Papa, ich habe mit Herrn Kraus gestern besprochen, dass wir heute mit den Hunden einen Spaziergang zu den Wiesen am Rhein machen könnten, damit sie mal die Möglichkeit haben, sich richtig auszutoben. Ich würde mich freuen, wenn du uns begleiten würdest. Den kleinen Black bringe ich sowieso zu Ria, damit er sich den Bauch mit Muttermilch füllen kann. Ich habe das Gefühl, er mag sie mehr als unsere Fläschchen.“
Der Vater willigte sofort ein, er freute sich scheinbar, dass seine Tochter ihn dabei haben wollte. Also brachen sie auf.
Herr Kraus wartete bereits vor dem Tor und nachdem Hannah ihren Black bei Ria in die Welpenrunde eingebettet hatte, suchte sie nach Hundeleinen für das anstehende Abenteuer. Sie musste etwas improvisieren, denn Herr Glotz legte auf derartige Spaziergänge keinen Wert. „Hunde gehören in den Zwinger und nicht auf die Straße“, war auch einer seiner zweifelhaften Grundsätze. Aber schließlich fanden sich fünf Leinen, die Hannah vorher säubern musste.
Ihrem Vater drückte sie die Leine der alten Hundedame Tara in die Hand, zwei der etwas ruhigeren Hündinnen übernahm Herr Kraus und die zwei jüngeren verwegenen Rotschöpfe wollte sie selbst führen.
Als sie am Tor angelangt waren, offenbarte sich ihnen eine Überraschung. Die beiden jungen Hündinnen, die in ihrem Leben das Grundstück noch nie verlassen hatten, warfen sich zu Boden. Der Gehsteig, die Straßenlaternen und besonders die zwei Jungs, die mit ihrem Schlitten die Straße entlang liefen, stellten für sie eine Gefahr dar. Alles war für die beiden Hundemädchen neu und bedrohlich.
Tara und die beiden anderen Hündinnen waren weniger ängstlich, da sie von Zeit zu Zeit von Herrn Glotz, wenn ein Wurf anstand, bei Hundeausstellungen vorgeführt wurden. „Werbung ist gut für das Geschäft“ pflegte er zu sagen. Bei den beiden jungen Hündinnen war ihm das aber zu stressig, da der Verkauf auch so florierte.
Die Straße war für die beiden Junghunde etwas Unheimliches. Sie wollten zurück in ihr bekanntes Umfeld. Hannah erkannte und verstand die Panik der beiden. Sie beugte sich zu ihnen hinunter, streichelte sie zärtlich, danach nahm sie einige Belohnungshäppchen aus der Tasche und lockte sie ruhig und vorsichtig, Schritt für Schritt, weiter. Nach einigen Minuten war die Angst verflogen und die beiden liefen mit der Rute wedelnd neben Hannah.
Herr Kraus und Hannahs Vater unterhielten sich eifrig über klassische Musik. Herr Kraus, der seine Jugend in Wien verbrachte, war immer noch ein begeisterter Mozartfan. Die Hunde schienen diese Gespräche nicht zu stören. Und als sich die Gruppe den Rheinauen näherte, zogen sie schon mal, übermannt von ihrem Bewegungsdrang, kräftig an den Leinen.
Hannahs Sorge, die Hunde würden ohne Leine ausbüxen und ihre neue Freiheit einmal richtig ausleben, war unbegründet. Von Zeit zu Zeit kamen sie alle zur Menschengruppe zurück, um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war.
Der alten Tara war dieses Treiben suspekt. Sie drückte sich fest an das Bein von Hannahs Vater und schien dem Gespräch beider Männer zu folgen.
Hannah freute sich, als sie sah, dass dessen Hand der alten Hundedame immer wieder über den Kopf strich.
Auf dem Heimweg wurden sie zur Dorfattraktion. Menschen blieben stehen und erfreuten sich an dem Anblick dieser sonderbaren Gruppe: drei Menschen und fünf Setter. Ein PKW hielt an, ein Mann stieg mit seinem Handy aus dem Auto und fotografierte drauflos.
Zwei kleine Mädchen fragten, ob sie die Hunde streicheln dürften. Hannah freute sich darüber und die Hunde genossen die warmen Kinderhände.
Am Abend waren alle erschöpft. Hannah fütterte die Hunde, bedankte sich bei Herrn Kraus und ihrem Vater, schnappte sich ihren kleinen Black und war etwas später froh, wieder zu Hause zu sein.
Der Vater war sehr „aufgekratzt“ und berichtete der Mutter alle Details dieses erlebnisreichen Nachmittags.
Und plötzlich huschte ein Lächeln über sein Gesicht: „So ein Hund wie Tara, wäre bestimmt auch etwas für mich. Sie hat im Alter etwas Besseres verdient, als im Zwinger dahin zu vegetieren. Sie könnte mich sogar zur Uni begleiten, wenn ich keine Vorlesungen habe und wir könnten zusammen schöne Spaziergänge machen“, sagte er.
„Da lässt sich bestimmt etwas tun. Der Geizkragen wird froh sein, einen „Fresser“ weniger zu haben“, meinte Hannah.
Sie verzog sich nach dem Abendessen mit Black in ihr Zimmer uns schrieb Herrn Glotz eine WhatsApp.
„Hallo Herr Glotz, mein Vater ist bereit die alte Tara zu uns zu nehmen. Sind Sie damit einverstanden? Ich bitte um eine schnelle Antwort.“
Als Glotz die Nachricht las, saß er mit Frau und Tochter in Kapstadt auf der Terrasse eines schicken Restaurants. Er war gut gelaunt, denn er hatte an diesem Tag zwei Springböcke geschossen. Er konnte sein Jagderlebnis dennoch nicht ganz genießen, wenn er an den Preis für den Abschuss dachte.
Plötzlich aber verzog sich sein Gesicht zu einem Grinsen. Zu seiner Frau sagte er nur: „Dieser Professor soll mir die Trophäen bezahlen.“
Und sofort schrieb er eine Nachricht an seinen Freund Jodler: „Wieviel kann ich für meine alte Tara (12 Jahre) von einem willigen Käufer verlangen?“, lautete der Text.
Er wusste, dass sein Freund in einem solchen Fall der richtige Ratgeber war, da er all seine alten Hunde gewinnbringend verhökert hatte.
Die Antwort kam prompt: „Habe einen neun Jahre alten Rüden an eine alte Dame für neunhundert Euro verkauft. Alte Menschen wollen alte Hunde. Ziehe für jedes Jahr darüber hundert Euro ab und du hast den Preis. Bloß nur nicht verschenken, das macht unser Geschäft kaputt!!!“
Die Antwort gefiel Herrn Glotz und er schickte Hannah eine Nachricht, dass Hannahs Vater zuerst einen Scheck für 600 Euro ausschreiben solle und dass die Familie Glotz dann schweren Herzens bereit wäre, sich von der von seiner Familie heißgeliebten Hündin Tara zu trennen.“
Als Hannah ihren Eltern beim Frühstück am folgenden Morgen dies vorlas, schäumte ihre Mutter vor Wut:
„Der wird uns kennen lernen, nie und nimmer geben wir 600 Euro für einen alten, vernachlässigten Hund. Ich werde den Tierschutz informieren“ und sie griff zum Telefon.
Der Vater saß regungslos da. Er behielt das Marmeladenbrot, das er gerade zum Mund führen wollte, in der Hand: „Natürlich Frau hast du Recht, aber ich muss die ganze Zeit an diesen alten Hund denken. Er hat sich an mein Bein gedrückt und mich mit diesen großen traurigen Augen angesehen. Wenn wir den Tierschutz einschalten, wird es bis zu einer Entscheidung Monate dauern und so viel Zeit hat Tara nicht mehr. Ich habe doch noch mein Weihnachtsgeld von der Uni“, sagte er zu seiner Frau und ging in sein Arbeitszimmer.
Er kam mit einem Scheck zurück, drückte ihn Hannah in die Hand und bat sie, diesen im Beisein von Herrn Kraus bei Glotz in den Briefkasten zu werfen.
„Und hebe die Nachricht als Beleg auf, denn dieser Gauner ist sehr gerissen. Danach bring bitte Tara zu uns“, sagte er zu seiner Tochter.
Hannah drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Sie war voll in ihrem Element. Zuerst musste sie dem kleinen Black ein Fläschchen zubereiten, danach ihn zu Ria bringen, dann die Hunde füttern und zusätzlich noch Tara „auf Vordermann“ für ihr neues Leben bringen. An Frühstücken war heute für sie gar nicht zu denken.
Die Mutter war noch immer ungehalten. Sie kannte aber ihren Mann und instinktiv wusste sie, dass er das Richtige tat. Insgeheim aber war sie verwundert und freute sich über seine Energie und seine Entschlossenheit.
Gegen Mittag kam Hannah mit Tara zurück. Ihr Vater nahm die alte Hundedame in Empfang, führte sie zur Couch und zeigte ihr die Decke, die er darauf ausgebreitet hatte. Tara zögerte. Hunde vergessen nicht und sie erinnerte sich gut an den Tobsuchtsanfall von Frau Glotz als sie es vor zwei Jahren wagte, sich auf die Liege im Garten zu legen.
Doch durch Hannahs Überredungskünste bestärkt, wagte sie sich vorsichtig auf das eine Ende der Couch. Sie schlief auch sofort ein, denn sie genoss die Ruhe und die Zuneigung dieser Menschen.
Vorsichtig bettete Hannah den kleinen Black zu Tara. Diese wachte aber auf, beschnupperte das kleine quirlige Wesen etwas misstrauisch, doch dann gewann ihr Mutterinstinkt die Oberhand. Schließlich hatte sie in ihrem Leben einige Würfe versorgt und dies war eine schöne Zeit, denn wenn die Aufzucht funktionierte, war Herr Glotz auch bereit die Hunde durch Freundlichkeit zu belohnen. Dass diese gespielt war, wussten die Tiere nicht.
Doch die große Aufregung in der Familie gab es aber am nächsten Morgen, denn der kleine Black nuckelte genüsslich an Taras Zitzen, die sich über Nacht mit Milch gefüllt hatten.
Bei Hunden scheint dies üblich zu sein, da Hündinnen, „verführt“ durch den Welpengeruch, zu Ammen werden und so bei der Aufzucht ihren Beitrag leisten. Tara hatte den kleinen Black einfach adoptiert. Die Mutter amüsierte sich über diese unglaubliche Entwicklung und Hannah war fast eifersüchtig: „Jetzt wird der kleine Feinschmecker wohl meine Fläschchen verschmähen“, spaßte sie.
Natürlich war dies nicht der Fall, denn das Bisschen Milch der alten Hundedame reichte für den immer hungrigen Welpen, der sein Geburtsgewicht bereits verdoppelt hatte, nicht aus und so genoss er auch Hannahs Fläschchen in vollen Zügen.
Als er fast zwei Wochen alt war, gab es erneut eine Sensation. Als Hannah eines Morgens noch etwas schlaftrunken den kleinen aus seinem Körbchen nahm, blinzelten sie zwei blaue Welpenaugen an.
Sie rannte sofort zu ihren Eltern um ihnen über das freudige Ereignis zu berichten.
Bei all den herrlichen Erlebnissen, die sich Hannah und ihren Eltern von Tag zu Tag offenbarten, hatten sie fast vergessen, dass in den kommenden Tagen Familie Glotz wieder zu Hause „eintrudeln“ dürfte.
Die anderen Hunde hatten sich in der Zwischenzeit an die Wärme und das gemütliche Leben im Wintergarten und an die herrlichen Schneespaziergänge gewöhnt.
„Wie wird die Zukunft aussehen?“, war die bange Frage, die Hannah nicht mehr aus dem Kopf ging.
Am nächsten Morgen traf sich Hannah nach dem Frühstück mit Herrn Kraus an der Zwingeranlage.
Sie wussten, dass in einigen Tagen, nachdem die Familie Glotz wieder zu Hause war, das Wintergartenmärchen für die Hunde zu Ende war.
Sie säuberten den Zwinger von schmutzigem Stroh, spritzten den Boden ab und Herr Kraus hatte in der Drogerie ein Desinfektionsmittel und einen Geruchsvertilger gekauft. Nachdem sie den Boden und die Holzablagen damit behandelt hatten, roch es frisch, ja fast angenehm.
Zuletzt säuberte Hannah noch die Volieren im Garten. Hier lebte auf engem Raum allerlei Federvieh: Wachteln, Rebhühner, Fasane und Haushühner.
Herr Krause meinte, dass die Kälte den Hunden weniger schaden würde als der Schmutz, schließlich hatten sie ja ein flauschiges Fell. Wahrscheinlich aber wollte er Hannah aber nur beruhigen und sie auf das Unvermeidbare vorbereiten.
Nachdem sie mit der Arbeit fertig waren, ging Herr Kraus wieder nach Hause und Hannah genoss die Idylle mit den Hunden. Diese lagen im Wintergarten ausgestreckt auf ihren Decken und blinzelten Hannah zu, die Black im Arm hielt und ihm Geschichten von großen und starken Hunden erzählte, die sprechen konnten, viel klüger waren als manche Menschen und alle einen großen schwarzen Fleck am Hals hatten.
Obwohl der Kleine natürlich kein Wort verstand, gab ihm Hannahs Stimme ein Gefühl von Glück und Geborgenheit.
Sie hatte sich bereits von den Hunden verabschiedet, um den Heimweg anzutreten. Den kleinen Black hatte sie schon unter ihre Jacke geschoben, so dass ihm die winterlichen Temperaturen nichts anhaben konnten.
Als sie sich erheben wollte, erstarrte sie vor Schreck.
In der offenen Tür stand Herr Glotz und schnappte mit hochrotem Gesicht nach Luft. Er wollte losbrüllen, doch seine Stimme versagte.
Seine Hände zitterten und in seiner Wut knallte er die beiden Geweihe, die er in den Händen hielt, zu Boden. Diese zerbrachen in viele kleine Einzelstücke.
Als er seine Stimme wiederfand brüllte er: „Raus, raus, alles raus. Das ist kein Hundezwinger!“
Hannah verließ fluchtartig das Haus und lief nach Hause.
Sie drückte Black ihrer Mutter in den Arm und ließ sich mit hochrotem Gesicht auf der Couch nieder. Im gleichen Augenblick bimmelte die Glocke am Hoftor. Sie wurde aber übertönt von der schrillen Stimme von Herrn Glotz:
„Ich werde Euch alle anzeigen und Schadensersatz fordern, das ist Hausfriedensbruch und Hausbesetzung!“
Hannahs Vater verstand sofort, was geschehen war.
Er erhob sich von seinem Schreibtisch, bat die Mutter die Ruhe zu bewahren, dann lächelte er Hannah zu und ging zum Hoftor.
Sein Blick traf Herrn Glotz und das Gebrüll verstummte sofort.
Später erzählte Hannahs Mutter, dass sie ihren Mann so noch nie erlebt habe. Sie konnte das Gespräch nicht im Detail widergeben, da ihr Mann kein lauter Mensch war und auch bei seinen Vorlesungen ruhig und bedächtig sprach. Worte wie Tierquälerei, Verantwortung und Anstand konnte sie aber verstehen.
Nach dem kurzen Gespräch trollte sich Herr Glotz nach Hause, um sich bei seiner Frau stotternd auszuheulen. Diese hielt ihm wutentbrannt die kaputten Geweihe vor die Nase und fuhr ihn an: „Das viele Geld, alles futsch und nur vier Welpen im Stall zum Verkauf!“
Hannahs Vater betrat nach dieser deutlichen Unterredung wortlos das Wohnzimmer, so als hätte er nur seinen alltäglichen Spaziergang gemacht. Fast beiläufig sagte er: „Dieser Mensch wird uns nicht mehr belästigen“. Dann setzte er setzte sich an sein Klavier und spielte die Mondscheinsonate von Beethoven.
Plötzlich hielt er inne, denn der kleine Black, der seit einigen Tagen auf eigenen Beinchen begann die Wohnung zu erkunden, hatte sich am Schnürsenkel seines Schuhs zu schaffen gemacht. Er sah lange dem munteren Welpen zu und meinte dann nur: „Dieses kleine herrliche Geschöpf hat uns verdient und wir es auch.“
Anschließend fuhr er der alten Tara über den Kopf und fügte hinzu: „Gut, dass du jetzt bei uns lebst.“
Nach dem Abendessen besprach alle zusammen mögliche Strategien, um die beiden neuen Familienmitgliedern in ihren Alltag zu integrieren. Die Situation war recht kompliziert, aber die Familie hatte durch die Hunde wieder zusammengefunden.
Leider waren am folgenden Montag die Weihnachtsferien zu Ende. Für Hannah bedeutete das, für die folgende Zeit Leistungs- und Grundkurse über den ganzen Tag verteilt zu absolvieren, denn bis zur Abiturprüfung waren es nur noch wenige Monate und ein Tiermedizinstudium war leider ohne Abi nicht möglich.
Die letzten Schuljahre waren für sie nicht gerade einfach. Sie war schmächtiger als die meisten ihrer Klassenkameradinnen, die Jungs aus der Klasse beachteten sie kaum und als sie sich auf einer Klassenfahrt weigerte, abends mit den anderen“ Gras“ zu rauchen, wurde sie zuerst ignoriert und dann gemoppt.
Ihr Schulranzen wurde mit Fäkalien beschmiert und auf Facebook wurden über sie üble Stories verbreitet.
Sie wusste sich nicht zu helfen. Sie schwänzte die Schule und verbrachte den Vormittag am Rheinufer oder schlich sich bei Familie Glotz in den Garten, wenn sie sah, dass niemand zu Hause war. Sie saß stundenlang vor dem Zwinger und sprach mit den Hunden. Diesen konnte sie all ihre Sorgen anvertrauen.
Ihre Eltern waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um von den Schwierigkeiten ihrer Tochter etwas zu ahnen.
Als Herr Glotz sie das erste Mal an einem Vormittag bei den Hunden antraf, packte Hannah der Schreck und sie wollte davonlaufen.
Herr Glotz war aber recht freundlich, er grinste über das ganze Gesicht und hielt Hannah eine Schaufel hin und sagte: „Der Zwinger muss gereinigt werden, hier bist du willkommen. Ich schweige wie ein Grab.“
So verbrachte sie zwei Wochen lang die Vormittage bei den Hunden, ohne dass ihre Eltern etwas bemerkten. Als diese dann durch einen Brief des Rektors über Hannahs Schulverweis auf Grund des unentschuldigten Fehlens informiert wurden, suchten sie nach einem Ausweg.
Die Lösung hieß Privatschule mit Hausaufgabenbetreuung am Nachmittag. Hannah fügte sich dem Wunsch ihrer Eltern, doch auch der Besuch der neuen Schule gab Hannah ihre Lebensfreude nicht zurück.
Sie fühlte sich unwohl zwischen all diesen Mädchen, die sich stundenlang über Armani, Versace oder Gucci unterhalten konnten. Wenigstens wurde sie hier in Ruhe gelassen.
All das war für Hannah durch drei Wochen Ferien und ihre Freude mit dem kleinen Black in weite Ferne gerückt.
Doch jetzt musste sie sich wieder der Realität stellen.
Wer wird sich um den kleinen Black kümmern, wenn sie in der Schule ist?
Wird Herr Glotz seine Drohung, sie anzuzeigen, wahr machen?
Wird die alte Tara bei ihrer neuen Familie bleiben können?
Zwei Tage danach fand Hannah im Briefkasten ein Schreiben von Herrn Glotz. Aufgeregt ging sie mit dem Brief zu ihrem Vater, der mit Herrn Kraus im Wohnzimmer saß und über die Wiener Klassik fachsimpelte. Herr Kraus besuchte jetzt öfter die Familie und Hannahs Vater genoss die Gespräche mit diesem alten, aber weitgereisten und gebildeten Mann.
Nachdem der Vater den Brief, der voller Drohungen und Beleidigungen war, gelesen hatte, reichte er ihn stirnrunzelnd an Herrn Kraus weiter.
Dieser überflog die Zeilen, amüsierte sich zuerst einmal köstlich und beruhigte danach die Familie: „Kein Grund zur Aufregung. Dieses Schreiben stammt nicht vom Absender. Glotz ist zwar ein raffiniertes Kerlchen, aber zu solchen Formulierungen nicht fähig. Aber er versteht es Menschen für sich einzuspannen, denn er kennt die Grenzen seines Intellektes. Durch Heuchelei und Freundschaftsbekundungen wickelt er Menschen um den Finger. Ich kenne die Frau, die diesen Brief verfasst hat. Glotz hat ihr einen Hund aufgedreht und sie verehrt ihn. Sie hat in ihrem Beruf als Krankenschwester versagt, ist jetzt unglücklich und schlägt mit Worten um sich „um sich an der Welt zu rächen“. Deshalb verwickelt sie in ihrer Verzweiflung Menschen in einen irrwitzigen Briefwechsel. Das ganze Dorf weiß das, Glotz natürlich auch und benutzt sie. Es wäre ein großer Fehler zu antworten, denn es wäre der Anfang von einer irrsinnigen Korrespondenz“
Er zerknüllte den Brief und warf ihn in den Kamin.
Dann wandte er sich zu Hannah und er versicherte ihr mit Worten, die gar nicht zu diesem zurückhaltendem Mann passten, dass er sie seit langem im Stillen beobachte, dass sie etwas ganz Besonderes sei und dass er ihr Mitgefühl für die Tiere bewundere. Er bot seine Hilfe an und er versicherte Hannah, dass er sich um Black kümmern könnte, wenn „Not am Mann“ wäre.
Was Tara betrifft, meinte er nur, dass die Familie unbesorgt sein könnte, da Glotz ein berechnender Mensch sei und in Tara nur einen „Fresser“ sehe, der ihm keinen Profit bringe.
Bevor er sich verabschiedete sagte er noch zu Hannah:
„Mädchen, die Welt steht dir offen, kehre der kleinen Welt von Glotz Hinterhof den Rücken, du bist klug und zu mehr befähigt. Wenn du dein Abitur und dein Studium geschafft hast, wird man dich und deine Stimme für all die in Käfigen vergessenen Kreaturen ernst nehmen.“
Hannah und ihre Eltern saßen nach dem Besuch von Herrn Kraus lange sprachlos auf der Couch.
Tara war auch dabei und sie genoss die Stille. Sie lag regungslos zwischen Hannah und ihrem Vater. Wenn Hunde alt werden, haben sie all ihre positiven, aber auch negativen Erfahrungen in ihrem Gehirn gespeichert. Tara hatte gelernt, dass „unsichtbar sein“ der einzige Weg ist, als schwaches Glied einer Kette Schwierigkeiten zu umgehen. Eine Umstellung schien ihr auch in ihrem neuen behüteten Umfeld schwer zu fallen.
Das fordernde, übermütige Verhalten, das manche Setter, die schon als Welpen Teil einer menschlichen Familie waren, war ihr fremd.
Der kleine Black war in dieser Hinsicht anders. Er kannte nur Hände, die ihn streichelten und Menschen, die seine Freunde waren. Er beobachtete für eine kurze Zeit sein Umfeld.
Diese plötzliche ungewohnte Stille war dem kleinen und verwöhnten Kerlchen nicht geheuer, deshalb versuchte er durch ein herzzerreißendes „Heulkonzert“ auf sich aufmerksam zu machen.
Überrascht und begeistert wandte sich ihm die gesamte Familie zu und er hatte erreicht, was er wollte. Als er noch Hannahs Hausschuh klaute und davontrug, konnte er sich über ausreichend Beifall freuen. Das Eis war gebrochen und Hannahs Eltern widmeten sich vergnügt dem übermütigen Quälgeist, der im Zimmer herumtollte.
Nur Hannah blieb ruhig. Die Worte von Herrn Krause gingen ihr nicht aus dem Kopf. Später verzog sie sich in ihr Zimmer. Als ihr Vater später nach ihr sehen wollte, fand er sie auf dem Bett mit dem Biologiebuch in der Hand.
Am späten Abend hörte Hannah plötzlich Klaviermusik aus dem Wohnzimmer. Traurig nahm sie den kleinen Black in den Arm und flüsterte ihm zu: „Papa ist bestimmt allein und hat Sorgen, sonst würde er nicht so spät Klavier spielen, wir müssen nach ihm sehen.“
Auf der Hälfte der Treppe blieb sie wie angewurzelt stehen: Ihre Eltern saßen am Klavier und sie spielten vierhändig Beethovens „Für Elise“.
Hannah lächelte glücklich und zog sich mit Black wieder zurück.
Zeitraffer für Ereignisse des kommenden Jahres:
Hannah hatte ihr Abitur mit einem Schnitt von 2,1 bestanden und ab dem Frühjahrsemester ihr Tiermedizinstudium in Gießen begonnen.
Ihre Eltern durchstreiften mit der alten Tara mittags oft in Begleitung von Herrn Kraus die Rheinwiesen.
Abends traf man sie meist im Sommergarten eines italienischen Restaurants, wo für Tara immer eine Schüssel mit Wasser bereit stand.
Die Mutter fand des Öfteren einen Grund, die Frauenabende, die ihr vorher so wichtig waren, ausfallen zu lassen.
An ruhigen Abenden, wenn die Tür zum Garten offen stand, glaubte man den Gesang einer Frauenstimme zu hören, begleitet von den Klängen eines Klaviers.
Und trotz allem verspürten beide manchmal eine Wehmut, denn ihre Tochter fehlte ihnen sehr.
Und Glotz? Er blieb der Alte, denn obwohl nach Beschwerden der Nachbarn das Veterinäramt einige Male bei ihm auftauchte, züchtete er weiter im Hinterhof seine Hunde und blieb nach außen der „Saubermann“.
Dank seines Freundes aus dem Rathaus wurde er stets rechtzeitig vor jeder Kontrolle gewarnt. Das kostete ihn jedes Mal ein erlegtes Reh, denn auch Freundschaft gab es in diesem Umfeld nicht umsonst, aber das war es ihm wert, denn sein Züchtergeschäft florierte.
Der kleine Black wuchs in der Zwischenzeit zu einem stattlichen Studenten-Setter heran und obwohl Hunde im Studentenwohnheim nicht erlaubt waren, drückte der Hausmeister ein Auge zu und Black verbrachte die meiste Zeit bei Hannah in Gießen. An der gesamten Uni war er bekannt als der rote Hund mit dem schwarzen Punkt. Ob diese übermäßige „Popularität“ seiner Erziehung dienlich war, ist nicht genau zu beurteilen. Er entwickelte sich zum verwöhnten Mittelpunkt von Hannahs Kommilitonen und war für jeden Spaß zu haben.
Die jungen Leute rissen sich gerade um das Privileg ihn spazieren zu führen. In besonderer Gunst standen aber seine Gönner, die Fleischreste in der Mensa für ihn abstaubten.
An ihren freien Nachmittagen zog sich Hannah mit Black in die Felder, die an die Stadt angrenzten, zurück. Sie genossen die Stille, den Geruch der Wiesen und den Tanz der Schmetterlinge.
Oft trottete Black neben Hannah her oder er versuchte einen mürben Ast zu zerlegen. Wenn sich dann ein Stück Holz löste warf er es in die Luft, um es wieder aufzufangen. Von diesem Spiel konnte er nicht genug bekommen.
Manchmal aber blieb er urplötzlich wie angewurzelt stehen, den Hals weit nach vorne gestreckt, die Nase im Wind. Seine Nüstern saugten die Luft ein, er bewegte seine Lefzen, so als würde er die Gerüche kauen. Langsam schlich er in dieser Haltung nach vorne, um am Feldrand einer Statue gleich zu verharren.
Nach kurzer Zeit trollte sich dann ein Kaninchen davon oder ein Fasanenhahn, der sich gestört fühlte und den Eindringling von dem Nest seiner Henne weglocken wollte, bohrte sich mit einem schrillen Schrei in die Luft und flog davon. Oft war es auch nur eine vorwitzige Amsel, die Blacks Interesse erregte.
Durch Black lernte Hannah Teile der Natur kennen, die vielen Menschen leider zeitlebens verborgen bleiben.
Natürlich verbreiteten sich Blacks Fotos in einem rasanten Tempo in den sozialen Netzwerken. Die Begeisterung der User war groß.
Anfangs waren es nur Hannahs Kommilitonen, die ihrer Euphorie freien Lauf ließen, später erhielt Hannah Freundschaftsanfragen aus der gesamten „Hundewelt“. Dieser putzige Setter mit dem schwarzen Punkt und diese junge bescheidene Frau hatten es allen angetan.
Black musste nur einmal mit der Rute wedeln und schon „regnete“ es tausendfach: „Gefällt mir“.
Hannah fühlte sich geschmeichelt, sie und ihr roter Liebling standen im Mittelpunkt einer Welt, die für sie neu war.
Wenn sie aber abends endlich in ihrem Zimmer allein war, dachte sie an die ruhigen Tage mit dem kleinen Black bei ihr zu Hause in ihrem Mansardenzimmer. Oft fielen ihr aber auch die unglücklichen Hunde im Zwinger im Hinterhof der Familie Glotz ein und Tränen kullerten über ihre Wangen.
Bald aber wurde die Geschichte des Mädchens, das einen kleinen hilflosen Welpen gerettet hatte, von verschiedenen Gruppierungen aufgegriffen und zu eigenen Zwecken eingesetzt.
Überrascht las Hannah auf ihrem Smartphone die Nachricht einer Gruppe, die sich „Hundepiraten“ nannte. Sie klickte die Homepage der Gruppe an:
Schon auf der ersten Seite stachen ihr die Fotos ihres Lieblings Black ins Auge.
Die lobenden Worte über seine Rettung taten ihr gut. Es folgten Artikel über Anprangerung der Zwingerhaltung, Berichte über verwahrloste Straßenhunde im Süden, Fotos über Zuchtstationen mit erbärmlichen Welpen. Erinnerungen an ihren Nachbarn Glotz kamen auf. All das, was sie hier las, war ihre Wellenlänge und so entschloss sie sich, die Gruppe zu kontaktieren.
Prompt folgte eine Einladung zu einem Treffen in Frankfurt.
Hannah war etwas verwundert darüber, dass der Treffpunkt erst eine Stunde vor Beginn bekanntgegeben werden sollte, die Vorstellung aber, viele Menschen, die ihre Leidenschaft teilten, zu treffen, ließ sie alle Zweifel über Bord zu werfen und sie war bereit an besagtem Abend mit Black nach Frankfurt zu fahren.
Über eine WhatsApp-Nachricht erfuhr sie während der Fahrt, dass der Treffpunkt eine Raststätte auf der A5 Richtung Heidelberg sei.
Sie fand die Raststätte ohne große Schwierigkeiten und traf auf eine Gruppe junger Menschen, die um einen Holztisch versammelt war und eifrig diskutierte. Auf der angrenzenden Wiese lagen einzelne Hunde. Als sich Hannah mit Black näherte, verstummte die Unterredung. Hannah wurde etwas skeptisch beäugt, Black fand keinerlei Beachtung und er begann aus Verlegenheit an einem Stock zu knabbern.
Doch plötzlich näherte sich eine junge schlanke Frau den beiden, sie hatte Hannah von den Fotos aus den sozialen Netzwerken erkannt:
„Das ist Hannah, die Welpenretterin und ich bin Sara“ rief sie laut und plötzlich wurde Hannah von allen begrüßt. Der Superstar Black litt aber noch immer unter der Missachtung dieser Menschen, das war er so gar nicht gewohnt und er begann zu quengeln und zu fiepen. Doch es änderte nichts an dem Verhalten dieser geschäftigen Menschen.
Sara zog Hannah zur Seite und fragte sie fast beschwörend: „Du bist doch eine von uns? Heute geht es um etwas Großes.“ Als Hannah die Frage bejahte, wurde sie eingeweiht:
Aus einem Versuchslabor in der Nähe sollten an diesem Abend drei Setter befreit werden und hier wollten sie die letzten Vorbereitungen getroffen werden.
„Setter und Versuchslabor“, Hannah war nicht mehr in der Lage klar zu denken. Und ihr fielen sofort die Zwingerhunde von Glotz ein. „Nur noch viel schlimmer“, dachte sie und war zu allem bereit, obwohl sie wusste, dass ihr diese verschwörerische Atmosphäre wenig behagte und auch was diese jungen Leute betraf, sprang zu ihr kein Funke über. Sie waren alle sehr verschlossen, Freundlichkeit war nicht gerade ihre Stärke.
Bei klarem Verstand hätte sie einiges an dieser Aktion hinterfragt:
Sind Tierversuche an Hunden in Deutschland nicht schon gesetzlich verboten?
Wieso gerade drei Setter in diesem Versuchslabor?
Zum Überlegen blieb keine Zeit. Als Neuzugang wurde sie zum „Schmierestehen“ eingeteilt. Scheinbar genoss sie noch nicht ganz das Vertrauen einzelner Aktivisten und so sollte sie vorerst mal einem Test unterzogen werden.
Angeblich war ab zehn Uhr abends nur noch der Hausmeister auf dem Gelände anwesend und der wohnte in der ersten Etage. Die Hunde befanden sich aber im Erdgeschoss.
Hannah sollte die anderen, die mit Bolzenschneider und Brechstangen ausgerüstet waren, warnen, wenn in der unteren Etage eventuell die Beleuchtung eingeschaltet werden würde.
Also fuhren sie los und Black vermisste noch immer jede Art von Zuwendung. Die anderen Hunde wurden auch in die Fahrzeuge verfrachtet, ohne dass Black sich in der üblichen Hundeart durch Beschnuppern nach ihrem Befinden erkundigen konnte.
Die Befreiungsaktion verlief reibungslos, da die Türen der unteren Etage nicht einmal richtig verschlossen waren. Lautlos wurden die Hunde ins Freie geführt und in die Fahrzeuge verfrachtet, die in einer angrenzenden Baumallee geparkt waren.
Per WhatsApp wurde die geglückte Aktion als beendet erklärt und der „Einsatzleiter“ wünschte allen Teilnehmern eine gute Heimfahrt.
Hannah war verblüfft: Und was geschah mit den Settern? Wer würde sich um die Tiere kümmern?
Sie hätte sich wenigstens gewünscht, sie einmal streicheln zu können und vielleicht zu sehen, ob Black sie in typischer Setterart, das bedeutet mit hochgezogenen Ohren begrüßen würde. Nichts, gar nichts.
Enttäuscht wendete sie den Wagen in einer Seitenstraße und machte sie sich auf den Heimweg Richtung Autobahn.
Jetzt war das Gebäude hell beleuchtet. Im Vorbeifahren sah sie einen Mann, wahrscheinlich den Hausmeister, der verzweifelt auf und ab rannte.
Was sie aber umso mehr beunruhigte war das blanke beleuchtete Messingschild: „Versuchsstation Astrophysik“
Also kein Tierversuchslabor?
Eine Anzeige in der Frankfurter Rundschau in den folgenden Tagen brachte für Hannah Gewissheit:
-------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- Belohnung für das Zurückbringen meiner drei Hunde (Setter)
Bedingt durch eine Vorlesungsreihe in den USA habe ich dem Hausmeister des Labors für Astrophysik meine Hunde zur Pflege überlassen. Sie wurden Montagnacht entwendet. Zahle jede Belohnung für das Zurückbringen meiner Tiere. Bitte behandelt sie gut. Prof. Dr. Helm
--------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
Hannah war verzweifelt. Sie versuchte Sara anzurufen. Vergebens, angeblich war ihre Nummer nicht mehr vergeben. Sie versuchte die Homepage der Hundepiraten zu kontaktieren. Sie war abgeschaltet.
Hannah war traurig und hilflos. Sie war entweder auf Fanatiker oder einfach auf Tierdiebe hereingefallen.
Letzteres schien eher der Fall zu sein, denn zwei Wochen später berichtete die FAZ, dass Prof. Helm nach Entrichtung eines stattlichen Betrags auf ein anonymes Konto in der Schweiz wieder in Besitz seiner Hunde sei. Ein Foto zeigte einen gutmütigen Mann mit grauem Schnurbart mit drei Settern an der Leine.
Hannah atmete auf, doch das schlechte Gewissen blieb.
Die nächsten Wochen vertiefte sich Hannah in ihr Studium. Sie besuchte neben den Regelvorlesungen auch fakultative Gastveranstaltungen und nahm an allen möglichen Praktika teil.
Sie hatte an der Uni auch eine Freundin gefunden. Sie hieß Maren und hatte eine kleine Setterhündin, Stella, die aus einer behüteten Familienzucht aus dem Lippetal stammte.
Die Kleine war eine richtige Hexe, die vor nichts zurückschreckte und wie Maren ihr berichtete, hatte sie die ersten zehn Wochen in einer „heilen“ Welt mit viel menschlicher Zuneigung verbracht.
An den Wochenenden fuhr Hannah zu ihren Eltern. Sie genoss die Spaziergänge mit den beiden und hatte allerlei „fachliche“ Ratschläge bereit, wie man die aufkommende Arthrose der alten Tara therapieren könnte.
Manchmal, wenn ihre Eltern beim Einkaufen waren, saß sie im Garten, Black lag neben ihr im Rasen, doch ihr Blick war auf das Nachbarhaus gerichtet. Familie Glotz hatte ihrem Haus einen neuen weißen Anstrich verpasst und das Zaungitter ebenfalls weiß gestrichen, doch das interessierte Hannah wenig. Ihr gingen die Hunde durch den Kopf.
Wie es ihnen wohl geht, fragte sie sich. Doch sie wusste die Antwort bereits oder sie konnte sie zwischen den Zeilen der spärlichen Informationen, die ihr durch Herrn Kraus zu Teil wurden, herauslesen. Dieser sagte nur, es sei alles beim Alten und das hieß nichts Gutes.
Als Hannah an einem Wochenende verhindert war, nach Hause zu fahren, da ein Praktikum in der Tierklinik durch einen Notfall den ganzen Samstagnachmittag in Anspruch nahm, überraschte sie Maren mit einem Vorschlag:
In der Nähe von Gießen sollte am Sonntag ein Setter-Symposium stattfinden. Hannah konnte mit diesem Begriff wenig anfangen, aber wenn es um Hunde ging, war sie selbstverständlich leicht zu begeistern und so beschlossen die beiden jungen Frauen zusammen mit Black und Stella die Veranstaltung zu besuchen.
Als sie eintrafen, war das Geschehen in vollem Gange. In einem Saal an einem Tisch auf der Empore saßen einige honorige Damen und Herren und hielten Reden. Ein grauhaariger Mann trug die grüne Paradeuniform des Försters aus dem Silberwald, ein anderer Herr hatte einige Auszeichnungen an seinem Revers, schien aber an dem ganzen Geschehen wenig Interesse zu haben, denn er schrieb fleißig SMS. Ein „bunter Vogel“ in Clowns-Montur war noch von der scheinbar vorangegangenen Debatte so erregt, dass ihm die Tränen über die Wangen liefen. Eine behäbige Frau war gerade dabei, einen Vortrag über Vererbung zu halten. Hannah, die schon durch ihr Studium an diesem Thema interessiert war, hörte aufmerksam zu und als die Frau einige Male die Formulierungen „monogam und polygam“ verwendete, wagte sie die Rednerin zu korrigieren: „Sie haben sich bestimmt versprochen, sie wollten bestimmt „monogen und polygen“ sagen“. Das war zu viel des Guten. Ab diesem Zeitpunkt wurden die beiden jungen Frauen ignoriert.
Sie ließen dennoch Diskussionen über mangelnde Vorstehanlagen und zu wenig Raubzeugschärfe, Zuchtverstöße sowie Mitgliederausschlüsse über sich ergehen, ohne deren Sinn zu verstehen und hörten sich zusätzlich noch einen Schlagabtausch über unterschlagene Finanzen an. All das geschah in der Hoffnung, dass es endlich um Hunde gehen würde, denn dafür waren beide ja angereist.
Black begann so langsam zu quengeln und Stella forderte einen jungen Rüden, der am Tischbein angeleint war, zum Spielen auf.
Und die beiden jungen Frauen warteten immer noch, dass endlich das Besondere und Liebenswerte dieser Hunde in den Fokus der Diskussionen gestellt werden würde. Vergebens.
Maren platzte so langsam der Kragen. Sie machte laut den Vorschlag, dass alle Anwesenden ihre Hunde aus den Fahrzeugen auf dem Parkplatz ausladen und man zu einem gemeinsamen Spaziergang aufbrechen sollte. Dieser Einwurf wurde einfach überhört und die Honoratioren fuhren mit dem Gezeter fort.
Auf dem Tisch lagen Hefte mit ansprechenden Welpenbildern. Hannah begann zu blättern und erfreute sich an den putzigen kleinen Köpfchen mit den schwarzen Näschen und neugierigen Blicken der Kleinen. Erinnerungen kamen hoch und sie strich Black sanft über den Kopf.
Doch plötzlich hielt sie inne, sie traute ihren Augen nicht. Eine ganzseitige Anzeige wirkte für sie wie ein Schlag ins Gesicht:
Herr Glotz im Lodenjanker mit einem Welpen auf dem Arm und Tara an der Leine. Bildbeschriftung: Alt oder Jung. Wir lieben unsere Hunde auf ewig.
Hannah knallte das Heft auf den Tisch und verließ mit Black den Raum. Stella und Maren folgten ihr.
Auf dem Parkplatz holte sie der traurige Papagei vom Rednerpult ein und machte ihnen in einem scharfen Ton klar, dass dieses Verhalten das nächste Mal nicht toleriert werden würde und versöhnlich fügte er, in dem er Hannah ansah, hinzu: „Dieser schwarze Fleck ist eine Beleidigung der Rasse, lassen sie ihn wegmachen. Dafür gibt es Spezialisten. Es dürfte nicht komplizierter sein, als einen Zahn zurechtzurücken, einen Silikonhoden einzupflanzen oder Kehlhaut zu entfernen.“
Da vielleicht auch Kinder diese Geschichte lesen könnten, möchte ich ihnen Hannahs eindeutige Geste, mit welcher sie diesen Vorschlag „quittierte“, vorenthalten.
Auf der Rückfahrt saßen Hannah und Maren lange schweigend nebeneinander im Auto. Black und Stella balgten sich auf dem Rücksitz.
An einer Raststätte tranken sie schweigend einen Kaffee. Hannah fand als erste ihre Sprache wieder:
„Ist Dir eigentlich aufgefallen, dass wir beide die einzigen jungen Menschen in diesem Raum waren?“, sagte sie zu Maren. Diese meinte, dass dies nicht verwunderlich sei, denn wer in ihrem Alter ließe sich einfach so kontrollieren, reglementieren oder Vorgaben machen.
Die Zucht mit Hunden, die man liebt, sei eine Herzenssache, für die man Verantwortung tragen müsse, für die man aber solchen Menschen gegenüber keine Rechenschaft ablegen muss.
Sie fügte noch hinzu, dass Gemeinschaften heute manchmal schon oberflächlich seien, besonders wenn es um Social Media ginge. Aber wenigstens habe man die Möglichkeit, unerwünschte Kontakte durch einen Mausklick zu löschen. Dieses Theater aber, das sie beide erlebt hatten, passe nicht mehr in unsere Zeit.
Auch meinte sie, dass wenn sie nach ihrem Studium sich von Stella Nachwuchs wünschen würde, sie keinen zweifelhaften Berater brauchen würde und dass sie hoffe, mit Hannahs Unterstützung rechnen zu können.
Und zwinkernd fügte sie nach hinten blickend hinzu: „Über den Rüden muss ich mir keine Gedanken machen, ich glaube die beiden üben schon.“
Hannah erwiderte noch, dass sie hoffe, dass alle Welpen einen schwarzen Fleck hätten.
Über diesen Gedanken amüsierten sich beide köstlich und am Abend bei einem Glas Wein in der Innenstadt hatten sie ihre gute Laune wiedergefunden.
Hannah war durch ihre Liebe und Fürsorge für dieses wunderbare Geschöpf Hund stets begeistert, wenn sie Menschen traf, die ihre Leidenschaft teilten. Nach der vermeintlichen Rettungsaktion und dem Reinfall bei dieser Veranstaltung, kam sie aber ins Grübeln und sie nahm sich vor mit Fremden etwas mehr Vorsicht walten zu lassen, selbst wenn diese einen Hund an der Leine hatten.
Wenn sie bei ihren Spaziergängen Menschen mit Hunden traf, hörte sie sich dennoch die Geschichten der Hundebesitzer an und häufig offenbarten sich Schicksale, die sie nachdenklich stimmten. Viele der Hunde stammten aus Rumänien, Ungarn, Spanien oder Italien. Hannah konnte sich oft des Eindrucks nicht erwehren, dass sie, obwohl sie mit der Rute wedelten, einen traurigen Blick hatten.
Gut, dass es Maren und Stella gab. Beide Frauen konnten sich oft ohne zu sprechen an dem Spiel von Stella und Black ergötzen.
Wenn sich beide dann erschöpft zu ihren Füßen niederwarfen, wussten sie, dass es Zeit war, das Skript einer Vorlesung durchzuarbeiten.
Für den Leser könnte versehentlich der Eindruck entstehen, dass sich in Hannahs Leben alles um Studium und Setter drehte. Weit gefehlt. Hannah und Maren waren oft in den Studentenkneipen der Stadt inmitten vieler junger Leute anzutreffen. Für Black und Stella stand stets eine Schüssel mit Wasser unter dem Tisch und beide freuten sich über viele streichelnde Hände. Manchmal hatte es den Anschein, dass die hier eine junge Tierarztgeneration für ganz Europa sich verabredet hatte.
An einem Samstagabend ging es hier hoch her. Eine spanische Studentin Maria feierte ihren Examensabschluss und gleichzeitig ihren Abschied, denn sie wurde bereits auf dem Gestüt ihres Vaters in Andalusien erwartet, da der alte örtliche Tierarzt, der die Pferde betreute, in Rente ging.
Maria nahm Black, an dem sie einen Narren gefressen hatte, in den Arm und sagte: „Du bist schön wie ein stolzer Araber und du hast die gütigen Augen meines ersten Reitpferdes, auf dessen Rücken ich schon saß, bevor ich laufen konnte und jetzt werde ich dich vielleicht nie mehr sehen.“ Sie drückte Black, der ihre Worte wahrscheinlich verstand, aber ganz sicher ihre Zuneigung spürte, einen Kuss auf die Schnauze.
Für einen Augenblick waren alle still, denn die ausgelassene Stimmung schien der Trauer über den Abschied zu weichen.
Doch dann ergriff Maria ihr Glas, blickte in die Runde und rief: „Ich lade euch alle im Sommer zu meiner Verlobung nach Spanien ein, ihr alle sollt meine Gäste sein. Wir haben Platz genug und Stella und Black werden sich mit den English Settern meines Vaters sicherlich hervorragend vertragen. Ihr müsst mir versprechen zu kommen.“
Alle hoben die Gläser und prosteten Maria zu.
Hannah und Maren fanden auch in den kommenden Tagen, als die Feierstimmung verflogen war und der Studienalltag die beiden wieder eingeholt hatte, die Idee, Maria in Spanien zu besuchen, weiterhin gut und sie begannen Pläne zu schmieden.
Vorerst aber stand Ostern vor der Tür und Hannah hatte ihren Eltern versprochen, das Osterwochenende zu Hause zu verbringen.
Sie konnte zwar dieser religiösen Tradition wenig abgewinnen, denn die Kreuzigungsgeschichte machte sie als Kind schon traurig. Aber die im Garten versteckten bunten Eier zu suchen, war immer ein Heidenspaß und ihr Vater war stets darauf erpicht, diese so gut wie möglich zu verstecken.
Viele Kinder der kleinen Gemeinde beteiligten sich an dem Ostereier-Wettessen, das Herr Glotz jedes Jahr in seinem Garten veranstaltete. Überall hingen bunte Girlanden und im Wintergarten standen bunte Blumengestecke. Die Gitterstäbe der Hundezwinger wurden mit grünen Plastikplanen zugehängt, um angeblich die Tiere nicht zu beunruhigen. In Wirklichkeit wollte man den Nachbarn aber keinen Einblick in diese tristen Räume gewähren.
Hannah nahm als Kind nur einmal an diesem Spektakel, das häufig mit Bauchweh für die Beteiligten endete, teil. Sie konnte der Sache auch keinen Reiz abgewinnen und schob heimlich die gekochten Eier, nachdem sie sie geschält hatte, an der Plane vorbei durch die Gitterstäbe den Hunden zu.
In diesem Jahr wurde im Garten von Hannahs Elternhaus die Suchzeremonie etwas abgewandelt. Versteckt waren Kauknochen im Rasen und Black und Tara hatten keine Mühe sie alle problemlos zu finden. Wie gerne hätte sie auch einige Kauknochen an die Zwingerhunde von nebenan verteilt, doch dies war nach der Konfrontation mit Herrn Glotz nicht mehr möglich.
Also nahm sie am späten Vormittag Black an die Leine und streifte durch die Felder. Die Obstwiesen standen in voller Blütenpracht und die Weizenfelder waren ein Meer von sattem Grün.
Sie ließ sich mit Black auf einem vertrockneten Stamm unter einer alten Weide nieder. Der Boden war mit abgefallenen Weidenkätzchen bedeckt und die Äste, die bis zum Boden hingen, trieben die ersten zarten Blätter.
Hannah genoss die Ruhe und sie wäre fast eingenickt, wenn Black nicht plötzlich vorsichtig seinen Platz an ihrer Seite verlassen und sich katzenartig in Richtung Feld bewegt hätte.
Von ihrem Versteck sah Hannah mitten im Feld einen Hasen, der auf seine Hinterbeine gestützt neugierig zu ihnen rüber sah. Nichts geschah.
Black stand regungslos und der Hase verharrte in seiner Position.
Als Black sich vorsichtig nach vorne bewegte, wurde es dem Hasen mulmig, er schlug einige Haken und suchte das Weite. Black hätte ihn wahrscheinlich gerne „begleitet“, doch Hannah mahnte ihn zur Ruhe: „Du wirst doch nicht den einzigen wirklichen Osterhasen, der uns einen Besuch abstattete, verscheuchen, oder?“
Black verstand und blieb an ihrer Seite und Hannah genoss ihr Ostererlebnis.
Mit Beginn der Semesterferien war es so weit. Hannah und Maren waren dabei ihre Reisepläne in die Tat umzusetzen. Das Wochenende vor der Abreise verbrachten sie bei Hannahs Eltern in Süddeutschland.
Natürlich mussten sie die gut gemeinten Ratschläge, die verknüpft waren mit vielen Geschichten und Erinnerungen, über sich ergehen lassen. Besonders Hannahs Vater, der durch seine Gastvorträge die europäischen Metropolen sehr gut kannte, war nicht zu bremsen. Am folgenden Montagmorgen ging es dann los - mit dem PKW über die Schweiz nach Frankreich und dann weiter nach Spanien. Alles war so terminiert, dass sie rechtzeitig zu Marias Verlobung ankommen würden.
Die Reiseroute war genau festgelegt: Zürich – Luzern-Vierwaldstätter See, Gotthard dann über Berner Alpen zum Mont Blanc, weiter nach Frankreich über Grenoble, Montpellier, weiter nach Barcelona, Valencia, Murcia und Granada zum Landsitz von Marias Eltern in der Nähe von Ronda.
Das Gepäck war im Kofferraum gestapelt, denn auf dem Rücksitz des Autos war für Stella und Black ein bequemes Bett gerichtet. Natürlich lagen auch alle Assessoires zum Anschnallen bereit, denn man wollte auch für die Sicherheit der beiden Vierbeiner Sorge tragen.
Eine lange Reise stand den beiden jungen Frauen bevor und wer gedacht hätte, dass in letzter Minute Bedenken aufkommen würden, wurde eines Besseren belehrt, denn beide waren fest entschlossen ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen und ihre Begeisterung war grenzenlos.
Die erste Übernachtung war in Luzern am Vierwaldstätter See geplant, doch hier gab es bereits die erste Überraschung als sie die Empfangshalle des Hotels betraten und die Dame an der Rezeption ihnen mitteilte, dass Hunde in ihrem Haus nicht erlaubt seien.
Die beiden Setter aber alleine über Nacht im Auto zu lassen, kam für die beiden Frauen überhaupt nicht in Frage, also verließen sie ziemlich empört das Hotel und fuhren zum See, um in Ruhe zu beratschlagen und um die Hunde nach der langen Fahrt einmal richtig toben zu lassen.
Doch weit verfehlt, denn überall gab es rot umrandete Schilder mit einem schwarzen Schäferhundekopf: „Hunde verboten“. So hatten sie es sich nicht vorgestellt. Ratlos saßen sie auf einer Bank, als sich ihnen eine Frau auf der Promenade mit einem Setter an der Leine näherte( Später erfuhren die beiden, dass der Setter eine Hündin mit dem klangvollen Namen Mela war).
Maren sprach die Dame an und fragte sie um Rat, ob sie vielleicht wisse, wo es hier Hotels gäbe, die auch Hunde akzeptieren würden.
Die Frau lächelte und sagte: „Natürlich gibt es welche und ich kenne ein nettes Gasthaus, dessen Besitzer ein ausgesprochener Hundeliebhaber ist, soll ich für Euch anrufen?“
Die beiden Frauen freuten sich über das Angebot und in kurzer Zeit hatte die Frau für die beiden ein Zimmer reserviert. Jetzt ging es ihnen schon wesentlich besser.
In der Zwischenzeit hatten sich Stella und Black mit Mela angefreundet. Besonders Black war von der schönen Mela angetan. Diese fand ihn scheinbar auch gut, denn ihre Zunge strich liebevoll von Zeit zu Zeit über den schwarzen Fleck am Hals von Black. Die Frau meinte, dass Mela diesen wohl für etwas Besonderes hielt, da bei allen anderen Setter, die sie kannte, dieses schwarze „Tüpfelchen auf dem I“ fehlte.
Später fuhren sie mit Melas Besitzerin zu einer Wiese, die etwas außerhalb am See lag und die drei Setter konnten dort richtig toben. Jetzt war besonders Stella in ihrem Element, die sich vorher von Black etwas vernachlässigt fühlte.
Nachdem sich Hannah und Maren von der Schweizer Dame verabschiedet hatten und man zuvor die Handynummern ausgetauscht hatte, fuhren die beiden in das Hotel und sie wurden freundlich empfangen.
Am Abend fanden sie in der Altstadt ein gemütliches Lokal, doch an ein ausgiebiges Menü war nicht zu denken, da die beiden Studentinnen von den Schweizer Preisen doch etwas überrascht waren.
Sie bestellten, wie sie es auch in Gießen gewohnt waren, eine Bratwurst und ein Glas Wein.
Ein freundlicher Kellner brachte für die Hunde eine Schale mit Wasser und er fragte höflich, ob er für die „Gäste unter dem Tisch“ auch einen Happen bringen dürfte, da man den beiden ja nicht zumuten könnte, dass sie zum Zugucken verurteilt wären.
Hannah und Maren bedankten sich, denn sie fanden die Idee gut. Angenehm überrascht waren sie dennoch, als sie sahen, dass er für Stella und Black die gleiche gebratene Rindswurst brachte, die sie auf ihren Tellern hatten, natürlich kostenlos.
Darüber amüsierten sich die beiden, obwohl sie sich nichts anmerken ließen. Sie versprachen dem charmanten Kellner auf ihrer Rückreise aus Spanien hier wieder einzukehren. Den Affront im ersten Hotel konnten sie bei diesem Ausklang problemlos wegstecken und Luzern wird ihnen in guter
Am nächsten Tag fuhren Hannah und Maren weiter. Hannah hatte sich in den Kopf gesetzt, auf dieser Reise unbedingt einen Abstecher zum St. Gotthard-Pass zu machen. Deshalb buchten sie rechtzeitig den Autozug von Andermatt nach Brig, um danach über das Rhonetal nach Grenoble zu fahren.
Vor dem Gotthard-Pass verließen sie die Autobahn und fuhren die Passstraße hoch.
Wie oft hatte ihr Vater die Geschichte von der Schneeballschlacht mit seiner dreijährigen Tochter mitten im Sommer auf dem Gotthard erzählt und Hannah hatte stets bezweifelt, dass es im Hochsommer in den Alpen überhaupt Schnee gab. Jetzt wollte sie sich selbst überzeugen. An einem schattigen Hang gab es wirklich Schneereste und Black und Stella jagten voller Begeisterung den Schneebällen hinterher. Für Hannahs Vater gab es natürlich ein kurzes Handyvideo. Am späten Nachmittag kehrten sie in ihre kleine Pension in der Nähe von Andermatt zurück.
Am nächsten Abend kamen sie in Grenoble an und sie waren froh nach einigen Versuchen eine Übernachtung gefunden zu haben.
Am darauf folgenden Morgen fuhren sie rechtzeitig los, denn beide wollten sich unbedingt in Südfrankreich noch einen kurzen Abstecher zum Meer gönnen.
Kurz vor Montpellier verließen sie die Autobahn und eine halbe Stunde später hielten sie an einem herrlichen Sandstrand. Meer und Sand soweit das Auge reicht und in der Ferne die fremdartig anmutenden Silhouetten einer futuristischen Stadt.
Black und Stella lieferten sich ein Wettrennen im heißen Sand und anschließend gruben sie sich hinter einer Sanddüne in die weiche Erde, um etwas Kühlung zu finden.
Immer wieder kamen freundliche Menschen vorbei, wenn sie die beiden Setter sahen und baten, die beiden Hunde einmal streicheln zu dürfen, da sie ja so hübsch wären.
Hannah und Maren waren von dieser charmanten französischen Hundeliebe begeistert: „So tierlieb sollten mal die Deutschen sein“, polterte Maren los.
Beide saßen auf einem verlassenen Boot, das durch Wind und Sonne ausgebleicht und halb von Sand bedeckt war und sahen ohne zu sprechen dem Treiben der Brandung zu. Riesige Wellen, die sich in der Ferne aufstülpten und je näher sie zum Strand kamen zahmer wurden, um langsam im Sand in einem kleinen Rinnsal zu versickern.
Einzelne Fischer hatten ihre Angelruten ausgeworfen. Sie saßen im Sand neben ihren riesigen Angelstöcken und dösten vor sich hin. Der Fang schien ihnen auch nicht besonders wichtig zu sein. Wahrscheinlich hätte ein plötzliches Reißen an der Angelschnur sie nur aus ihrer verträumten Lethargie gerissen.
Ein großer alter Hund saß regungslos, wie in Stein gemeißelt, im feuchten Sand. Sein Blick war unentwegt auf das Wasser gerichtet. Er wollte scheinbar den Mann, der weit draußen schwamm, nicht aus den Augen verlieren.
Als der „Schwimmer“ zum Strand zurückkam, erhob sich auch der Hund und vollführte einen lautstarken Freudentanz um seinen Besitzer.
Black und Stella wollten sich den Spaß nicht entgehen lassen und sie gesellten sich dazu. Darüber war der alte Rüde in seiner plötzlichen Euphorie nicht sehr erfreut, denn jedes Mal, wenn die beiden dem jungen Mann zu nahe kamen, wies er sie kläffend zurecht.
Hannah und Maren versuchten die beiden spielwütigen Setter zurückpfeifen, doch der Mann entschuldigte sich für seinen Hund und als er merkte, dass die beiden jungen Frauen Deutsche sind, erzählte er in einem Deutsch mit dem charmanten französischen Akzent die traurige Geschichte seines vierbeinigen Freundes .
Der Hund wolle ihn nur verteidigen und beschützen und dass er nicht zum Spielen mit anderen Hunden zu begeistern sei, läge auch an seinem Alter, aber hauptsächlich an seinen Verletzungen.
Der junge Mann berichtete, dass er den Hund aus einer Tötungsstation gerettet habe.
Dieser habe scheinbar bei einer Jagd eine Schrotsalve voll abbekommen, so dass er an einem Auge erblindet sei und sein ganzer Körper mit Schrotkugeln, die in die Haut eingewachsen waren, übersät war. Da er für die Jagd nicht mehr zu gebrauchen war, wurde er auf einer Autobahnraststätte angeleint. In Frankreich ist es gesetzlich erlaubt, eingefangene oder aufgefundene Tiere nach Ablauf von zehn Tagen einzuschläfern, wenn sich kein Besitzer findet.
Besonders auf dem Land vermehren sich Hunde oft unkontrolliert. Sie landen dann in den "fourrières", den Auffang- und Tötungsstationen, in denen dann nach Ablauf der gesetzlichen Frist die Tiere getötet oder an ein Tierheim weiter gegeben werden dürfen.
Tierheime sind aber nur an gesunden jungen Tieren interessiert, die sich eventuell vermitteln lassen, da sie die Kosten für das Tier selber tragen müssen.
In Frankreich geschieht das nicht selten mit Jagdhunden oder Jagdhundmischlingen, meinte der junge Mann, da Jagd hier ein beliebter Freizeitsport sei und der Stellenwert eines Jagdhundes an seiner Leistung gemessen wird.
Hannah war den Tränen nahe und Maren streichelte aus verzweifelter Ratlosigkeit Stella immer wieder über den Kopf.
Sie dachte nur, wie könne das in einem Land mit so vielen tierlieben Menschen, die besonders für Hunde so viel Zuwendung zeigen, überhaupt möglich sein?
Der junge Franzose sah die Ergriffenheit beider Frauen und er versuchte das Thema zu wechseln:
„Mein Opa hatte auch zwei Setter, aber keiner hatte solch einen speziellen schwarzen Punkt am Hals, das ist Individualität. Nur im Kommunismus oder vielleicht zur Zeit der französischen Revolution war alles gleich“, meinte er spaßhaft, vielleicht auch nur von diesem traurigen Thema abzulenken.
Der alte Hund hatte sich während des Gesprächs auch schon mit den Settermädchen angefreundet, da er merkte, dass sie ihm seinen Besitzer nicht ausspannen wollen.
Anschließend tranken sie noch zusammen einen Pastis an der Strandbar und der junge Mann versicherte den beiden immer wieder, dass er die schlimme Geschichte seines Hundes ad acta gelegt habe, da das Heute und Jetzt zähle und er und sein Hund das perfekte Paar wären.
Zum Abschied tauschte man die Handynummern, es gab es noch die hier typischen Küsschen und Hannah und Maren machten sich auf den Weg zum Hotel.
Nach dem Abendessen auf der Terrasse des Jugendhotels saßen beide schweigend und verfolgten die glutrote Sonne, die immer tiefer wurde, bevor sie mit einem letzten Aufbäumen im Meer verschwand. Der alte Hund und sein furchtbares Schicksal aber ließ sie noch lange nicht los.
Am nächsten Morgen, kurz bevor die beiden Frauen losfahren wollten, klingelte Hannahs Handy. Der junge Franzose mit dem alten Hund, der übrigens Pierre hieß, erkundigte sich nach dem Befinden der beiden „deutschen Mademoiselles“ und bot ihnen ganz spontan an, ihnen die Camargue zu zeigen: „Dieses einzigartige Stück Erde kann man nicht einfach so „traversieren“, man muss es spüren und fühlen“, meinte er.
Natürlich willigten die beiden Frauen ein.
Sie verabredeten sich mit Pierre zu einem Frühstück in Aigues Mortes, dieser mittelalterlichen, Kreuzfahrerstadt mit quadratischem Grundriss und einer beeindruckenden vollständig erhaltenen Stadtmauer, schmucken Gässchen und dem Tour de Constance mit seiner gruseligen wechselvollen Geschichte.
Pierre konnte mit Mühe einen Tisch auf dem Place St. Louis, nach dem Kreuzfahrerkönig benannt, ergattern, denn in dem schmucken Städtchen war die Hölle los. Es fand mal wieder, wie so oft, ein Stiertreiben für die zahlreichen Touristen statt. Junge Männer auf stolzen weißen Pferden trieben einige schwarze Camargue-Stiere durch die Straßen der Stadt. Jeder Vergleich mit der Hysterie von Pamplona wäre falsch, denn die Musterstiere kannten scheinbar ihren Weg und sie machten das Spiel, das für sie wahrscheinlich auch Abwechslung vom langweiligen „Weidealltag“ war, mit.
Nur Black und Stella verkrochen sich unter dem Tisch, da ihnen dieser tobende Lärm nicht geheuer war. Pierres „alter Knabe“ ließ sich davon aber nicht beeindrucken. Er wartete zielstrebig auf einen Leckerbissen, der vom Tisch in seine Richtung gleiten könnte.
Als sie von dem Schauspiel genug hatten, bot der charmante Franzose den beiden an, ihnen mit seinem Motorboot einen Einblick in die wilde Landschaft der Camargue mit ihren Salzwiesen, Seen und den zahlreichen verzweigten Kanälen zu gewähren.
Sie verließen durch eines der imposanten Stadttore den Volksfesttrubel und Pierre schlug die Richtung zum Kanal, der fast die Stadtmauer streifte, ein. Hier lagen die unterschiedlichsten Boote vom Fischerkahn bis zur luxuriösen Jacht.
Pierre ging zielstrebig auf ein protziges Gefährt zu, Hannah und Maren staunten nicht schlecht, im letzten Augenblick drehte er aber mit einem Augenzwinkern ab und sprang in sein kleines Motorboot, das neben dem Koloss lag.
Auf jeden Fall war Platz genug für drei Menschen und drei Hunde. Pierre steuerte geschickt sein Boot durch den Kanal, der aus der Stadt in die „Wildnis“ führte. Ein Schwarm zahmer Enten begleitete sie, wahrscheinlich in der Hoffnung, einige Brotreste zugeworfen zu bekommen. Black und Stella wurden immer unruhiger, den alten Haudegen ließ das Entengeschnatter kalt.
Ein Schilfgürtel umrahmte die Wasserlandschaft und wenn das Boot dem Ufer zu nahe kam, flitzten quirlige Teichhühner aus ihren Verstecken auf das offene Wasser.
An einer Steilwand schwirrten Bienenfresser aus ihren Niströhren, scheinbar empört über die lästigen Menschen, die mit ihren Booten ihr Treiben störten.
Ein Touristendampfer bahnte sich ebenfalls seinen Weg durch die wilde Natur. Neugierige Menschen beugten sich über die Reling, um einen Einblick in das kleine Boot mit den drei Menschen und den Hunden zu erhaschen.
Und dann war es geschehen. Der Strohhut einer neugierigen Dame „verabschiedete sich“ von ihrem Kopf, der Mistral, dieser verrückte Wind des Südens, hatte hierzu natürlich auch seinen Beitrag geleistet.
Black, der fasziniert das fliegende Objekt auf dem Wasser landen sah, ließ es sich nicht nehmen durch einen Sprung aus dem Boot dieses wieder einzusammeln.
Stolz drehte er schwimmend seine Kreise mit dem Strohhut in der Schnauze. Hannah war verzweifelt. Wild gestikulierend versuchte sie Black die Richtung zum Boot zu zeigen.
Auch Maren war hilflos, sie behielt Stella im Auge, um bei ihr eine Nachahmungsaktion schnell zu unterbinden.
Pierre blieb ruhig, er steuerte geschickt sein Boot auf den Setter zu und zog ihn mit einem Ruck am Halsband über die Planke.
Anschließend legte er mitten in diesem grünen Dschungel an einem improvisierten Bootssteg an, befestigte sein Boot an einem alten Baumstamm und tauchte in die Kajüte ab, um mit einer Flasche Gris de Gris (ein Roséwein der Gegend) und drei Gläsern wieder zu erscheinen´: „Für die glückliche Rettung, Santé oder Prosit, wie ihr sagt“, scherzte er und schenkte ein.
Das Boot, das im Schilf versteckt lag, bot die perfekte Möglichkeit, das Umland mit seiner Fauna und Flora zu beobachten.
Eine Kette wuseliger Rothühner, sie zählen zu den schönsten Tieren, die die Natur geschaffen hat, scharrten im trockenen Boden nach Insektenlarven. Eine Fasanenhenne führte ihre Küken, es waren sieben oder acht, zum Trinken an den Kanal. Vorwitzige Kaninchen stellten sich auf die Hinterbeine, um das Umfeld im Blick zu haben, denn die fremden Düfte, die aus der Richtung des Bootes kamen, bedeuteten für die kleinen Hüpfer nichts Gutes.
Auch Black und Stella hatten ihre hoppelnden Gegenüber in der Nase, doch es war ihnen bewusst, dass sie jetzt angeleint waren und jeder Versuch, die Bekanntschaft der Kaninchen zu machen, nicht zu realisieren war. Also machten sie es dem „alten Haudegen“ nach und legten sich an die Bootswand, um etwas vor der intensiven Sonne geschützt zu sein und dösten vor sich hin.
Auf der Rückfahrt sahen sie noch eine brütende Ente auf ihrem Nest im Schilf und Black und Stella verharrten einmal mehr in ihrer eleganten Vorstehpose, die Setter so einzigartig macht.
Den Abend verbrachten sie in Les Saintes Maries de la Mer. Bevor sie sich in einem der gemütlichen Gartenrestaurants zum Essen niederließen, zeigte Pierre den beiden deutschen Mademoiselles die Wehrkirche mit der pompös eingekleideten Heiligen Sarah, die Schutzpatronin des fahrenden Volkes und mit dem großen Marmorohr in der Wand vor der Statue der Mutter Gottes.
„Hier könnt ihr alle geheimen Wünsche hineinsprechen und hoffen, dass sie in Erfüllung gehen. Die vielen Täfelchen mit den Danksagungen beweisen, dass dies scheinbar der Fall ist“, meinte Pierre.
Hannah, die normalerweise von Wundern und Weissagungen wenig hielt, war dennoch überwältigt von der geheimnisvollen Atmosphäre dieser Kirche.
Sie hauchte etwas verstohlen in die geheimnisvolle Öffnung an der Wand:
„Ich wünsche mir so sehr, dass alle Welpen, die in dieser Welt geboren werden, ein gutes Zuhause bei tierlieben, freundlichen Menschen finden."
Am nächsten Tag wollten Hannah und Maren ihre Reise fortsetzten. Doch Pierre hatte ihnen geraten, die Camargue nicht zu verlassen, ohne vorher die alte Kathedrale von Maguelone und das herrliche Umland mit seinen Weinbergen, Seen und dem einzigartigen Meer besichtigt zu haben.
„Und vergesst bitte nicht am nahen Strand einige von den flachen, grünen Steinen zu sammeln. Sie sollen angeblich gegen Krankheiten schützen. Seht mal, mein „alter Knabe“, wie ihr ihn nennt, trägt auch einen grünen Stein an seinem Halsband.
Er heißt übrigens „Coup de Feu“, was auf Deutsch Flintenschuss bedeutet. Ein verrückter Name, den sie ihm aufgrund der vielen Schrotkörner in seinem Körper im Tierheim gegeben habe, den ich aber als Erinnerung und aus Trotz wegen seines tragischen Schicksals beibehalten habe. Ihr seid die einzigen, die nicht nach seinem Namen gefragt haben.
Jeder neugierige Franzose will zuerst wissen, wie ein Hund heißt, und dann kann ich seine Geschichte erzählen. Vielleicht machen sich die Menschen dann Gedanken über das Schicksal dieser unglücklichen Tiere.“
So viel hatte Pierre vorher nie an einem Stück gesprochen, man merkte, dass das Schicksal der misshandelten Tiere sein Innerstes bewegte. Auch Hannah und Maren waren ergriffen.
Und plötzlich legte Hannah los: „Was ist das für eine EU? Wirtschaft, Globalisierung, Finanzmogule, soziale Netzwerke, die die Welt beherrschen und der normale Mensch bleibt auf der Strecke und die Tiere sind als Sache eingestuft. Ihren Wert bestimmen die Profiteure, die an der Ware Tier verdienen. Alles, was nichts einbringt, landet im Abfall. Männliche Küken, diese kleinen flauschigen Wesen, werden millionenfach herzlos getötet und geschreddert. Lämmer werden auf überfüllten Containerschiffen über die Meere gekarrt, um geschächtet zu werden. Ferkel werden ohne Narkose kastriert, die überflüssigen Haustiere landen in deutschen Tierheimen, in französischen "fourrières" oder in den spanischen „perreras”. Und nur weil all diese unglücklichen Tiere keine Lobby haben.
Maren, die bis jetzt ganz still war, warf nur eine Frage ein: „Und warum geschieht das? Weil wir es dulden. Lasst uns die Jugend Europas wachrütteln, lasst uns die sozialen Medien für unsere Ziele nutzen.
Suchen wir Mitstreiter in ganz Europa und stellen wir klare Forderungen an die „adrette Dame mit Püppchengesicht“, die angeblich so tierlieb ist und jedes Mal beim CHIO Reitturnier Aachen in die Kamera lächelt.
Lasst uns auch mit Maria in Spanien sprechen, sie wird bestimmt dabei sein.“
„Deine Idee ist genial Maren und deshalb kann ich euch noch nicht ziehen lassen. Fahren wir nach Maguelone und in der Stille der Natur können wir an unserem Plan weiter arbeiten“, sagte Pierre und lud die Hunde schon ins Auto.
Nach einer halbstündigen Fahrt erreichten sie das Kloster, das auf einer Anhöhe mitten in den Weinbergen lag und von weitem war das handgemalte Schild „vin bio“ zu lesen.
Doch das war noch lange nicht alles. Die alte Klosterkirche schien einem Handbuch des Mittelalters entliehen. Die vielen Pfauen, die herumstolzierten, symbolisierten die Reste eines längst verklungenen Adelsgeschlecht. Einige hundert Meter weiter bewegten sich die silbernen Wellen des Meeres ohne großes Getöse Richtung Strand.
In dem grünen Weinlaub versteckten sich schwarzblaue Merlot-Trauben.
Plötzlich aber hielt Stella an, ihr Kopf war in Richtung Weinberge gerichtet, sie bewegte ihre Nüstern und kaute die Luft, um die Gerüche noch besser wahrnehmen zu können. Black stand bereits wie angewurzelt.
Keine zehn Meter entfernt, in den Weinbergen, wuselten die Rothühner davon. Ein Hahn mit seinem braunen Brustfleck hielt neugierig etwas inne, so dass Hannah ein herrliches Foto „schießen“ konnte.
Pierre erklärte den beiden, dass hier im Naturschutzgebiet die Rothühner, wie alles andere Wild, unter Naturschutz stehen und nicht gejagt werden dürfen. Natürlich haben sie sich an die günstigen Gegebenheiten angepasst und sind fast handzahm geworden.
Hannah stolzierte mit ihrem Smartphone stolz auf und ab, sie war glücklich. Endlich war es ihr gelungen, diesen herrlichen Vogel zu fotografieren.
An den Seen, die dem Meer vorgelagert waren, kämpften Möwen um die wenigen Nistplätze, weiße Reiher standen auf einem Bein, den Schnabel weit vorgebeugt und warteten auf die kleinen Fischchen, die sich zu Tausenden in dem flachen Wasser tummelten.
Die beiden Frauen konnten von dieser herrlichen Natur einer entrückten Welt nicht genug bekommen.
Für Pierre, wie übrigens für alle Franzosen, war aber auch das Abendessen mit seiner ausgezeichneten Fischsuppe, die es im Klosterrestaurant gab, wichtig:
„Wir müssen noch vieles besprechen und ihr wollt morgen abreisen? Dabei soll unsere Tierschutzaktion doch ein Erfolg werden. Suchen wir uns einen Tisch und nachdem wir bestellt haben, können wir uns weiter austauschen.“ So köderte er die beiden Frauen endlich Platz zu nehmen.
Sie aßen ausgezeichnet und kamen zu dem Entschluss, mit ihrer Aktion zuerst auf die Missstände in der Hundezucht und die Misshandlungen am „angeblich besten Freund des Menschen“ durch eben diesen hinzuweisen - und das europaweit.
Es folgte ein Abschied, der keinen Zweifel Raum ließ, dass dies der Anfang einer wunderbaren Freundschaft war.
P.S.: Der Autor hat vergessen zu erwähnen, dass die drei Hunde vom Wirt mit angeblichen Hundespezialitäten verwöhnt wurden. Was es war, konnten Hannah und Maren nie in Erfahrung bringen. Es war eine riesige Portion und besonders Black hat es ausgezeichnet geschmeckt.
In den folgenden Tagen mussten Hannah und Maren die Zeit aufholen, die sie mit Pierre in der Camargue verbracht hatten, denn zu Marias Hochzeit wollten sie, koste es was es wolle, in Ronda sein, also planten sie, die meiste Zeit auf der Autobahn zu verbringen und in kleinen Hotels auf den Raststätten zu übernachten..
Black und Stella waren darüber wenig erfreut, denn ausgedehnte Spaziergänge waren so nicht auf der Tagesordnung.
Auch Hannah fiel es schwer, wieder in den Alltag zurückzufinden und eines Abends, als die beiden Frauen vor dem Schlafengehen noch eine Flasche roten Montcalm aus der Camargue öffneten und Hannah in ihr Weinglas starrte, fragte sie Maren ganz direkt und unverblümt: „Gib doch zu, dass dir Pierre fehlt.“ Hannah lief rot an und nickte.
„Meinen Segen habt ihr, du hast bestimmt gemerkt, dass Sebastian, der Assistent von Professor Hauler sich sehr um mich bemüht, übrigens schickt er mir jeden Abend eine WhatsApp als Gutenachtgruß“, fügte Maren hinzu und plötzlich lachten beide los.
Dies wiederum verstanden die beiden Setter nicht, obwohl es anzunehmen ist, dass gerade diese Hunderasse jedes Wort versteht, nur leider nicht über die linguistische Fähigkeit zu antworten verfügt.
Wahrscheinlich dachten sie jetzt nur, dass diese Menschen eigentlich doch sonderbare Wesen mit kleinen Geheimnissen sind.
Am nächsten Morgen wartete Hannah mit einer neuen Botschaft von Pierre auf, indem sie Maren das Smartphone hinhielt: „Macht eine Visite in Barcelona, ist wunderbare Stadt.“
Und Maren lästerte: „Befolgst du jetzt jeden seiner Ratschläge?“. In Wirklichkeit aber hatte auch sie sich bereits vorgenommen, Hannah diesen Vorschlag zu machen. Sie kannte Barcelona von der Abifahrt und hatte schon immer den Wunsch genau wie damals aus dem Font de Canaletes zu trinken. Man sagt, dass derjenige, der von diesem Brunnen trinkt, immer wieder nach Barcelona zurückkehren würde. In Wahrheit wollte sie aber wahrscheinlich mit ihrer Stella die Rambla entlangschlendern oder in einem Café sitzen und die Gaukler und Straßenmusiker beobachten.
Ein Markt in einer Seitenstraße erweckte die Neugier der beiden deutschen Frauen. Bunt gemischte Stände boten alles, was man sich nur wünschen kann: spanische Schinken- und Wurstspezialitäten, Gemüse aus der Region, natürlich auch ein buntes Kleidersortiment, wie es auf südländischen Märkten üblich ist. Ein großer Platz schloss sich nahtlos an die Marktstände an.
Plötzlich hielten die beiden Frauen inne, sie trauten ihren Augen nicht. Mitten auf dem belebten Platz stand ein Handkarren und zwei junge Männer boten Welpen zum Kauf an. Die Kleinen waren nicht älter als fünf Wochen und in einem erbärmlichen Zustand. Viele kleine traurige Augen blickten auf die Menge, die die Karre umringte.
Die beiden jungen Frauen waren sprachlos. Hannah zitterte am ganzen Körper und Maren tat das, was sie in verzweifelten Situationen immer tat, sie drückte Stella ganz fest an sich.
Im gleichen Augenblick kamen auch schon drei Polizisten, sie verlangten von den beiden Männern die Ausweise, welche diese natürlich nicht vorzeigen konnten, und beschlagnahmten die Welpen.
Maren versuchte in Erfahrung zu bringen, was jetzt mit den Tieren geschehe. Ein junger Polizist erklärte ihr auf Englisch, dass die Welpen wahrscheinlich von einem illegalen Transport aus Osteuropa stammten. In den letzten Wochen wurden bereits drei weitere Händler verhaftet. Es schien sich um eine „Hundemafia“ zu handeln, die in ganz Europa tätig war. Der Polizist versicherte der aufgebrachten Menge, dass die Welpen in ein Tierheim gebracht würden und nannte auch eine Anschrift. Interessierte könnten sich dort melden und nach einer Quarantänezeit auch einen Welpen erhalten.
Nach diesem traurigen Erlebnis war die gute Laune für die beiden dahin. Sie wollten nur noch so schnell wie möglich zurück zu ihrem Hotel, um sich für die Weiterfahrt auszuruhen. Wenn sie ihren Zeitplan, den sie bis jetzt schon einige Male verändert hatten, einhalten wollten, mussten sie am kommenden Morgen früh „aus den Federn“.
Im Hotel wartete die zweite Aufregung auf die beiden. Am Morgen beim Frühstück war noch alles ruhig, jetzt war die Eingangshalle überfüllt mit Menschen und jeder hatte einen Hund an der Leine.
Emsige Frauen versuchten ihre Doggen zu bändigen, Nackthunde kuschelten sich an junge, in Selbstbräuner getauchte Männer mit künstlichem Blondschopf, Pudel im Modeschnitt keiften untereinander, hochgeschossene Pointer, die noch nie ein Weizenfeld gesehen haben, hielten demonstrativ ihre Nase hoch, so als würden sie im Wind laufen. Überall standen Drahtkäfige, die heute Zimmerkennel heißen, herum.
„Und keine roten Setter“, sagte Maren immer wieder und ihre Augen suchten das Foyer ab.
Hannah konnte in Erfahrung bringen, dass ganz in der Nähe in einer Halle am kommenden Tag eine Prämierung für alle Hunderassen stattfinden wird.
„Ich will wenigstens für fünf Minuten hin und einige Irish Setter streicheln und danach brausen wir los, bitte Hannah, sei kein Spielverderber“, sagte Maren fast bettelnd.
Hannah war müde und sie wusste auch, dass Maren ein kleiner Sturkopf sein kann, also stimmte sie zu.
Auch Black und Stella waren geschafft. Eine Großstadt ist nun mal nichts für Setter, die geboren sind, um mit wehendem Haar über grüne Wiesen zu laufen. Sie begnügten sich mit einem kleinen Spaziergang auf einer vertrockneten Grünfläche am Rande des Hotels, leerten anschließend ihre Futterschüsseln, um dann auf ihrer Decke einzuschlafen. Black schnarchte wie immer, nur diesmal vielleicht etwas lauter und Stella fiepte wieder im Schlaf, vielleicht waren es aber auch Hetzlaute, die sie im Traum von sich gibt, wenn sie mal wieder eine Amsel jagt.
An Frühstück im Hotel war am folgenden Morgen nicht zu denken. Menschen mit Hunden an der Leine drängten sich zum Ausgang und die eine oder andere vier- oder zweibeinige Auseinandersetzung wurde oft in letzter Minute verhindert.
Hannah und Maren erreichten mit einem Kaffeebecher in der Hand über einen Hinterausgang den Parkplatz, packten ihre beiden Lieblinge ins Auto und fuhren los.
Natürlich hatte Hannah Marens Wunsch, bei der Prämierung den Anblick von vielen Irish Settern zu genießen, nicht vergessen. Sie bog bei der nächsten Abfahrt auch den Schildern folgend ab und in kurzer Zeit parkten sie vor einer Halle, dem Ort des Geschehens.
Stella und Black nahmen sie auch aus dem Auto, denn die Sonne stand hier im Süden schon am Morgen recht hoch und es schien ein sehr heißer Tag zu werden.
Auf dem Parkplatz entluden junge Frauen und Männer, manche mit schmucken Tattoos an Armen und Beinen, ihre Kleinbusse. Käfige wurden auf rollende Untersetzer gestellt und mit allen möglichen Hunderassen bepackt. Der Parkplatz war bereits mit unzähligen Hundehaufen „gepflastert“, da kein Löseplatz in der Nähe war.
Die beiden Frauen suchten in der Halle nach ihren roten Lieblingen. Sie trafen aber nur auf vielbeschäftigte Menschen. Ein junger Mann stand in einer Ecke an einem Bügelbrett und gab seinem Outfit den letzten Schliff. In der Damen-Toilette drängten sich die jungen Frauen aus den Kleinbussen vor den Spiegeln, nachdem sie ihre Jeans durch knallrote schicke Kleider ersetzt hatten.
Herren mit ernsten Gesichtern, in etwas zu klein geratenen Anzügen, stolzierten über das Gelände, die Krawatte am Hals trotz Hitze festgezogen.
Einzelne Besucher amüsierten sich über Blacks schwarzen Fleck und eine gepflegte ältere Dame mit spitzen Lippen, einer dunklen Sonnenbrille, in schicker Abendgarderobe und einem Richterschild am Revers, versuchte Maren in einem schlechten Englisch klar zu machen, dass die Farbveränderung an Blacks Hals ein gravierender Fehler sei und dass solch ein Hund disqualifiziert werden müsse.
Hannah hatte genug von dem Spektakel und gab Maren zu verstehen, dass sie am Auto warten würde, bis Maren die Setter endlich gefunden hatte.
Nach wenigen Minuten setzte sich diese auf den Beifahrersitz und sagte zu Hannah: „Lass uns losfahren, jetzt reicht es auch mir.“
Während der Fahrt erzählte sie Maren, dass sie zwar keine Irish Setter gesehen habe, dafür aber rote Afghanen mit Stulpen und Mäntelchen, die auf den Setterring zusteuerten und die angeblich auch Setter waren. Und dann zeigte sie Hannah noch ein Foto auf ihrem Handy von dürren, kleinwüchsigen hellroten Hunden mit hellen „Fuchsaugen“, den „berühmten“ irischen Jagdsettern.
Hannah lachte los und sagte nur: „Vielleicht sind diese Hunde auch lieb, aber für nichts auf der Welt würde ich meinen Black gegen diese Hunde eintauschen.“
Maren fügte noch scherzend hinzu: „Ist doch klar, ihnen fehlt der schwarze disqualifizierende Fleck. Schade, dass man Menschen mit schlechtem Charakter nicht disqualifizieren kann.“
Sie fuhren bis zur nächsten Raststätte, um sich einen zweiten Kaffee zu gönnen und um sich von dem morgendlichen Schock zu erholen.
Und hier bekam Maren überraschend einen echten Setter zu sehen, der Black zum Verwechseln ähnlich sah. Natürlich fehlte ihm der elitäre „disqualifizerende“ schwarze Fleck.
Er tauchte aus dem Nichts auf und zog seine Leine hinter sich her. Scheinbar hatte die Freude über den Anblick von Seinesgleichen ihn seinen üblichen Gehorsam vergessen lassen.
Sein Besitzer, ein schlanker Mann mittleren Alters, folgte ihm auf dem Fuß und entschuldigte sich für seinen ungestümen Begleiter, der von Stella und Maren mit einer Selbstverständlichkeit aufgenommen wurde, so als wären sie alte Bekannte.
Eine schlanke, sportliche Frau mit einer Rauhaardackeldame an der Leine folgte den beiden und sagte auf Deutsch: „Wir beide gehören auch dazu.“ Das „Eis war gebrochen“, man fand sich sympathisch.
Man schob zwei Tische zusammen, bestellte einen Kaffee und das Gesprächsthema war ja auch nicht schwer zu erraten: „Setter, Setter, Setter“.
Die Frau amüsierte sich über den „schicken“ schwarzen Fleck an Blacks Hals, der etwas Besonderes sei und den sie zu Hause dem Setter ihres Mannes, der von Maren in Beschlag genommen wurde, „aufpinseln“ würde.
Hannah und Maren berichteten über ihre Reise, ihre Bekanntschaft mit Pierre und seinem alten Haudegen Coup de Feu und über ihren morgendlichen Schock in der Prämierungshalle.
Der Mann schien sich bei letzterer Thematik gut auszukennen und deutete an, dass ihm solche Erfahrungen nicht fremd seien und dass derartige Vorkommnisse für ihn und seine Frau auch der Grund seien, diese Veranstaltungen zu meiden.
Nach einer Stunde verabschiedeten sich Hannah und Maren von dem deutschen Ehepaar, das von einem Kurzurlaub aus Barcelona kam und auf der Heimreise war.
Man verabredete sich aber für ein Treffen in Deutschland.
Als die beiden jungen Frauen wieder im Auto saßen, meinte Hannah schnippisch: „Jetzt hattest du doch noch einen Setter zum Verwöhnen, so als würden unsere beiden uns nicht genug Streicheleinheiten abverlangen."
Jetzt war Eile geboten, denn in zwei Tagen war Marias Hochzeit und die beiden Freundinnen wollten diesen Termin nicht verpassen. Eintausend Kilometer lagen noch vor ihnen. Sie beschlossen die Küste entlang zu fahren und sich Valencia, Murcia und sogar Granada für den Rückweg „aufzuheben“.
Fünfhundert Kilometer pro Tag sind zu schaffen und die beiden Setter mussten sich mit kurzen Spaziergängen bei den Zwischenstopps begnügen. Diese akzeptieren ohne Murren, denn auch ihnen machte die Hitze zu schaffen. Gut, dass es Klimaanlagen für Fahrzeuge gibt.
Am Abend vor der Hochzeit kamen sie todmüde in Ronda an und wurden von Marias Familie mit der üblichen südländischen Gastfreundschaft empfangen.
Sich sofort zurückzuziehen wäre unhöflich gewesen und da sie die letzten beiden Tage nichts Vernünftiges gegessen hatten, griffen sie bei den Tapas richtig zu. Der spanische Rotwein tat den Rest und als Maria mitbekam, dass Maren die Augen buchstäblich zufielen, brachte sie die beiden auf ihr Zimmer, stellte für die Hunde noch eine Schüssel Wasser bereit und verabschiedete sich schmunzelnd von ihren deutschen Freundinnen mit dem Satz: „In Deutschland ward ihr aber trinkfester als hier im Süden.“
Am folgenden Tag waren schon am frühen Morgen alle auf der riesigen Finca auf den Beinen. Die Kutsche wurde festlich geschmückt, die Pferde nochmals zu Hochglanz gestriegelt und auch Stellas und Blacks Halsband wurde mit einer roten Schleife verziert.
Dann brach man nach Ronda zur Trauung auf.
Die Stadt, die auf einem Felsplateau liegt, gehört zu den „weißen Dörfern“ Andalusiens und Maren hielt bei der Fahrt immer Ausschau, ob sich nicht vielleicht doch Rainer Maria Rilke oder Ernest Hemingway, die dem Zauber dieser Stadt erlagen, zur Hochzeit einfinden würden. Vergebens. Dafür war aber „Carmen“ des Öfteren in den malerisch verwinkelten und schmalen Gassen zu sichten. Von einem Parkplatz vor der Puente Nuevo aus setzte sich der Hochzeitszug in Bewegung. Maria in einem weißen bezaubernden Kleid, ihr Bräutigam in der traditionellen andalusischen Tracht mit roter Schärpe am Hut, saßen in der mit Blumen geschmückten Hochzeitskutsche.
Auf der Neuen Brücke, ein Wahrzeichen der Stadt, hielt man an, um Fotos zu machen.
Im Rathaus an der Plaza Duquesa de Parcent fand die Trauung statt. Stella, Black und ihre Besitzerinnen, die ihre Jeans durch schicke Kleider eingetauscht hatten, waren auch dabei.
Die anschließende Hochzeitsfeier mit mehr als hundert Gästen fand im Bardal, eines der besten Restaurants der Stadt, mit zwei Michelin Sternen ausgezeichnet, statt.
Kulinarische Finessen, französische erlesene Champagner und schwere spanische Rotweine zierten die Speise- und Weinkarte. Viele fröhliche Menschen prosteten ausgelassen dem Brautpaar zu.
Etwas abseits saß ein älterer Herr mit schulterlangem grauem Haar allein an einem Tisch und lächelte zufrieden vor sich hin.
Zu seiner Rechten stand ein Sessel, auf dem „zusammengerollt“ ein alter English Setter auf seinem „Stammplatz“ schlief. Der ganze Trubel schien Herr und Hund nicht zu stören. (Von Marias Mutter hatte Hannah erfahren, dass dieser sonderbare Mann der Besitzer des Restaurants sei und viele Jahre in Deutschland gelebt habe).
Lediglich als Black versuchte, die „Bekanntschaft“ des alten Rüden zu machen, knurrte dieser leise aber bestimmt, so dass sich Black sofort zu Hannah zurückzog.
In einem guten Deutsch mit spanischem Akzent entschuldigte sich der Herr für seinen alten Hund, dem angeblich die Ruhe wichtiger sei als jugendliche Gesellschaft.
Anschließend bat er die beiden deutschen Frauen, doch bei ihm am Tisch Platz zu nehmen. „Ein kleiner jugendlicher Anstrich tut uns beiden - und er zeigte auf den English Setter - bestimmt gut“, meinte er.
Hannah und Maren nahmen an und der alte Herr winkte einen Kellner herbei und bat ihn, ihn eine Flasche Rotwein aus seinem Privatkeller zu holen.
Anschließend wandte er sich wieder den beiden Frauen zu, streichelte Stella und Black sanft über den Kopf und sagte: „ Sie lieben ihre beiden Hunde und das ist schön, doch bei uns im Süden recht selten. Hier ist der Hund häufig ein Nutztier, das für die Jagd unentbehrlich ist. Aber ein Hund ist mehr als nur ein Jagdgehilfe, denn er ist ehrlich und hat eine Seele.“
Maren warf lächelnd ein, dass sich der alte English Setter über seine „privilegierte“ Position ja nicht beschweren könne.
Der Herr erwiderte fast flüsternd: „Er heißt Ara und er hat mir das Leben gerettet, ich bin ihm zu ewigem Dank verpflichtet.“
Es folgte ein betretenes Schweigen. Nachdem der Kellner die Flasche Rotwein dekantiert und fast ehrfürchtig eingeschenkt hatte, hob der alte Herr sein Glas und sagte: „Trinken wir auf unsere Hunde, diese herrlichen Geschöpfe Gottes“.
Später erzählte er den beiden Frauen die Geschichte, die sein Leben veränderte:
Als junger Mann sei er, wie viele, nach Deutschland gegangen, er habe hart gearbeitet und mit seinem Ersparten in München eine kleine Tapasbar eröffnet. Mit einem kleinen Vermögen sei er nach Spanien, das ihm so fehlte, zurückgekehrt und er wollte alles, was dieses Land ausmacht und was er scheinbar verpasst hatte, nachholen.
„Wahrscheinlich wisst ihr, dass es in Ronda eine der ältesten Stierkampfarenen des Landes gibt. Und ich habe keine Vorstellung ausgelassen. Und ich habe mit der Menge gebrüllt, wenn dem Stier das Blut über den Rücken lief und die Toreros ihren lächerlichen „Tanz“ mit dem roten Tuch zum Besten gaben. Es lebe hoch die alten Traditionen“, sagte er sarkastisch.
Und er fuhr fort: „Ich habe gejagt, alles was mir vor die Flinte kam. Die Serranía de Ronda ist eine bizarre Berglandschaft. Kein Steinbock war vor meiner Büchse sicher. Ich habe sie gnadenlos verfolgt bis zu den gewagtesten Felsvorsprüngen, allein mit meinen Hunden unter der Aufsicht kreisender Steinadler.
Nichts und niemand konnte mich in dem Land meiner Väter daran hindern, bis zu dem Tag im November 2009, als ich oberhalb der Schlucht Tajo del Abanico auf eine Gämse schoss, durch den Rückstoß der Büchse das Gleichgewicht verlor und in die Tiefe stürzte.
Als ich mit unerträglichen Schmerzen aufwachte, hörte ich das Winseln eines Hundes. Es war der damals acht Monate alte Ara, der mir in die Schlucht hinterher geklettert war. Er blieb bei mir, leckte mein Gesicht, entfernte sich bis zum Ausgang der Schlucht und kläffte fürchterlich, wie es nur English Setter können“, meinte er spaßhaft.
Zwischendurch sei der kleine Setter zurückgekommen, um nach ihm zu sehen. Danach entfernte er sich wieder und verfiel in ein grelles Heulen, wie man es nur von jungen Wölfen kenne, aber er wich nicht von der Stelle.
Der Mann erzählte weiter, dass erst am nächsten Morgen beim Frühstück seine Abwesenheit zu Hause aufgefallen sei.
Seine Freunde hätten sofort einen Suchtrupp zusammengestellt, aber es hätte wohl Tage gedauert bis sie ihn in diesem unwegsamen Gelände gefunden hätten, wenn sie nicht schon aus der Ferne das Heulen des Hundes gehört hätten, der treu an seiner Seite ausharrte.
„Dieser Tag hat mein Leben verändert“, fügte der alte Herr noch hinzu.
Tiefes Schweigen. Die beiden Frauen versuchten dezent, sich die Tränen wegzuwischen, während der Mann lächelnd seinen Ara streichelte. Dieser nahm die Liebkosung wahr und wedelte als Dank ganz leicht mit seiner Rutenspitze.
Am späten Abend nahm der alte Herr, den alle ehrfürchtig Don Alfonso nannten, Hannah beiseite und fragte sie, ob sie ihn am nächsten Morgen begleiten wolle:
„Ich habe von Maria erfahren, dass Ihnen besonders Tiere, die Hilfe brauchen, am Herzen liegen.
Sie können mich ins Tierheim - so heißt es doch auf Deutsch, welch schöner Name - begleiten. Ich bringe zwei Mal in der Woche die Essensreste aus dem Restaurant dort vorbei. Aber ich warne Sie, es wird kein schöner Anblick sein“, fügte er noch hinzu.
Als Hannah Maren danach über die Unterredung berichtete, meinte diese nur, Don Alfonso habe wohl seine Gründe, dass er nur Hannah dabei haben möchte: „Wahrscheinlich hat er von Maria erfahren, dass ich schneller als du die Beherrschung verliere“, meinte sie.
Am folgenden Morgen holte Don Alfonso Hannah um halb neun von der Finca ab. Vorher bat er sie noch, Black bei Maren zu lassen.
Sie fuhren über staubige Schotterwege ins Niemandsland. Don Alfonso war an diesem Morgen recht einsilbig. Als Hannah sich über den Weg doch etwas zu wundern schien, meinte er nur, dass man die Perreras (eine Mischung zwischen Tierheim und Tötungsstation) in Spanien häufig in die Wildnis verbanne, um den honorigen Bürgern den Anblick von Elend zu ersparen. Nach einer halben Stunde kündigte sich durch ein ohrenbetäubendes Gebell schon von weitem ein halbverfallener Hof, umgeben von einem Zaun aus verrosteten Baumatten, an.
Wortlos parkte er seinen Pickup vor der Einfahrt, drückte Hannah einen Eimer mit Fleischresten in die Hand, nahm selbst zwei weitere und ging in das Innere des Anwesens.
Zwei Männer, die am Eingang saßen, unterbrachen ihr Kartenspiel und grüßten mürrisch. Ohne ihnen Beachtung zu schenken ging Don Alfonso an ihnen vorbei, er verteilte wortlos das Futter in die Käfige, streichelte durch die Gitterstäbe die Hunde, soweit es ihm möglich war, und ging ohne ein Wort zu verlieren wieder zurück und setzte sich in sein Fahrzeug.
Über Hannahs Verzweiflung beim Anblick all dieses Elends lassen sich kaum Worte finden und der Autor wird Hannas Gefühle nicht der Öffentlichkeit Preis geben.
Lediglich so viel:
Nach mehr als einer Stunde kam Hannah mit tränenüberströmtem Gesicht zurück. Sie trug eine alte, abgemagerte Setterhündin auf dem Arm. Das ergraute Gesicht mit weißen Platten und den wachen braunen Augen strahlte Würde und Weisheit aus. Das verschmutzte Fell ließ am Hals einen schwarzen Fleck durchschimmern.
Don Alfonso öffnete wortlos die Autotür. Er nahm ihr die Hündin ab und bettete sie auf den Rücksitz des Fahrzeugs. Danach nahm er Hannah fest in den Arm und sagte kaum hörbar: „ Podrías ser mi hija.Du könntest meine Tochter sein. Du bist bei uns immer willkommen.“
Schweigend fuhren beide zurück zur Finca. Maria war gerade dabei, Maren ihre Praxis zu zeigen, die sie sich in einem Nebengebäude auf dem Landgut ihrer Eltern eingerichtet hatte.
Als sie Hannah mit der Hündin auf dem Arm sahen, unterbrachen sie ihren Rundgang und halfen Hannah, den alten Hund auf einen Behandlungstisch zu legen. Maren säuberte ihr das Fell, Maria desinfizierte eine Verletzung.
Hannah strich der alten Setterdame unentwegt über den Kopf und flüsterte: „Auch ohne den schwarzen Fleck hätte ich dich dort nicht zurückgelassen, das kannst du mir glauben.“
Don Alfonso stand hilflos daneben und meinte nur: „Bei einer Tierärztin und dos futuros doctores gibt es für einen alten Mann hier wohl kaum eine Verwendung. Er sagte Adiós und verschwand.
In Wirklichkeit aber machte er sich auf die Suche nach Marias Vater, um mit diesem zusammen dem Bürgermeister einen Besuch abzustatten.
Wie Maria später berichtete, soll die Unterredung ziemlich lautstark verlaufen sein. Nach den Erzählungen einer Freundin, die im Rathaus tätig war, soll Don Alfonso gedroht haben, sein Restaurant für keine offiziellen Veranstaltungen der Stad in Zukunft zur Verfügung zu stellen, wenn der Bürgermeister nicht die Schirmherrschaft für das heruntergekommene Tierheim übernehmen würde.
Fakt war, dass Maria von der Stadtverwaltung beauftragt wurde, wöchentlich einen Kontrollgang durchzuführen, ein Budget für tierärztliche Betreuung festgesetzt und dass das Töten gesunder, lebensfähiger Tiere untersagt wurde.
Maria meinte nur: “Bei uns wird sich vieles ändern, darauf habt ihr mein Wort.”
Als Hannah und Maren am Abend allein auf ihrem Zimmer waren, kehrte Stille ein. Black und Stella hatten sich schon zum Schlafen zusammengerollt, nur die alte Hündin suchte noch nach einer Ecke um sich zu verkriechen, wie sie es wahrscheinlich gewohnt war.
Maren sagte plötzlich: “Weißt du eigentlich, dass die alte Dame keinen Namen hat? Jedem Lebewesen steht eine Identität zu.”
Hannah erwiderte: “Lass sie uns Ronda nennen, als Erinnerung an das Schöne dieser Region. Gegen das Finstere und das Leid muss man angehen und es dann aber vergessen. So als hätte es nie existiert.”
Vor dem Einschlafen, sagte Hannah noch: “Lass uns bitte Morgen schon Richtung Frankreich fahren”. Maren meinte schnippisch: “Du vermisst Pierre.”
Es folgte nur ein “Ja”. Dann schliefen die beiden ein und mit ihnen ihre drei Hunde.
Als sie am nächsten Morgen aufstanden, waren beide überrascht von dem Bild, das sich ihnen bot: Ronda lag eng an Black angeschmiegt auf dessen Decke. Marens verschlafener Kommentar: “ Schwarzer Fleck zu schwarzem Fleck, Stella sie haben dich ausgegrenzt, morgen schläfst du bei mir im Bett”drang nicht bis zu Hannah vor, da diese bereits dabei war, per Smartphone Pierre über ihre Abfahrt zu informieren.
Als sich Hannah mit einem “Bisous, bisous” (Küßchen, Küßchen) von Pierre verabschiedete, lästerte Maren weiter: “Stella, solltest du mal eine Tochter haben, wird sie natürlich Bisou heißen, welch schöner Name!” Auch das tat Hannah mit einem Schmunzeln ab.
Nach einem ausgiebigen Frühstück mit der Familie gingen die drei Frauen in Marias Praxis, um Rondas Verletzung noch einmal vor der Abfahrt zu verarzten. Diese ließ mit einem Gottvertrauen die Behandlung über sich ergehen.
Nachdem sie die reichliche Verpflegung, die Marias Mutter vorbereitet hatte, dankend in Empfang genommen und sich von allen verabschiedet hatten, fuhren sie los.
Einige hundert Meter außerhalb der Finca bremste Hannah plötzlich, denn auf einem Feldweg stand ein grauhaariger Mann mit einem English Setter an der Leine. Es war Don Alfonso.
Ich will euch ”Adiós” sagen . Er beugte er sich ins Auto, streichelte Black und Stella, fuhr Ronda über den Kopf und sagte: “Du wirst es dort gut haben, viel besser als hier.” Er drückte Maren einen Kuss auf die Wange, dann nahm er Hannah in den Arm und flüsterte ihr zu: “Vuelve pronto mi hija” (“Komm bald wieder meine Tochter”).
Und wieder ging er, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Hannah und Maren standen regungslos am Auto und ihre Blicke folgten dem alten Mann mit dem alten Hund bis er eins wurde mit dieser wilden Natur, dann fuhren sie los..
Zwei Tage später waren sie wieder in der Camargue in Frankreich.
Pierre wartete bereits in seiner Wohnung am Place Saint Louis in Aigues Mortes mit einem “apero dinatoire” (ein Aperitiv und im Anschluss ein üppiges typisch französisches Abendessen). Marens Gedanken bei der Begrüßung der beiden kann der Leser bestimmt erraten.
Da die Hunde die letzten beiden Tage fast nur im Auto verbracht hatten, war vor dem Abendessen ein Spaziergang am Kanal angesagt. Die Setter plantschten ausgiebig im Wasser, Ronda hätte natürlich gerne mitgemacht, was ihren Verletzungen, die so langsam zu heilen begannen, nicht bekömmlich gewesen wäre. Darum musste sie an der Leine laufen.
Der alte Coup de Feu verspürte auch diesmal kein Interesse an dem feuchten Element und war bemüht Ronda zu beschnuppern, was die alte Setterdame nicht unbedingt begeisterte.
Nachdem sie im Anschluss die französischen Gaumenfreuden genossen hatten, führte sie Pierre zu seinem Schreibtisch.
Hier lagen sortiert nach Thematik alle europäischen Tierschutzgesetze.
Diese EU-Tierschutzvorschriften geben angeblich die "5 Freiheiten" wider:
Freiheit von Hunger und Durst
Freiheit von Unbehagen
Freiheit von Schmerz, Verletzung und Krankheit
Freiheit zum Ausleben normalen Verhaltens
Freiheit von Angst und Leiden
Pierre hatte einiges zusammengetragen:
EU Verordnung über den Schutz von Nutztieren bei Tiertransporten.
Entschließung vom 14.02.2019 zur Durchsetzung der Vorschriften.
Verbot der Käfighaltung bis 2017.
Vogelschutzrichtlinie zwecks Erhalt seltener bedrohter Tierarten.
Vorschriften über die Haltung wildlebender Tiere in Zoos.
Schutzstandards bei Tierversuchen bei der Entwicklung neuer Medikamente.
Registrierpflicht für Hunde und Katzen, um den illegalen Haustierhandel zu beenden.
Pierre merkte noch an: „Und wofür ich die Deutschen lobe, sie haben als Vorreiter in Europa das Verbot des Kükentötens beschlossen und das ist sehr anständig.“
Maren amüsierte sich über das Werbefoto für Reisen in der EU mit einem Eu Heimtierausweis. Eine junge hübsche, blonde Anhalterin mit langen Beinen in Shorts mit einem Border Collie-Mischling an ihrer Seite.
„Das alles soll die Vorbildfunktion der EU mit den besten Tierschutzstandards verdeutlichen. Aber ist euch etwas aufgefallen?
Kein Wort zum Töten von Heimtieren in zwielichtigen Tierheimen, in französischen „fourrières" oder in den spanischen „perreras” oder etwa ein Wort über das Verbot der grausamen Aktivitäten von Hundefängern, die es in einigen EU Ländern noch gibt.
Wo sind für diese armen Tiere die hochgelobten fünf Freiheiten der EU?“, polterte Hannah los.
Sie lieferte Pierre das Stichwort: „Um das abzustellen, brauchen wir eine europäische Bürgerinitiative. Nur so können wir in der Politik mitwirken“. Und er zitierte aus dem Amtsblatt der Europäischen Union:
„Die Organisatoren einer Bürgerinitiative – ein Bürgerausschuss, dem mindestens sieben EU-Bürger aus mindestens sieben verschiedenen Mitgliedstaaten angehören – haben ein Jahr Zeit, um die benötigten Stimmen( eine Million) zu sammeln. Die Unterschriften müssen von den zuständigen Behörden der jeweiligen Mitgliedstaaten beglaubigt werden. Organisatoren einer erfolgreichen Initiative nehmen an einer Anhörung im Europäischen Parlament teil. Die Kommission muss die Initiative innerhalb von drei Monaten untersuchen und über das weitere Vorgehen entscheiden“.
„Lasst uns zusammen die Sache anpacken“, sagte Hannah.
Am nächsten Morgen fuhren die beiden Frauen weiter in Richtung Deutschland. Hannah wollte noch einige Tage bei ihren Eltern in Freistadt verbringen, während Maren mit Stella mit dem Zug weiter nach Gießen musste, da ein Praktikum auf sie wartete.
Hannahs Eltern waren „aus dem Häuschen“, als sie ihre Weltenbummler-Tochter wieder in die Arme schließen konnten.
Als sie Ronda sahen und über die Umstände erfuhren, wie diese zu Hannah kam, war ihr Vater sofort der Meinung, dass gegen die schrecklichen Zustände in diesen verwahrlosten Auffangstationen für Tiere etwas getan werden müsse.
Hannah hatte viel zu erzählen, sie berichtete über den alten Coup de Feu, natürlich auch über Pierre – ihre Mutter, die ihre Tochter doch gut zu kennen schien, konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Später, als sie mit Hannah allein war, fragte sie ihre Tochter, ob sie ihr Französisch „auffrischen“ müsse?
Ihren neuen „Adoptiv-Vater“, Don Alfonso, erwähnte Hannah nur kurz, da sie wusste, dass ihr Vater sie mit niemandem auf der Welt teilen würde.
Als Hannah gerade dabei war über die Bürgerinitiative, die sie ins Leben gerufen hatten, zu berichten, kam Herr Kraus dazu, der an Ronda gleich einen Narren gefressen hatte. Er stellte auch sofort fest, dass diese ebenfalls den einzigartigen schwarzen Fleck am Hals hatte.
Hannah musste ihm versprechen, dass sie sich an ihn wenden würde, falls es mal bei ihr mit dem bevorstehenden Examen und zwei Hunden zu eng werden würde.
Nachdem Hannah sich überzeugt hatte, dass bei ihren Eltern die Welt wieder „in Ordnung war“ und dass die alte Tara von den beiden nicht mehr wegzudenken sei, schnappte sie sich die Hunde und streifte mit ihnen durch die Natur. Nach so viel wilden, von der Sonne geprägten Landschaften des Südens sehnte sie sich nach den saftigen Wiesen und der Kühle ihrer Heimat.
In einem nahen Wäldchen fand sie die halbverwitterte Bank, der sie als Kind so oft ihren Kummer beichtete, wieder. Das satte, dunkle Grün des Dickichts ging fließend in ein helles Farbenmeer über. Durch die Zweige der Wipfel schimmerte ein weißblauer Himmel. Dicke, alte Eichenstämme, wie für die Ewigkeit gemacht, ragten in den Himmel.
„Das würde Pierre auch gefallen, wenn er nur hier wäre“, schoss ihr durch den Kopf. Ihre Gedanken wurden jäh unterbrochen, denn Black hatte ein Reh in der Nase. Etwas weiter im Unterholz versuchte eine Rehmutter ihr Kitz in Sicherheit zu bringen. Das kleine Wesen auf seinen dünnen, wackeligen Beinen lief noch etwas unsicher der Geiß hinterher, die immer wieder anhielt, um nach den Hunden Ausschau zu halten.
Hannah nahm alle drei Hunde sofort an die Leine, denn dieses kleine Meisterwerk der Natur sollte nicht erschreckt werden.
Besonders Ronda war von dem mit feuchtem Moos überzogenen Waldboden besonders angetan, so dass sie sich sofort wieder ein Plätzchen in der Nähe der Bank suchte und als Hannah mit ihrer „sonderbaren Meute“ wieder in Richtung Dorf laufen wollte, war Ronda nur schwer zu bewegen, diesen Ort zu verlassen.
„Vielleicht sollte ich sie doch für einige Zeit bei Herrn Krause lassen, bis der Examensstress in Gießen vorbei ist, denn hier fühlt sie sich scheinbar sehr wohl“, dachte Hannah.
Noch am gleichen Abend sprach sie mit Herrn Krause, dieser freute sich über Hannahs Vorschlag und bedankte sich für das Vertrauen, das sie in ihn setzte.
Hannah war gerade dabei ihre Koffer zu packen, um nach Gießen zu fahren, da erreichte sie eine Nachricht des netten Ehepaars mit Setter und Dackel, das sie und Maren in Nordspanien getroffen hatten. Es war eine Einladung für den kommenden Samstag zu einem Settertreff im Odenwald. Hannah beschloss die Einladung anzunehmen und auf ihrer Fahrt einen Umweg zu machen.
Unweit des wunderschönen Barockstädtchen Amorbach traf sie auf einer Wiese am Bach auf die Settergruppe. Es schien, als wären mehr Hunde als Menschen hier, Black war begeistert und tobte sofort mit der restlichen Meute über die weitläufigen Wiesen. Hannah wurde herzlich begrüßt und fühlte sich sofort augenommen. Alle bemerkten zwar Blacks kleinen schwarzen Fleck, aber keiner störte sich daran, denn alle sahen, wie sehr Hannah diesen Hund liebte und wie glücklich beide waren. Und das war für diese Menschen das Wichtigste.
Als Hannah in der folgenden Woche endlich in Gießen ankam, gab es einiges nachzuholen, denn bis zum Staatsexamen waren es nur noch drei Monate.
Sie musste noch ein Praktikum absolvieren und ihrer Zulassungsarbeit (“Genmutationen bei der Fellfarbe des Hundes”) den letzten Schliff verpassen. Diese musste rechtzeitig fertig sein, damit ihr Vater noch einmal korrekturlesen konnte.
Und da war auch noch die europäische Bürgerinitiative gegen das Töten von Tieren in Auffangsstationen.
Natürlich nahm ihr Maren in diesem Bereich viel Arbeit ab. Sie hatte, um Hannah zu entlasten, per Videokonferrenz mit Pierre die internationale Homepage erstellt, die mit einem Anhang zwecks Unterschrift versehen war.
Die Startseite zierte ein Foto von Ronda - der schwarze Fleck war deutlich zu sehen - mit einer kurzen Zusammenfassung ihres Leidensweges, gefolgt von einem ergreifenden Text:
Wir bitten alle tierlieben Menschen Europas, unsere Bürgerinitiative, die an die Europäische Union eine klare Forderung stellt, zu unterstützen:
“Setzen Sie dem Sterben unschuldiger Tiere in zahlreichen europäischen Auffangstationen durch ein Gesetz, welches das Töten von lebensfähigen Tieren verbietet, ein Ende. Wir fordern die einzelnen Staaten auf, sich zu verpflichten, für die Ernährung und artgerechte Unterbringung dieser Tiere zu sorgen”.
Hannah und Maren hatten es geschafft, ihr Anliegen bei einer Studentenversammlung auf die Tagesordnung zu setzen und spontan meldeten sich junge Menschen aus anderen europäischen Ländern, die in ihrer Heimat für diese Forderung an die EU Unterschriften sammeln wollten.
Ein junger engagierter Luxemburger verkündete stolz, dass der Präsident der Europäischen Kommission a. D. Jean-Claude Juncker und seine Frau sicher zu den ersten zählen, die bereit wären zu unterschreiben. Der kleine Mischling Peluso aus einem bayerischen Tierheim, der bei ihnen seit 2019 lebt, ist ihnen inzwischen ans Herz gewachsen.
Ach ja, wenn Black hätte sprechen können, hätte er bestimmt gemotzt, dass er bei all dem Trubel etwas zu kurz käme; so beließ er es bei einem Jaulen, oder war es doch ein verstecktes Knurren?
Der “interessierte Leser” würde natürlich gerne etwas über Hannahs Abschlussprüfung erfahren.
Erteilen wir ihrem Vater, dem honorigen Herrn Professor, bei der Feier im kleinen Kreise das Wort: “Natürlich bin ich sehr stolz, dass Hannah mit “summa cum lauda” bestanden hat, ich bin aber ganz glücklich, dass sie so ein wunderbarer Mensch geworden ist mit viel Empathie für alle hilflosen Geschöpfe unserer Erde.”
Die Frage, ob Pierre bei diesem Fest auch anwesend war, kann ich eindeutig mit “Ja” beantworten.
Als würden diese “frohen Botschaften” nicht ausreichen, muss ich noch “einen draufsetzen”.
Nachdem Hannah nach all den aufregenden Wochen endlich zur Ruhe kam, erreichte sie auf der Mailbox eine Nachricht ihres Vaters: “ Guten Morgen “summa cum lauda” Tochter, in Freistadt ist seit gestern die Stelle des Amtstierarztes ausgeschrieben. Man sagt es gibt kaum vernünftige Bewerber. Bitte überlege es dir.”
Hannah brauchte nicht lange zu überlegen. Noch am selben Tag schickte sie ihre Bewerbungsunterlagen weg und sie hatte Glück, denn die Zeugnisse der anderen Bewerber konnten mit Hannahs Voraussetzungen nicht mithalten.
Zu Maren sagte sie: “Wenn ich etwas verändern will, jetzt habe ich die Möglichkeit”.
Und sie fuhr fort: “In meinem Berufsleben hat der Codex Veterinarius der Tierärztlichen Vereinigung für Tierschutz e.V., selbst wenn er nicht rechtsverbindlich ist, einen hohen Stellenwert. Auch für mich steht fest, dass Tiere einen Eigenwert und damit eine Würde besitzen, die respektiert werden muss. Ich werde nach bestem Wissen und Gewissen die Interessen der Tiere vertreten und nicht die seiner Halter oder Nutznießer“.
Zwei Wochen später klingelte es morgens an der Tür der Familie Glotz.
Herr Glotz war noch im Schlafanzug und schon zu scherzen bereit: “Ach unsere Frau Dr. Hannah, wir haben es natürlich erfahren, welch ein Glück für uns, wir werden uns mit der Frau Amtstierärztin schon vertragen.”
Hannah überreichte ihm wortlos ein Schreiben. Er überflog das Schriftstück, und begann mit hochrotem Kopf zu stottern:
“Hannah, kleine Hannah, du willst mir meine Zuchtstätte schließen? Mädel, denk an unsere Freundschaft”.
Aber ganz plötzlich veränderte sich sein Ton und er brüllte vor Zorn:
“Das kannst du nicht tun, ich bin Präsident, ich habe juristische Berater, mein Wort hat Gewicht.”
Er holte Luft und fuhr fort: “Ich habe meinen Beruf gekündigt und lebe von der Hundezucht, die Raten für den Jeep sind im nächsten Monat fällig und die Jagdpacht auch.”
Hannah beeindruckte das Gebrülle überhaupt nicht, sie sah zu den Zwingern, wo sich winselnde Hundeschnautzen durch die verrosteten Gitterstäbe zwängten. Eine Träne lief ihr über die Wange.
“Es ist amtlich” sagte sie mit fester Stimme. Sie drehte sich um und verließ das Grundstück.
Kurzgeschichten:
Eine Frau und ihr Hund
Gordi, der Lawinen- Rettungshund
Sonderbarer Silvesterabend
Das Zusammenleben zwischen Mensch und Hund hat mich fasziniert und bewegt. Es war mir stets ein Anliegen dieses komplexe Verhältnis in meinen Erzählungen zum Ausdruck zu bringen.
Doch es gibt eine Geschichte, die dennoch so schwer in Worte zu fassen ist, da so einfach, so groß und so wahr.
Niemandsland
Die Werra, dieser müde durch Salzlaken geschädigte Fluss, der im thüringischen Schiefergebirge entspringt, fließt die deutsch–deutsche Grenze entlang und hat viel gesehen: die willkürliche Teilung einer Nation, das Leid der Menschen auf beiden Seiten der Grenze, die hysterische Abschottung der DDR durch Beton und Stahl, Minenfelder, Hundetrassen und Selbstschussanlagen. Auch die Gewehrsalven der Grenzsoldaten und die Todesschreie unschuldiger Menschen blieben ihr nicht verborgen. Fast befreit trägt sie die Last ihrer Erinnerungen in die Weser, um sie danach in der weiten Nordsee zu versenken.
Die Erinnerungen der Menschen an ihre Untaten und Grausamkeiten, an ihren Verbrechen gegen die Menschlichkeit, befohlen von einem korrupten und verlogenen System, 1000 Opfer des DDR Grenzregimes, diese lassen sich nicht wegspülen.
Der junge Grenzoffizier Josef Wild ließ sich auf einem parallel zur Grenze angelegten Fahrweg mit Betonplatten stehend von seinem Fahrer die Grenze entlang kutschieren. Die Pose war beeindruckend. Die eine Hand an der Hosennaht, die andere als Stütze auf dem Rahmen der Windschutzscheibe. Seine steingraue Uniform mit grüner Paspelierung und grünem Mützenrand war neu. Er hatte die Offiziersschule in Plauen, der Kaderschmiede der DDR-Grenzoffiziere, als Jahrgangsbester abgeschlossen. Eigentlich wollte er Germanistik studieren, denn die Literatur hatte es ihm angetan. Als Jugendlicher verschlang er alle Bücher, die ihm in die Hände kamen, vorrangig klassische Literatur. Als ihn sein Vater einmal, anlässlich einer überregionalen LPG-Sitzung mit nach Weimar nahm, stand er vor dem Standbild von Goethe und Schiller und weinte. „Diese beiden haben uns in der Welt nicht blamiert, wie es durch die Nazis geschah. Unsere Dichter, Maler und Komponisten sind alles, was uns Deutschen geblieben ist“, sagte er später zu seinem Vater.
Und jetzt war er als Leutnant Teil des Grenzkommandos Süd, GKS, Stab Erfurt, weil die Partei es so wollte und sein Vater nicht den Mut hatte, den Genossen zu widersprechen.
Ursprünglich war sein Vater Friedrich Wild ein streitbarer Sozialdemokrat, aber nach der Zwangsvereinigung von KPD und SPD gab er klein bei. Um sicher zu gehen, schickten ihn die Genossen für zwei Jahre nach Moskau auf die Hochschule für Ackerbau und Viehzucht. Er kam scheinbar geläutert zurück und vertrat in der Öffentlichkeit die Grundsätze der Partei. Er wurde 1955 in einem Ort in der Nähe von Langensalza zum LPG-Vorsitzenden ernannt. Nach außen war er stets linientreu und bemüht in der LPG die Erträge zu steigern, denn nur so konnte die DDR den Verlockungen des Westens standhalten. „Satte Menschen sind friedlich“ war seine Devise.
Seine Mutter war eine schüchterne Flüchtlingsfrau aus dem Sudetenland, die auf der Flucht vor den Russen ihre Familie verlor und die versuchte sich allein nach Frankfurt durchzuschlagen. Eigentlich war sie nicht allein, denn einer der Jagdhunde ihres Vaters, ein
roter Setter, wich nicht von ihrer Seite. Und wenn es mal brenzlig wurde und es galt sie zu beschützen, fletschte er die Zähne und wurde zum Raubtier.
Sie saß drei Tage am zerstörten Bahnhof von Unterberg mit ihrem abgemagerten Hund und wartete, dass ein Zug kam, doch der Bahnverkehr war längst eingestellt und so kam auch kein Zug, dafür aber Josephs Vater, der zuerst auf den Hund aufmerksam wurde und sein Herz höher schlagen ließ. Er fragte nach dem Namen des Hundes und wollte auf ihn zugehen und ihn streicheln, doch die Frau wehrte ab: „Ich bin die Susanne, er heißt Bodo und greift jeden fremden Mann, der mir zu nahe kommt, an“, sagte sie.
„Wollen wir mal sehen“ sagte Josephs Vater und er strich dem Hund vorsichtig über den Kopf. Dieser blickte mit seinen sanften Augen zu ihm hoch und beschnupperte ihn.
„Wahrscheinlich riecht er unsere Hündin Bianca. Als ich von der Front verwundet zurückkam, fand ich in unserem zerbombten Haus nur noch den Setter. Meine Eltern hatten den Krieg nicht überlebt.
„Wenn Sie Hunger haben, Susanne und sich aufwärmen möchten, können Sie mich begleiten, ich habe zwei Zimmer notdürftig repariert und außerdem habe ich heute mit der Flinte meines Vaters, die ich in den Trümmern fand, einen Hasen geschossen.“ Die Frau nickte, nahm Bodo an die Leine und folgte wortlos.
Ein Jahr danach kam Joseph zur Welt.
Und dieser fuhr jetzt auf einem holprigen Grenzweg, sah von Zeit zu Zeit auf die westdeutsche Seite und dachte an die kleine Marie aus Oberberg: „Wenn sie ihn so sehen würde“, doch er verwarf den Gedanken sehr schnell, denn sie lebte jetzt im Westen und gehörte zu den imperialistischen Klassenfeinden.
Früher verband die beiden Dörfer Unterberg und Oberberg eine einfache Straße und die Kinder beider Orte spielten miteinander. Die Bewohner beider Dörfer kannten sich und nicht selten wurden auch Ehen zwischen jungen Menschen beider Orte geschlossen.
Auf der Potsdamer Konferenz wurde durch die Siegermächte Deutschland willkürlich aufgeteilt und plötzlich gehörte Unterberg zur russischen Besatzungszone und Oberberg zur amerikanischen.
Die ersten Jahre nach der Teilung änderten kaum etwas am Leben der Menschen. Armut, Hunger und Trauer um die im Krieg Gefallenen gab es überall in Deutschland.
Jeder versuchte sich selbst zu helfen, so auch Friedrichs Vater. Morgens in aller Herrgottsfrüh nahm Friedrich Wild Bianca und Bodo an die Leine, die zerlegte Flinte war im Rucksack verstaut, sein Nachbar, der hagere Müller stand schon vor dem Hoftor und beide schlichen sich in die Felder. Die Hunde suchten die Wiesen ab und jedes Mal, wenn sie Wild witterten, standen sie wie angewurzelt, so dass sich Friedrich anschleichen konnte. Ein Knall und schon gab es einen Hasen, einen Fasan oder Rebhühner für den Rucksack. Natürlich bekamen auch die Hunde, die nicht sehr wählerisch waren, etwas von der Beute ab.
Nachmittags suchten die beiden Männer nach Obst in den Obstwiesen, die nicht mehr bestellt und so von Brennesel überwuchert waren. Jetzt waren auch die Kinder dabei. Marie, die Nachbarstochter, und Joseph.
Wenn die beiden keine Lust mehr hatten Beeren zu pflücken, spielten sie mit Bodo, dem Flüchtlingshund und Bianca, der Trümmerhündin, wie Josephs Mutter die beiden manchmal nannte, auf der Wiese. Maries Vater sagte dann zu Josef: „Du musst mir versprechen, auf sie aufzupassen, dass sie nicht in den Bach fällt. Sie ist so stürmisch wie ein junger Setter.“ Josef erwiderte dann: „Mach ich, ich verspreche es, ich werde immer auf sie aufpassen.“ Marie wurde bei diesen Worten ganz rot und als sie allein waren, schenkte sie ihm ein weißes Taschentuch mit angeblich seinem eingestickten Namen, der nur aus einigen unbeholfenen Stichen bestand.
Ein bescheidenes Leben in einer zerstörten Welt bahnte sich an und die angebliche Grenze interessierte keinen. Bis zu dem Tag Anfang 1952, der alles veränderte.
Holzfäller aus den thüringischen Wäldern wurden angekarrt, aber auch andere Menschen aus den Dörfern der Werra entlang. Sie wurden von Volkspolizisten begleitet und hatten die Aufgabe, das Gelände an der Grenze frei zu machen, zu glätten und einen Grenzstreifen zu ziehen.
SED-Funktionäre, die nach Unterberg kamen, erkundigten sich nach Menschen, die unzuverlässig und nicht linientreu seien. Man munkelte, dass diese in den nächsten Tagen ins Landesinnere umgesiedelt werden würden. Diese Aktion hatte den menschenverachtenden Namen „Ungeziefer“. Zwei Funktionäre erkundigten sich ausführlich bei Friedrich Wild, den sie für einen der ihrigen hielten, über seinen Nachbarn Hans Müller. Während des Gesprächs stellte sich heraus, dass sie gut informiert waren und dass sie auch über die morgendlichen „Jagdzügen“ der beiden Bescheid wussten.
„Wir nehmen es ihnen ja nicht übel, dass sie ihre Familie versorgen, aber sie müssen mit uns zusammenarbeiten, da sie als Sozi seit 1946 jetzt auch zur SED gehören.“ Dies bejahte Friedrich natürlich, gelobte Zusammenarbeit und wartete nur, bis beide weggefahren waren, um über den Gartenzaun seinen Nachbar zu warnen.
Am nächsten Morgen, als Joseph Marie zum Spielen abholen wollte, war das Haus leer.
Später erfuhr man, dass Hans Müller in der Nacht seine Schwiegereltern und die beiden Schwager in Oberberg besucht habe. Es fanden sich acht mutige Männer, die ihm halfen sein gesamtes Hab und Gut über die provisorische Grenze zu bringen.
Die Partei schien aber von Friedrichs Antwort auf die Frage, ob er von dem nächtlichen Auszug der Nachbarn nichts mitbekommen habe, nicht überzeugt. Dieser versicherte, er habe versucht seine Zahnschmerzen mit Schnaps zu ertränken und fest geschlafen.
Einige Tage danach erhielt er die Mitteilung, dass ihm von höchster Stelle für zwei Jahre ein Stipendium zum Studium nach Moskau, das er nicht ablehnen könne, zugesprochen wurde.
Seine Frau war verzweifelt, doch Friedrich Wild meinte nur: „Ablehnen ist zwecklos, vielleicht warten sie gerade darauf, dass wir einen Fehler machen. Du und Joseph werdet gut versorgt sein.“
Der kleine Joseph schlich an den folgenden Tagen immer wieder ums Nachbarhaus, es konnte doch nicht wahr sein, dass seine Freundin ihn verlassen hat. Sie waren doch gestern noch zusammen Maikäfer für die Hühner sammeln.
Die Straße an der Grenze wurde immer holpriger und die Fahrt immer schwieriger. Leutnant Joseph wachte aus seinen Träumen auf und plötzlich kam er sich lächerlich in dieser Pose vor, erinnerte sie ihn doch eher an die Bonzen des dritten Reiches, denen das Volk zujubelte. Ihm jubelte niemand zu und als sie eine Anhöhe hoch fuhren, waren sie gut auf dem anderen Teil der Grenze sichtbar und prompt von einer Gruppe junger Klassenfeinde aus ihrem Ford Capri mit einem Hupkonzert begrüßt.
Er nahm wieder auf dem Beifahrersitz Platz, wandte sich zum Rücksitz und streichelte lange in Gedanken versunken seinen jungen irischen Setter Lucas.
Als er seine Tour beendet hatte, stieg er auf den Kontrollturm. Vorher musste er sich von einem Untergebenen die alten Witzeleien anhören: „Ach, das Schoßhündchen lebt ja noch, hatte wohl Glück, dass er den Trassenhunden nicht zu nahe kam, denn diese kennen keinen Pardon, weder mit Mensch noch Tier, das sind echte DDR-Schäferhunde.“ Da ihm die Sprüche auf die Nerven gingen, sagte er nur: „Morgen zwei Schichten für dich“ und nahm auf der oberen Etage eines Kontrollturms Platz. Mit seinem Zeiss-Fernrohr hielt er Ausschau nach den Republikflüchtigen. Oder suchte er vielleicht die Wiesen im Feindesland nach einer jungen Frau mit einem roten Hund ab, die jeden Abend einen Setter spazieren führte?
Wenn er sie sah, zoomte er sie heran, so nahe, dass er ihr Gesicht und ihre Augen sehen konnte und er hatte keine Zweifel: die gleichen Augen, dieselben Grübchen in den Wangen. Es musste Marie sein. Und wenn der Setter dann mal wieder einen Hasen hochmachte und ihm das Geleit gab, dachte er an die boshaften Worte seines Vaters: “Setter bevorzugen Frauen, weil sie diese besser austricksen können.“
Mit hereinbrechender Nacht, übergab er das Kommando an seinen Untergebenen, ging in die Kaserne, legte sich auf das Bett und dachte jeden Abend das Gleiche: „Gott bewahre uns vor einem Grenzgänger, ich will keinen Menschen töten.“ Seine Mutter, die eine gläubige Frau war, sagte immer: „Bete, wenn du in Nöten bist, aber leise, denn nur die Gedanken sind frei.“ Und er wusste auch an diesem Abend nicht, wie er sich bei einem wirklichen Zwischenfall verhalten würde. Gut, dass er ein Zimmer für sich hatte, denn das Misstrauen der einzelnen Offiziere untereinander war groß, jeder konnte zur Stasi gehören.
Lucas nahm neben ihm Platz, drückte sich fest an ihn und so schliefen sie ein.
Eigentlich dürfte es Lukas gar nicht geben, denn in der DDR gab es für alles Reglementierungen und selbstverständlich auch für die Hundezucht. In jedem Wurf durften nur acht Welpen am Leben bleiben. Die anderen wurden „gemerzt“. „Welch hässlicher Ausdruck“ schimpfte Josephs Vater, natürlich nur, wenn sie allein waren. „Merzen statt Töten, wir Deutschen sind Meister im Beschönigen und Verfälschen der Worte. Und dabei widerspricht diese Aussortierung allen Gesetzen der Genetik“ Denn von dieser Wissenschaft, die allmählich auch in der Tierzucht Einzug hielt, hatte er bei Fortbildungen über die Auswahl der Zuchttiere in der Viehzucht einiges mitbekommen.
„Wie kann ich sehen, welcher Hund über die besten Erbmerkmale verfügt, wenn ich manchmal ein Drittel nach der Geburt töten muss? Das sind faschistische Methoden“, schimpfte er abends, wenn das Hoftor verschlossen war und er und seine Frau sich ins Schlafzimmer zurückgezogen hatten, wo auch die Körbe für die Hunde und der Fernseher stand. Was ihn genauso nervte war der „Antrag auf Deckrüdenzuweisung“, den er ausfüllen sollte. „Bald wird auch für die Menschen gelten: eine Genossin und ein Genosse und vorher ein Antrag an die Partei!“ schimpfte er. Obwohl seine Frau ihn warnte, ließ er es sich nicht nehmen, jeden Abend das Westfernsehen einzuschalten und wenn Brandt eine Rede hielt, hörte er andächtig zu.
Das Schlafzimmer hatte keinen Telefonanschluss und konnte so nicht verwanzt werden. Als LPG-Vorsitzender waren ihm die Stasimethoden nicht fremd. Das ist unser sicherer abhörgeschützter Bunker lästerte er manchmal, wenn er mit seiner Frau allein war.
Und Joseph flüsterte er öfter zu: „ Wir wären Narren, wenn wir uns ihnen widersetzten, denn sie haben die Macht. Mit den Wölfen heulen heißt nicht ein Wolf zu sein. Früher, als die Kirchenglocken läuteten, haben unsere Setter auch geheult, aber sie waren beileibe keine Wölfe. Joseph, du musst ihnen immer sagen, was sie hören wollen, Aufrichtigkeit und Zusammenhalt gibt es nur in der Familie.“
Randbemerkung des Autors: Ob Vater und Sohn, die ja beide zu Aufsteigern und Profiteuren dieses Systems wurden, obigem Grundsatz treu blieben, ist fraglich.
Während eines Besuchs bei seinen Eltern, stellte Leutnant Joseph sofort fest, dass sein Vater an diesem Tag etwas fahrig und leicht nervös war. Er bat zum ersten Mal seinen Sohn, die Uniform abzulegen, er sagte nur :“So ist es mir lieber, so sehe ich meinen Sohn und nicht die geballte Staatsgewalt“, danach bat er ihn ins Schlafzimmer und führte ihn an die Wurfkiste: „Neun gleiche und gesunde Welpen und einer muss getötet werden, das geht nicht in meinen Kopf!“
Joseph streichelte die Welpen, jeden einzelnen, wie er es als Kind schon immer getan hatte, dann richtete er sich auf und sagte: „Vor der Wurfabnahme komme ich wieder und dann nehme ich den Welpen mit dem weißen Brustfleck mit. Er wird Lukas heißen. Dann sind es nur noch acht. Leutnant Joseph Wild ist nicht verpflichtet, Auskunft über die Herkunft seines Jagdhundes zu geben.“
Es trifft sich gut, da sie mir sowieso den Jagdschein als kleine Anerkennung zugeschickt haben.
Erleichtert umarmte der Vater seinen Sohn.
Und so nahm das Schicksal seinen Lauf. Lucas wuchs zu einem prächtigen Setter heran. Er war hochnäsig und schön. Wenn die „Trassenhunde“, die es der Grenze entlang an manchen Stellen noch gab, ihn wütend ankläfften, drehte er überheblich den Kopf in die andere Richtung. Joseph tadelte ihn dann: „Die armen Kerle würden gern mit dir tauschen, sei nicht so arrogant.“
Abends, wenn sie allein im Wachturm saßen, scherzte Joseph: „Wenn du ein Mensch wärst, würde ich dir mein Zeiss-Fernglas ausleihen. Die unerzogene Setterhündin im Feindesland, die eine Frau an der Leine hinter sich herzieht, ist eine wahre Pracht. Lucas hob dann die Nase und begann zu schnuppern und Joseph war sicher, dass sein roter Freund alles verstand.
Am 1. Mai, am sogenannten Internationalen Kampf- und Feiertag der Werktätigen für Frieden und Sozialismus, fuhr Leutnant Joseph mit Lucas in die Stadt. Er trug wie die meisten Grenzer bei ihren seltenen Ausgängen keine Uniform. Die Beliebtheit der „Elitetruppe“ hielt sich bei den Genossen in Grenzen. Bei einem Tanzfest - Lucas lag brav ohne Leine unter einem Biertisch - lernte er die FDJ-Sekretärin der Gegend kennen. Diese war wenig zimperlich und lud ihn sofort zu sich in die Wohnung ein. Im Treppenhaus zeigte sie Joseph eine Stelle, wo er Lucas anleinen könne. Damit endete die Liebelei, bevor sie begonnen hatte.
Bei einer hübschen Genossin auf einem LPG-Fest waren es die Katzen, die Lucas durch das Haus scheuchte. Die Krönung seiner Störmanöver leistete sich Lucas, als er bei einem gemütlichen Spaziergang am Bach Josephs Auserwählte schockte, indem er einer Ente hinterher schwamm und das nasse Federvieh der jungen sensiblen Kunststudentin vor die Füße legte.
„Du machst mich zum alten Junggesellen mit deiner flegelhaften Art“, schimpfte Joseph, um dann am Abend sein Fernglas zur Hand zu nehmen und die „kapitalistischen“ Wiesen abzusuchen.
Ohne große Aufregung verging ein Tag wie der andere. Acht Stunden Dienst, acht Stunden Bereitschaft, acht Stunden Schlaf. Besondere Vorkommnisse gab es kaum: ein eingeschlafener Grenzposten, der in den Bau musste, Missachtung des Rauchverbots beim Dienst, Streit schlichten zwischen den Soldaten und wieder war für die Betroffenen Bau fällig.
Doch dann kam der Tag, den Joseph nie vergessen würde. Seine Gruppe hatte an diesem Abend Bereitschaft. Er hatte den Kontrollgang abgeschlossen und war gerade dabei „keine besonderen Vorkommnisse“ in seinen Bericht zu schreiben, als das Sirenengeheul ihn aufschreckte. Leuchtraketen tauchten den Grenzstreifen in ein grelles Licht, dann folgte eine Gewehrsalve. Joseph stürzte zur Tür hinaus und trommelte seine Mannschaft zusammen.
Das Bild, das sich Joseph bot, war grauenvoll.
Eine junge Frau lag blutüberströmt auf dem Grenzstreifen. Sie schrie vor Schmerzen. Neben ihr kniete ein Grenzsoldat und stammelte immer wieder: „Bitte vergeben sie mir, ich wollte doch nur einen Warnschuss abgeben.“
Joseph versuchte die Frau aufzurichten, doch sie sank immer wieder in sich zusammen, dabei flüsterte sie mit schwacher Stimme: „Ich wollte doch nur zu meinem Mann. Wir haben in Ungarn am Plattensee geheiratet. Ich trage sein Kind in mir.“
Joseph sah verzweifelt in die Runde: „Wo sind die Sanitäter? Schafft sie endlich herbei“, schrie er mit heiserer Stimme. Als diese kamen, war es zu spät. Die Frau starb in Josephs Armen.
Am nächsten Morgen erfuhr man, dass sich der Schütze in der Nacht erschossen habe. Es war ein junger schmächtiger Mann, der so gerne Musik studieren wollte. Er hatte sich freiwillig zur Grenze gemeldet, um anschließend zum Studium zugelassen zu werden.
Am nächsten Tag kam General Oberst Erich Franz aus Berlin. Leutnant Joseph Wild erhielt vorher einen Anruf, er solle alle dienstfreien Grenzsoldaten für Punkt 12 Uhr zum Appell antreten lassen.
Leutnant Joseph Wild erstattete Bericht: Vorkommnisse der letzten Nacht: Zwei Todesopfer, ein Grenzsoldat und eine Privatperson. Der Generaloberst winkte ab, zog ein Papier aus der Tasche und las: „Fähnrich Ulf Fink hat durch seinen Heldenmut einen Grenzdurchbruch von Ost nach West verhindert. Die DDR-flüchtige Person wurde von ihm gestellt. Sein heldenhafter Dienst für die deutsche demokratische Republik macht uns stolz. Er ist in Erfüllung seiner patriotischen Pflicht gestorben. Am 1. Dezember, dem „Tag der Grenztruppen“, werden wir seiner Gedenken“.
Scherzhaft fügte er hinzu: „Auf Salutschüsse werden wir hier verzichten, sonst glaubt der imperialistische Westen, dass wir ihn angreifen.“
Er warf einen Blick auf Lucas, der sich für die Vorträge nicht zu interessieren schien und gemütlich in die Sonne blinzelte. Der Hund missfiel ihm und so grunzte er beim Warten auf seinen Fahrer, der dabei war, die Hintertür des schwarzen Moskwitsch zu öffnen: „Du taugst nicht als Trassenhund, weil dir der Biss fehlt und als Jagdhund verwechselt man dich mit einem Reh.“
Und die tote, namenlose, vergessene Frau?
Auf der anderen Seite der Grenze wartete ein Mann tagelang vergebens.
Der Oberst war bereits eingestiegen, doch das Fahrzeug fuhr nicht los. Alle standen in Reih und Glied aufgereiht mit der Hand an der Mütze um den Gast zu verabschieden.
Dieser unterhielt sich mit seinem wild gestikulierenden Adjutanten, von dem alle wussten, dass er zur Staatssicherheit gehörte, im Inneren des Wagens. Plötzlich stieg der Oberst wieder auf aus, wandte sich mit folgenden Worten an Leutnant Wild: „Genosse Wild, ich suspendiere Sie mit sofortiger Wirkung vom Dienst. Sie haben Sympathie zu einer Republikflüchtigen gezeigt und erste Hilfe geleistet, das ist untersagt. DDR-Flüchtlinge sind Verbrecher. Ihr Stellvertreter übernimmt ab sofort all ihre Pflichten.“
Joseph wagte zu erwidern: „Es war eine schwer verletzte, schwangere Frau.“
„Also zwei Flüchtige“ sagte der Oberst. Er stieg ein und das Auto setzte sich in Bewegung.
Joseph übergab alle Protokolle seinem Untergebenen, tauschte die Uniform gegen seinen schlichten Anzug, nahm Lucas an die Leine und ging zum Bahnhof. Einige der Soldaten riefen ihm hinterher: „Wild, du bist ein Verräter“. Die Fahrt mit dem Zug zu seinen Eltern war durch das zweimalige Umsteigen recht mühsam. Mit dem Dienstwagen brauchte er vorher nur eine knappe Stunde. Er traf am späten Nachmittag zu Hause ein. Als er das Tor öffnete, traute er seinen Augen nicht. In der Einfahrt stand ein schwarzes Fahrzeug mit Diplomatennummer. Auf der Veranda saß sein Vater und trank Wodka mit einem schwarz gekleideten Mann. Dieser rief ihm zu: „Syn moyego druga, Sohn von Freund, was für ein roter sobaka hast du, ist sicher russisch. Lass hier be tvoy Vater. Er macht Schmutz in mashinui. My idem v kazarmy, fahren zurück. Joseph konnte nicht antworten. Er sah seinen Vater an, dieser nickte. Er umarmte seine Mutter und sie fuhren los. Die ganze Strecke sprach der unheimliche Mann kein einziges Wort.
Als sie in der Kaserne ankamen, war es fast dunkel und dennoch standen alle in Reih und Glied. Selbst der Oberst, der wieder angereist war, riss die Hacken zusammen und salutierte. Der Diplomat würdigte ihn keines Blickes. Zu Joseph sagte er: „Zieh uniformu an, naden'te uniformu leytenant“.
Er küsste Joseph nach russischem Brauch auf die Wange, drehte sich zu Oberst Franz und brüllte ihn an: „Mach keine Fehler Genosse Oberst, ich lasse für dich Gulag in Sibirien wieder aufbauen. Die Sowjetunion ist groß und wir sagen dir, was gut oder schlecht ist.“ Er zwinkerte Joseph zu, stieg in den Wagen und der Fahrer fuhr los.
Oberst Franz winkte seinen Fahrer herbei, murmelte mit finsterer Miene zu Joseph: „Nichts für ungut Leutnant Wild, nehmen Sie sich in Acht“ und weg war er.
Natürlich löste der Diplomatenbesuch bei Friedrich Wild im Dorf heftige Spekulationen aus: Wild ein KGB Spion, Wild als zukünftiger Außenminister der DDR? Andere glaubten zu wissen, dass der alte Wild als junger Mann bei seinem Studium in Moskau durch einen waghalsigen Sprung in die Moskwa dem Kind eines hohen Regierungsbeamten das Leben gerettet habe. Letztere Variante könnte der Wahrheit näher kommen.
Für Leutnant Joseph Wild war diese Demütigung durch seinen Vorgesetzten eine Wende in seinem Leben. Das Heitere und Leichte, das trotz dieses grotesken Dienstes in ihm schlummerte, war über Nacht verschwunden. Besonders die Schadenfreude seiner Untergebenen bei seiner Suspendierung nagte in ihm.
Zu seinem Setter Lucas blieb er weiterhin freundlich. Wenn sie abends allein im Zimmer waren, sprach er mit ihm. Oft war es belangloses Zeug oder es waren Kindheitserinnerungen an die Zeit mit Marie in Unterdorf. Lucas hörte aufmerksam zu und man konnte glauben, dass er alles verstand, denn bei Geschichten, die auch ihn betrafen, begann er plötzlich mit der Rute zu wedeln. Oft erzählte er Lucas auch wie schön es wäre, mit der jungen Frau mit dem Setter durch die grünen Wiesen einer freien Welt zu laufen. Wenn er dann den Finger auf den Mund legte und zu Lucas sagte: „Unser Geheimnis“, fiepte diese, so als hätte er alles verstanden.
Im Alltag war Joseph wie ausgewechselt. Er hatte endlich das begriffen, was viele Menschen aus den Ostblockstaaten ausmachte: eine strikte Trennung zwischen Innen- und Außenleben.
Nach außen verkörperte Leutnant Wild den DDR-Offizier, der Wert auf strikten Dienst nach Vorschrift legte.
Unpünktlichkeit bei Dienstantritt bedeutete für die Soldaten Streichung des Ausgangs für einen Monat; Trunkenheit bedeutete drei Tage Arrest. Einschlafen während des Grenzdienstes bedeutete Verlust des Urlaubs.
Er führte die gefürchteten Politabende mit Frage-Antwort-„Spiel“ wieder ein.
Wenn Fragen wie „Warum müssen wir die DDR-Grenze beschützen?“ lapidar mit „um Flüchtlinge zu erschießen“ von einem Soldaten beantwortet wurde, betraf die Reglementierung nicht nur den Betreffenden, sondern auch seinen Zugführer. Beide mussten hundert Mal den Satz „Verletzung der Grenze von Ost nach West durch Saboteure und Reaktionäre aus dem Westen müssen verhindert werden. DDR-Flüchtige sind zu stellen“ schreiben.
Natürlich führte diese Maßnahme dazu, dass das Verhältnis zwischen Fähnrichen und den Untergebenen nicht das Beste war. Hass, Misstrauen und Verpetzen waren an der Tagesordnung.
Besonders schlecht kamen bei ihm die Söhne des Staatsicherheitsapparats weg. Oft prahlten diese verwöhnten Jasager mit der Tätigkeit der Eltern. Für sie war der Grenzdienst nur ein Sprungbrett für einen Studienplatz und deshalb waren sie bemüht sich anzubiedern und zu gefallen.
Leutnant Wild scherte sich wenig darum, Hauptsache war, dass die Stasispitzel in der Kaserne sein Durchgreifen zum Wohle des Arbeiter- und Bauernstaates an ihre Vorgesetzten weitergaben, was natürlich regelmäßig erfolgte.
Eine Beförderung ließ bei einem derartigen Pflichtbewusstsein nicht lange auf sich warten.
Oberleutnant Wild wurde jetzt mit anderen Aufgaben betraut. Er übte ab sofort auch Kontrollfunktionen über andere Grenzsektionen aus. Die Auseinandersetzungen mit dem „Fußvolk“ blieben ihm erspart.
Ihm stand ab sofort ein geräumiges möbliertes Zimmer zur Verfügung.
Bei seinen „Dienstfahrten“ verzichtete er manchmal auf seinen Fahrer, so dass er zwischendurch an einem stillen Ort anhalten und mit Lucas einen Spaziergang machen konnte.
Private Gespräche mit Soldaten lehnte er ab. Er hasste geradezu Menschen, die versuchten durch Schmeicheleien sein Wohlwollen zu erkaufen.
Er erinnert sich immer wieder an die Worte, die sein Vater ihm bei Dienstantritt mitgab:“ Suche dir deine Freunde selbst aus und sei vorsichtig und wählerisch. Halte Menschen auf Abstand, die dich angeblich bewundern, sie erhoffen sich nur Vorteile, du bist ihnen egal, sie werden dich eiskalt verkaufen. In dieser Welt gibt es viele Denunzianten, benutze sie, aber halte sie immer auf Abstand.“
Joseph war oft einsam, doch nie allein, denn er hatte Lucas, der stets an seiner Seite war.
Und da waren ja auch noch die Besuche bei seinen Eltern. Joseph genoss diese Tage. Am liebsten saß er mit seiner Mutter auf der Veranda und lauschte ihren Geschichten über den Bauernhof ihrer Eltern im Sudetenland. Herrliche Wälder, Flussauen in einem satten Grün mit weidenden Kühen, ein Garten voller Geflügel; eine beschauliche Welt, bis die Russen kamen und über das Gartentor hinweg zwei der drei Jagdhunde des Vaters erschossen. In der gleichen Nacht packte die Familie ihren Leiterwagen und sie fuhren los.
Wenn der pompöse russische Freund des Vaters auftauchte, blieb sie höflich, doch sie mochte ihn nicht.
Oft pflegte sie zu sagen: „Die Welt kann man nicht durch Arbeitslager besser machen, sondern nur durch Bildung.“ Was würde ein Dostojewski, Tolstoi, Gogol, Bulgakow oder ein Puschkin denken, wenn sie diese „armselige Diktatur des Proletariats“ und die „geschundene russische Seele“ erleben müssten?“
Joseph war verblüfft über derartige Aussagen der Mutter und er fragte sie, woher sie all diese Autoren kenne und sie bemerkte nur, dass diese Schriftsteller genau wie Goethe und Schiller auch ihren Platz in der Weltliteratur hätten.
„Die heutige Jugend kennt solche Bücher nicht, dafür müssen junge Menschen einen Strittmatter lesen oder sie werden mit Theorien über den „Sozialistischen Realismus“- eine groteske Erfindung der Kulturfunktionäre-„ gefüttert“, fügte sie hinzu.
Auch Lucas schienen solche Gespräche zu interessieren. Oder lauschte er nur so andächtig den Worten der Mutter, weil sie fast zufällig einen Belohnungshappen fallen ließ?
Allein der Vater wurde bei solchen Gesprächen unruhig und von Zeit zu Zeit schlug er vor, das Thema weiter im abhörsicheren „Schlafzimmerbunker“ weiterzuführen.
Irgendwie schien der Vater mit seinen Gedanken weit weg zu sein.
Als ihn Joseph endlich fragte, was los sei, platzte es aus ihm heraus: „In einer Woche soll hier eine Treibjagd zu Ehren unseres großen Genossen Honecker stattfinden. Die Maisernte ist noch in vollem Gange und die Zuckerrübenernte ist auch noch nicht abgeschlossen. Gestern erhielt ich die Anweisung, den Mais samt Kolben einzuackern, damit alles „blitz-blank“ sei. Es ist ein Verbrechen. Da müht man sich ein ganzes Jahr mit dem Getreide ab, um vor der Ernte mehr als zehn Tonnen Mais zu verscharren, damit die Optik stimmt. Übrigens ist der Genosse Oberleutnant Joseph Wild auch als Schütze eingeladen, welch eine Ehre. Ich soll den Treiber machen. Gut, dass der Dorfarzt mir bereits eine Verstauchung des linken Köchels bescheinigt hat“, fügte er spöttisch hinzu.
Bevor sich Joseph verabschiedete, nahm er seine Mutter, die er bedingungslos liebte, in den Arm und flüsterte ihr zu:
„Ich verspreche dir, Mutter, in meinem nächsten Urlaub werden wir beide den Ort deiner Kindheit und Jugend besuchen. Die Tschechoslowakische Republik ist jetzt unser kommunistisches Bruderland und ein Visum dürfte für mich kein Problem sein“.
Er war überrascht als sie ihm mitteilte, dass sie dies nicht wünsche: „Ich will die Bilder meiner Kindheit nicht zerstören durch eventuelle unangenehme Überraschungen“, sagte sie, was ihr Sohn durchaus verstand.
Lucas lag jetzt entspannt bei den anderen Hunden, er schien zu schlafen, doch mit einem Auge beobachtete er ständig Joseph, denn es könnte ja das Zeichen zum Aufbruch geben. Als dieser seine Jacke überzog, war Lucas plötzlich hellwach. Das fiel auch der Mutter auch und sie meinte, dass Hund und Herr ein hervorragendes Team seien, da Lucas jede kleine Geste Josephs verstand.
Da Oberstleutnant Wild freitags noch Dienst hatte, fuhr er Samstagmorgen nach Hause zurück, um bei der Treibjagd dabei zu sein. Es stand außer Frage, dass ein Fernbleiben für ihn Konsequenzen bedeutet hätte. Schweren Herzens nahm er auch Lucas mit, denn er kannte all die traurigen Geschichten, dass bei solchen Veranstaltungen die schießwütigen Teilnehmer nicht selten einen Irischen Setter mit einem Reh verwechselt hätten. Auf der Fahrt hielt Joseph seinem Gefährten eine Standpauke nach der anderen, dass dieser stets in seiner Nähe zu bleiben habe, und dass kein Wild so verführerisch rieche, um diese Regel zu brechen.
Als sie durch die Hauptstraße des Dorfes fuhren, sah dieses wie verwandelt aus. Junge Pioniere in weißen Hemden mit blauen Halstüchern hielten Plakate mit der Inschrift „Wir kämpfen um hohe Lernergebnisse“ hoch, andere versuchten eifrig die Grundschüler in Reih und Glied am Straßenrand aufzustellen.
Überall gab es Plakate mit Honeckers Gesicht und dazu passende Losungen: „Vorwärts immer, Rückwärts nimmer.“
„Meinem Friedensstaat, meine Friedenstat“, Joseph musste dabei unweigerlich an die getötete Frau an der Grenze denken.
Zwei junge Frauen hielten ihre Losung „Folgt dem Beispiel unserer Partei, arbeitet und lebt sozial“ so hoch, dass sie umkippte und die Kleinsten überdeckte. Zwei Kinder rannten in Panik davon.
Zwei Freunde seines Vaters aus der LPG trugen ein Schild: „Gute Qualität in der Arbeit ist ein Beitrag zur Stärkung der DDR“.
Joseph wurde zur Seite gewinkt. Er hielt seinen Lada an und stieg aus.
Im gleichen Moment brauste die Autokolonne des Personenschutzkommandos vorbei. Es folgten „fremdartige Geschöpfe“ aus kapitalistischer Produktion (Volvo, Mercedes G, Citroen CX Prestige, Toyota), die Fahrzeuge der Diplomaten und hohen Funktionäre, gefolgt von einem grünen Range Rover mit einem massiven Rammschutz, elektrischer Seilwinde und großen Scheinwerfern. Ein blasses Gesicht mit schwarzer Hornbrille auf dem Rücksitz schien zu winken. Oberleutnant Wild schlug automatisch die Haken zusammen und salutierte.
Als Nachhut folgten zwei Geländewagen mit Wachleuten.
Zurück blieben in Staub eingehüllte Trabis am Straßenrand und Menschen, die ihre Losungen zusammenrollten und sich auf den Rest des freien Tages freuten. Die Kinder packten ihren Fußball aus und verschwanden auf dem Bolzplatz des Dorfes.
Oberstleutnant Wild war vorerst einmal beschäftigt den aufgeregt kläffenden Lucas zu beruhigen, denn diesem war das alles nicht geheuer.
Joseph stattete seinen Eltern einen kurzen Besuch ab. Nachdem er seine Uniform durch die Jagdkleidung ausgetauscht hatte, fuhr er ins Jagdrevier. Er fuhr an kahlen „abrasierten“ Feldern vorbei. An manchen Stellen wurde das Maisstroh mit den reifen Kolben nicht ganz untergepflügt und Joseph musste an die traurigen Worte seines Vaters denken.
Nach zweimaliger Ausweiskontrolle wurde er den Schützen zugeteilt und er durfte das riesige Zelt betreten. Massive Stützpfeiler aus Metall, die Wände und der Boden mit Tannenreisig bedeckt. Ein Duft von frisch geschlagenen Tannen übertönte den Zigarettenqualm. Etwas abgelegen gab es das Zelt der Treiber, das weniger aufwendig ausgestattet war. Nach einigen Minuten wurde Oberstleutnant Wild an den Ehrentisch gebeten.
Er trat an den Tisch und salutierte in perfekter Manier.
Der Mann mit der schwarzen Hornbrille blätterte in seinen Aufzeichnungen. Als er den Namen fand, sah er hoch: „Genosse Oberstleutnant Wild, nach Aussagen unseres russischen Freunds sollen Sie einer der Besten sein. Als Offizier der Grenztruppe kämpfen Sie am antiimperialistischen Schutzwall an vorderster Front. Waidmannheil, Genosse Oberstleutnant. Abtreten.“ „Danke der Ehre, Genosse Staatsratsvorsitzender“ erwiderte der junge Grenzoffizier.
Erst dann sah Honecker Lucas, der an der linken Seite seines Herrn artig in der Sitzposition verharrte.
„Aber was wollen Sie denn bei einer Großwildjagd mit diesem Hühnerhund?“ Joseph strich Lucas über den Kopf und erwiderte: „ Er ist jeder Aufgabe gewachsen und hat meine Erwartungen stets erfüllt.“ Der Oberstleutnant schlug die Hacken zusammen, salutierte und zog sich zurück. Das Gelächter am Tisch bekam er nicht mehr mit, aber er fragte sich, ob er mit Lucas nicht zu sehr „aufgetragen“ habe.
Nach der Vorstellung aller Gäste rief der Jagdleiter die Beteiligten zum Aufbruch auf:
„Sputet euch ein bisschen, ihr wisst, Genosse Mittag will um 18 Uhr seinen ersten Hirsch schießen.“ Der Witz schien angekommen zu sein und alle setzten sich in Bewegung.
Am Waldrand mit Ausblick auf eine ausgedehnte Wiese befanden sich die Kanzeln.
Für die hohen Parteifunktionäre und die honorigen Staatsgäste wurde eine Tribüne aufgestellt mit bequemen Sitzen und einer Balustrade zum Auflegen der Waffen. Oberstleutnant Wild und die anderen Offiziere verteilte man auf Hochsitze im gebührenden Abstand zur Ehrentribüne.
Plötzlich vernahm man Treiberlärm und etwas später wurde ein Rudel stattlicher Rothirsche, die aus ungarischen Gehegen stammten, auf die Wiese getrieben. Die Tiere, die kaum in der Lage waren richtig zu laufen, blieben erschöpft in der Mitte der Wiese vor der Ehrentribüne stehen. Und nun begann ein ohrenbetäubendes Geknalle und viele Hirsche brachen an Ort und Stelle zusammen, andere schleppten sich noch trotz Verletzungen ins Dickicht des Waldes.
Joseph dachte, dass dies Zustände wie im Mittelalter bei den Jagden der Feudalherren wären und ihm fiel das Gedicht aus Sturm und Drang von G. A. Bürger ein:
„Wer bist du Fürst? Wer bist du, dass, durch Saat und Forst, das Hurra deiner Jagd mich treibt, entatmet, wie das Wild?“ Er liebte als Jugendlicher diese literarische Epoche des 18. Jahrhunderts voller Gefühle und Aufbegehren. Hatte sich die Welt nicht weiterentwickelt?
Nach wenigen Minuten war der Spuk vorbei. Eine eisige Totenstille überzog die Natur.
Zur Jagd gehörte auch das Dinner im Jagdzelt. Es bestand aus erlesenen Wildspezialitäten und bot für die Teilnehmer Gelegenheit zu diskreten Geschäftsabschlüssen. Die meisten der honorigen Gäste hatten sich schon in das grüne Jagdzelt zurückgezogen, um einen Aperitif einzunehmen.
Doch diesmal war es anders. Der kapitale ungarische Sechzehnender, den man Honecker vor die Flinte trieb und den er erlegte, war wie vom Erdboden verschwunden. Man wusste aber, dass der Staatsratsvorsitzende alle von ihm erlegten Tiere fotografiert und kategorisiert wissen wollte und dass er dabei ein richtiger Pedant war. Oft schoss er in einer Jagdsaison mehr als hundert Rothirsche.
Zu allem Übel waren an diesem Tag einige der Hundeführer schon zurück ins nahe Jagdhotel gefahren, denn das Gekläffe der Hunde würde die Unterhaltung stören. Es wurde langsam dunkel. Der hektische Jagdleiter sah Lucas an Josephs Seite und bat Oberstleutnant Wild mit seinem Hund bei der Nachsuche mitzuhelfen.
Alle Hunde wurden auf der Wiese angesetzt. Die Bracken an langer Schleppleine versuchten mit tiefer Nase Spuren aufzunehmen, doch das war bei dem vorherigen Gemetzel nicht einfach, da es viele Blutspuren gab.
Lucas richtete seine Nase in den Wind und stürmte los. Joseph folgte ihm, was bei dem Tempo des Hundes nicht einfach war.
Prompt kam der bissige Kommentar des Jagdleiters: „Der störrische Rote ist weg auf Nimmerwiedersehen!“
Auf einer Lichtung fand Joseph Lucas. Er stand regungslos vor einem Gebüsch. Von Zeit zu Zeit bellte er kurz, um seinem Herrn den Standort anzuzeigen.
Das traurige Bild, das sich Joseph bot, wird er nie vergessen. Er sah einen mächtigen Hirsch mit riesigem Geweih. Das Tier lag im hohen Gras. Als es Joseph sah, hob es seinen Kopf und blickte ihn an. Es war ein durchdringlicher Blick eines edlen Geschöpfes, das scheinbar nicht verstand, warum die Spezies Mensch, die ihn jahrelang versorgte, heute tötete.
Als die anderen Hundeführer mit dem Jagdleiter ankamen, war der Hirsch bereits tot.
Joseph saß auf einem Baumstumpf, Lucas lag neben ihm und beide blickten in die großen Augen des Hirsches, die sich nicht schließen wollten.
Einige Wochen waren vergangen, Joseph und Lukas lebten wieder in ihrem Offizierszimmer in der Grenzkaserne, da erreichte Joseph ein Brief aus Berlin. Der Brief enthielt ein Schriftstück von dem Jagdleiter, dem zuständigen Minister Mielke und dem Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker unterzeichnet mit folgendem Inhalt:
Der irische Setter Lukas hat durch seinen jagdlichen Einsatz bei der Nachsuche, geführt von Oberstleutnant Joseph Wild, das Waidwerk unseres Staatsratsvorsitzenden gekrönt und den kapitalsten Hirsch, den er je erlegt hatte, durch Totverbellen angezeigt. Eine silberne Plakette an der Trophäe wird stets daran erinnern.
Ab sofort trägt der Rüde den Titel „Held der sozialistischen Arbeit“ und dieser ausgezeichnete Hund steht unter dem Schutz des Staates. Seine Ernährungs- und Tierarztkosten werden vom Staat getragen. Die Tötung oder Verletzung des Tieres wird unter Strafe gestellt. Das beiliegende Halsband in den Staatsfarben der DDR mit dem Namen des Besitzers Genosse Oberstleutnant Wild ist ein Beweis unserer Anerkennung.
Als am folgenden Wochenende Joseph seine Eltern besuchte und über die Auszeichnung von Lukas berichtete, amüsierte sich sein Vater prächtig. Er verneigte sich vor dem sozialistischen Helden Lucas und sagte ihm eine glänzende kommunistische Karriere voraus.
Sonntagabend kehrte Joseph in die Grenzkaserne zurück, hängte eine Kopie der Urkunde an die Mitteilungstafel, rief anschließend die Soldaten zusammen, legte Lucas vor versammelter Mannschaft das Halsband an und erinnerte seine Untergebenen daran, dass er erwarte, dass ab sofort seinem Hund, die Achtung zu teil werde, die ihm zusteht und er ergänzte:
„Dem Setter Lucas steht ab sofort jede Bewegungsfreiheit zu. Der Leinenzwang für den prämierten „Parteihund“ ist aufgehoben. Eine Verwechslung mit einem anderen Hund oder Wildtier ist durch das Halsband unmöglich. Witzeleien oder Späßchen auf Kosten von Lucas bedeuten Bunker. Seine körperliche Unversehrtheit steht an erster Stelle. Zuwiderhandlungen bedeuten Militärgericht.“
Als Joseph wieder allein in seiner Stube war, musste er erst einmal kräftig lachen. Er stellte sich immer wieder die Grenzsoldaten vor, die sich seinen Vortrag mit verdutzten Gesichtern anhörten.
Abends saß er auf seinem Wachturm und beobachtete mit seinem Fernglas die Wiesen im „Feindesland“. Und wieder sah er die junge Frau, die verzweifelt versuchte ihren Setter anzuleinen. Sie schien auf ihn einzureden und er ließ sie auch bis auf einen Meter an sich herankommen, um dann das Weite zu suchen. Joseph amüsierte sich köstlich bei diesem Anblick und dachte nur: „Lucas würde ich das nicht durchgehen lassen.“
Leider holten ihn in den nächsten Tagen seine selbstsicheren Gedanken ein, denn nach dem Abendspaziergang hob plötzlich Lucas seine Nase in den Wind, er schien mit seinen Lefzen die Witterung zu kauen, er begann zu winseln und plötzlich war er verschwunden.
Joseph pfiff mit seiner Trillerpfeife, was das Zeug hielt, doch der Rotschopf war nirgends zu sehen.
Ein Stück Wild? Unwahrscheinlich, denn der gut ausgebildete Jagdhund war gehorsam und Hetzen war nicht seine Sache.
Joseph ging zum Wachturm zurück, beauftragte zwei Grenzer, die Botschaft an alle Wachsoldaten weiter zu geben, dass der „Parteihund“ Freigang habe und jeder verpflichtet sei, dafür zu sorgen, dass dieser unbeschadet zu seinem Besitzer zurückfinde.
Er ließ sich seine Verärgerung und Enttäuschung über seinen „Streuner“ nicht anmerken, nahm sein Fernglas, um den Kontrollstreifen zu beobachten, denn an einigen Stellen des Zaunes gab es Öffnungen zum Durchgang des Wildes. Dadurch wollte man verhindern, dass „falscher Alarm“ ausgelöst wurde.
Auf dem Kontrollstreifen war kein Hund zu sehen, aber der Anblick, der sich ihm bot, als er sein Fernglas über die Wiesen jenseits des Zaunes schweifte, ließ ihm den Atem stocken:
Zwei Setter tobten über die Wiese. Sie jagten sich gegenseitig hielten inne, legten die Vorderpfoten auf den Boden, musterten sich, um dann ihren wilden Tanz fortzuführen.
(Auf die Technik von Zeiss –Jena ist Verlass und Joseph war nah am Geschehen.)
Die Frau versuchte die Hündin am festzuhalten, was ihr nicht gelang, dann fasste sie den Rüden am Halsband, schien inne zu halten, ging in die Hocke und studierte scheinbar die Gravur.
Plötzlich lachte sie, ihr wurde scheinbar einiges klar. Im gleichen Augenblick riss sich der Rüde los, stürmte zur Hündin und dann war es geschehen. Die Frau ging zu beiden Hunden strich ihnen mit der Hand über den Kopf und wartete geduldig bis sie sich lösten.
Sie leinte die Hündin an und ging Richtung Dorf. Beide drehten sich noch einige Male um und sahen zurück. Die vorher von Leben pulsierende Wiese war jetzt leer. Die Frau hob die Hand und winkte Richtung Niemandsland. Es war ihr bewusst, dass diese Geste nirgends ankam.
Oder doch?
Joseph ließ sein Fernglas sinken, stieg den Wachturm hinab und traute seinen Augen nicht, denn im Gras lag ein kräftig hechelnder schuldbewusster Lucas. Er strich dem hoch dekorierten „Republikflüchtling“ sanft über den Oberkopf, leinte ihn an und ging mit ihm in seine Stube. Lucas leerte eine Schüssel Wasser und legte sich auf seine Decke.
Joseph dachte: Leben kann so schön und ehrlich und ohne Grenzen sein. Fontane würde mit Wüllersdorf sagen: “diese Tiere sind uns über.“
.
Ost Berlin, die Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik. Joseph kannte sie kaum. Vor Jahren war er einige Male bei Offizierstagungen nur kurz in Ost Berlin.
Jetzt wollte sich der Mann aus dem „Niemandsland“ einige Tage Zeit nehmen, um die Stadt mit ihren Museen und kulturellen Einrichtungen besser kennen zu lernen.
Doch gab es so viel Neues in Ost Berlin?
Auf den Straßen fuhren noch immer die gleichen Trabis und Wartburgs. Vor den Lebensmittelläden standen noch immer die Menschen Schlange. Er schlenderte über den Alexanderplatz und sah fast fünfzig, hauptsächlich Frauen, die sich in das „Centrum Warenhaus“ drängten. Neugierig folgte er der Menge und stellte fest, dass es um nichts Weiteres als Bananen ging.
In einem Café in der Nähe wollte er eine Berliner Weiße trinken, als er plötzlich von zwei Polizisten in Zivil gebeten wurde, sich auszuweisen. Er schob seinen Offiziersausweis hin, die beiden entschuldigten sich und verschwanden. Wahrscheinlich tun sie nur ihre Pflicht dachte er, und dennoch überkam ihn ein leichtes Unbehagen.
An den Schaukästen der Kinos gab es Plakate mit Westfilmen und Sergio Leones „Es war einmal in Amerika“ war der große Renner.
An der Kasse des Berliner Ensembles wollte er seine Karte für die „Galilei Aufführung“, die auf dem Offizierskontigent hinterlegt war, abholen. Seine Enttäuschung war groß, als ihm eine junge hübsche Frau an der Kasse erklärte, dass „Galilei“ durch das Lehrstück „Die Tage der Kommune“ ausgetauscht wurde. Darauf hatte er keine große Lust. Als die Kassiererin seine Enttäuschung merkte, riet sie ihm, im Palast der Republik das „Festival des politischen Liedes“ zu besuchen. Sie könnte für ihn an der Kasse eine Karte zurücklegen lassen .Das Konzert sei etwas ganz Besonderes und sie flüsterte ihm die Namen Udo Lindenberg und Harry Belafonte ins Ohr.
Ihre Nähe faszinierte ihn und er sagte spontan: „Wenn sie mich begleiten, bin ich bereit.“ Darauf war die junge Frau wahrscheinlich nicht gefasst und sie überlegte kurz, tätigte einen Anruf und stimmte zu. Später sagte sie ihm, dass es für sie als seine Begleitung eine einmalige Chance war, diese Veranstaltung zu besuchen, denn es war bekannt, dass das Publikum nur aus jungen Funktionären und Offizieren bestand. Diese wurden mit Bussen angekarrt, die sich auf dem Parkplatz brav aneinanderreihten.
Sie trafen sich am Abend im Foyer des Palastes der Republik. Joseph war von der Eleganz und dem Ambiente beeindruckt: Teure Ledersessel mit jungen knutschenden Menschen, aber auch einige „ältere Semester“ waren darunter.
Udo Lindenberg bemühte sich mit seinen pazifistischen Texten und seiner rauchigen Stimme ein Zeichen für den Frieden zu setzen und die jungen Menschen zu bewegen, was ihm kaum gelang.
Enttäuscht verließ er bei artigem Applaus die Bühne. Die Reaktion des Publikums war für Oberstleutnant Joseph selbstverständlich, da er dieses eifrige Klatschen von vielen Veranstaltungen kannte. Seine Begleiterin schien mehr erwartet zu haben. Ihre Unzufriedenheit ließ Joseph vorsichtig werden. War es vielleicht eine Genossin, die ihn unter die Lupe nehmen sollte. Er wurde etwas eintönig. Daraufhin verschwand sie auch schnell mit der Begründung, ihre Tochter, die sie vorher nicht erwähnte, würde auf sie warten.
Am nächsten Morgen wollte Joseph seinen Studienfreund Egon Schramm, der in einer Offizierswohnung in der Bouchéstraße untergebracht war und am Brandenburger Tor die Plattform für Staatsgäste mit seinen Grenzsoldaten überwachte, besuchen.
Da er Egon nicht zu Hause antraf, beschloss er seinen Freund an seinem Arbeitsplatz zu überraschen. Er schlenderte auf das Brandenburger Tor zu und hielt Ausschau nach den Grenzsoldaten.
Plötzlich wurde er von zwei Männern in Zivil zu Boden gerissen und eine Maschinenpistole zielte auf seinen Kopf. Er hörte, wie einer der Beamten die Meldung weiter gab: „Republikflüchtiger Zivilist am Brandenburger Tor gefasst.“ Er wurde auf den Rücken gedreht und durchsucht. Einer der Männer zog Josephs Offiziersausweis hervor und stand plötzlich stramm: „Entschuldigen sie bitte, Herr Oberstleutnant, es war ein Versehen, wir haben Sie für eine Zivilperson gehalten und sie kennen ja die Anordnungen.“ In der Zwischenzeit war auch Egon zur Stelle und lachte sich krank. „Alter Freund, hier stolziert man nicht mit grauem Mantel lässig durch die Gegend, das kannst du in deinem „Niemandsland“ tun, sagte er.
Joseph wischte sich den Schmutz von den Kleidern und murmelte nur: „Wozu diese rohe Gewalt, ich hätte mich ausweisen können.“ Verstört drehte er sich um und ging.
„Ich habe gleich Dienstschluss, lass uns ein Bier trinken, du Spielverderber“, rief ihm Egon nach. Joseph ging weiter, so als hätte er den Vorschlag seines Freundes nicht vernommen. Er murmelte weiter vor sich hin: “Wozu diese rohe Gewalt?“
Am gleichen Abend fuhr er zu seinen Eltern zurück. Er sprach kein Wort. Er zog sich in sein Zimmer zurück, Lucas folgte ihm.
Als seine Mutter später nach ihm sah, saß er auf dem Bett und streichelte Lukas über den Oberkopf. Er sah sie traurig an und sagte nur: „Bis heute habe ich gedacht, wir tun das Richtige“.
Die folgenden Wochen verbrachte Oberstleutnant Joseph Wild wieder in der Kaserne und er war froh, dass es an der Grenze keine Zwischenfälle gab.
Bei seinen, bei den Grenzsoldaten gefürchteten, Politabenden mit Frage-Antwort-„Spiel“ ertappte er sich immer wieder, dass er in seinem Kopf die stereotypen Formulierungen hinterfragte. Selbst Lucas merkte, dass Joseph nicht ganz bei der Sache war und er wurde immer „eigenständiger“ und büxte auch manchmal aus. Sein Besitzer ließ es ihm durchgehen, denn Lucas „Parteihalsband“ war der Garant für dessen Unversehrtheit. Als er an einem Herbsttag aber mehr als eine Stunde wegblieb, wurde Joseph unruhig. Er nahm sein Fernglas und begab sich auf den Grenzturm, um nach dem Ausreißer Ausschau zu halten.
Er traute seinen Augen nicht. Auf der Wiese im „Feindesland“ tobte eine Horde Setterwelpen und dazwischen erspähte er Lucas, der sie kräftig aufmischte. Eine junge Frau warf bunte Bälle durch die Gegend und sie schien viel Spaß zu haben. Neben ihr stand ein erwachsener Setter, bestimmt die Mutter der kleinen Rabauken, die scheinbar von dem bunten Treiben wenig hielt oder einfach nur ihre Atempause genoss.
Joseph lächelte vor sich hin, vielleicht beneidete er Lucas auch. Dieser schlaue Hund ignorierte die von Menschen aufgetürmten Grenzzäune, er genoss seine Freiheit im Kreise seiner ungestümen Kinder. Und Joseph war glücklich, als er sah, dass diese junge Frau Lucas über sein seidenes Haar strich. Wie gerne wäre er an dessen Stelle gewesen.
Und wieder kamen diese Kindheitserinnerungen auf und Joseph wusste nicht ob sie schön oder schmerzhaft waren.
Manchmal dachte Joseph auch darüber nach wie sein Leben verlaufen wäre, wenn man ihm erlaubt hätte seinen Neigungen zu folgen und Literatur zu studieren: Lessing, Heine, Goethe Schiller, Hölderlin, Rilke, Hesse, Thomas Mann. Wie wären wohl diese großen Männer mit diesen grauen Grenzzäunen umgegangen?
Hätten sie sich auch einem politischen System untergeordnet und Geschichten über Entenzucht in der LPG verfasst oder Hymnen an einen Traktor geschrieben?
Vielleicht auch wären sie in die „innere Emmigration“ gegangen, wahrscheinlicher aber ist, dass sie sich gewehrt hätten.
Weihnachten verbrachte Joseph dieses Jahr bei seinen Eltern. Er und Lucas begleiteten seinen Vater zur Jagd. Verwundert blickte der Vater Joseph an, da dieser keine Lust hatte eine Büchse mitzunehmen. „Du triffst für uns beide und außerdem trage ich schon mein halbes Leben im Dienst Waffen mit mir herum. Dir als Sonntagsschütze, der für den Weihnachtsbraten zuständig ist, sei sie gegönnt “, meinte dieser.
Schnippisch erwiderte der Vater, dass bei solch einem hoch dekorierten Parteihund auch seine eigene Büchse überflüssig sei, da Lucas bestimmt das Wild allein erledigen und anschließend ein Freudengebell auf die SED Führung anstimmen wird.
Die Jagd war erfolgreich und natürlich trug Lucas seinen Teil dazu bei.
Auch dieses Jahr gab es einen Rehbraten mit böhmischen Knödel und Rotkraut und zum Nachtisch nach einem Familienrezept aus der Heimat der Mutter.
Kurz nach Mitternacht wurden alle Tiere im Stall gefüttert und die Hunde erhielten auch ein Stück Braten. Diese alte Tradition versinnbildlichte den Respekt, den man als Mensch allen Lebewesen schuldet, erklärte ihm einmal der Vater.
Unwillkürlich fragte sich Joseph: „Und wo bleibt die Achtung vor dem Menschen?“ Und wieder mal musste er an die Demütigung am Brandenburger Tor denken.
Den Silvesterabend verbrachte der Hagestolz in der Grenzkaserne. Bei den Grenzoffizieren lagen an solchen Tagen die Nerven blank, denn häufig flogen die Böller aus dem Westen über die Mauer und lösten Alarm aus. Trotz striktem Alkoholverbot waren manche der Soldaten angetrunken und so unberechenbar.
An diesem Abend gab es keine besonderen Vorkommnisse und Oberstleutnant Wild übergab die Aufsicht an einen zuverlässigen Untergebenen, nahm Lucas an die Leine und zog sich in der Hoffnung, dem derben Ess- und Schweißgeruch zu entgehen, auf den Kontrollturm zurück.
Die frische Luft tat ihm gut. Das Knallen mochte er nicht, dennoch störte es ihn wenig, eine ähnliche Geräuschkulisse kannte er vom Schießstand. Obwohl auch in der DDR Böller wie „Filou“ oder „Blitzschläge“ im Handel angeboten wurden, war in Josephs Elternhaus die Begeisterung dafür gering.
Die Mutter bedauerte die armen Wildtiere, die aufgescheucht wurden und dann umherirren und der Vater erinnerte sich dabei an die grausamen Raketen über den Schützengräben.
„An manchen Fassaden der Häuser sind noch die Einschusslöcher des Krieges zu sehen und sie „üben“ schon für den nächsten und „pulvern“ das Geld in die Luft. Eine Flasche Rotwein ist mir lieber“, meinte der Vater.
An diesem Abend war es an der Grenze fast still, verglichen mit den Jahren davor. Auch der Westen „protzte“ dieses Jahr nicht mit neuesten amerikanischen Importböllern.
Josephs Blick streifte über die Wipfel der Bäume, während seine Hand über Lucas Rücken glitt. Er fühlte sich wohl hier oben mit seinem Hund weit weg von dieser verrückten Realität.
Doch plötzlich wurde er hellwach. Was war das? Unzählige Wunderkerzen leuchteten auf der Wiese gegenüber der Grenze auf. Kreise in der dunklen Nacht, Linien. Eine Sprühkerze hüpfte auf und nieder und zeichnete ein „M“ in die Winternacht.
„Marie“ sagte Joseph halblaut. Er lächelte vor sich hin.
Als Kind hatte er einmal am Silvesterabend sich aus dem Haus geschlichen und vor Maries Fenster viele Wunderkerzen, das einzige Feuerspektakel, das der Vater erlaubte, zum Sprühen gebracht.
Marie öffnete das Fenster und winkte ihm kurz zu und er war überglücklich.
„Damals war die Welt noch in Ordnung“, sagte er traurig zu Lucas.
Fortsetzung 11
Im folgenden Frühjahr kam Bewegung in das Grenzgebiet. Oberstleutnant Wild war damit beschäftigt den Abbau der Selbstschussanlagen zu überwachen. Anschließend kamen Spezialisten, um die vergrabenen Minen zu entsichern und abzutransportieren.
Joseph strich Lucas übers Fell und flüsterte ihm zu:“ Das tun sie für dich, du Grenzgänger. Du musst dich schon entscheiden: pflichtbewusster Parteihund oder Liebhaber der „Wessi - Setter“-Hündinnen. Könntest du lesen, wüsstest du, dass es seit letztem Jahr die Verordnung zur Familienzusammenführung zwischen Ausländern und DDR-Menschen gibt. Und du bist doch ein Mensch und kein Hund bei deinen hohen Ehrungen. Und du bist ja auch manch einem „homo sapiens“ überlegen, denn du kapierst schneller als mancher Zweibeiner und bist treuer und weniger verlogen.“
Der alte Wild konnte seinem Sohn aber die wahren Gründe für die Grenzumbauten nennen:
„Ein Milliardenkredit, den der gewiefte Schalk und der dicke Bayer Franz Joseph ausgehandelt haben, lässt Wunder geschehen. Scheinbar pfeifen wir aus dem letzten Loch und brauchen die Hilfe des „Klassenfeindes“, meinte er.
Joseph war mal wieder erstaunt über die Informationsquellen seines Vaters, welche dieser auch seinem Sohn nie preisgab. Die Verbindungen des alten „Fuchses“ schienen aber weit nach oben zu reichen.
An einem verregneten Abend machte Oberstleutnant Wild nur widerwillig seinen letzten Kontrollgang. Er forderte Lucas auf ihn zu begleiten, doch dieser rollte sich auf seiner Decke zusammen und tat so als würde er schlafen. „Faulpelz“ schimpfte Joseph und er verließ allein die Stube.
Als er gerade dabei war, missmutig die Außentür der Kaserne zu öffnen, wurde er aus seiner Lethargie gerissen. Eine Leuchtrakete bohrte sich in ungefähr 200 Meter Entfernung in den Himmel. Es folgte ein ohrenbetäubendes Sirenenheulen. Joseph drückte den Alarmknopf und ließ die Mannschaft antreten.
Es dauerte nicht lange, da tauchten zwei Grenzsoldaten auf, die eine weinende Frau vor sich her schubsten. Sie war durchnässt und beteuerte immer wieder: „ Ich habe doch nur diesen kleinen Ausreißer gesucht“. In ihrem Arm hielt sie ein kleines nasses fiependes Bündel.
„Nenne uns sofort deine Helfer, wenn wir sie finden, werden wir sie erschießen“, brüllte Feldwebel Schneider, der für seine Linientreue bekannt war. Er war euphorisch und überdreht. Er stieß die Frau wieder nach vorne. Das Bündel glitt ihr aus dem Arm und ein durchnässter kleiner Setter fiel zu Boden.
Der Feldwebel holte in seiner Rage aus, um dem kleinen Hund einen Tritt zu verpassen. Blitzschnell verbiss sich Lucas, dessen Anwesenheit bis jetzt niemandem aufgefallen war, im Bein des wütenden Grenzers. Dieser zog seine Waffe, um auf Lucas zu schießen.
Joseph, der bis jetzt wie gelähmt dastand, erkannte die Gefahr für Lucas. Er schlug dem Feldwebel die Waffe aus der Hand und sagte mit zitternder Stimme zu seinen stellvertretenden Offizier: „Genosse, bringen Sie den Lümmel in den Bau. Er war anwesend, als ich der Kompanie mitteilte, dass dieser Hund durch seine besonderen Verdienste den Schutz von oberster Stelle genießt. Und führt die Frau zum Verhör in meine Stube. Ich will nicht gestört werden. Ein Posten soll vor meiner Tür Stellung beziehen.“
In der Zwischenzeit waren für Joseph die Zusammenhänge klar und er wunderte sich selbst über die Ruhe, die von ihm ausging.
Als er mit der Frau allein war, bot er ihr einen Stuhl an und sagte mit zitternder Stimme: „Sie sind doch Marie, Sie haben mich bestimmt auch erkannt, ich bin Joseph. Sie nickte.
Er ging an seinen Schrank suchte ein sauberes Hemd sowie eine Sporthose und Socken, legte alles aufs Bett und sagte:
„Ich muss einen klaren Kopf bekommen und telefonieren, ich bin gleich wieder hier. Es wird Sie niemand stören. Diese Kleidungsstücke sind zwar nicht in ihrer Größe, aber sie sind trocken.“
Der kleine Setter hatte sich auf Lucas Hundebett breit gemacht und war dabei das eine Ende der Decke anzunagen. Lucas lag daneben und er beobachtete ihn voller Bewunderung.
Als Joseph zur Tür ging, sah er, dass Marie heimlich versuchte ihre Tränen wegzuwischen.
„Marie, ich habe dich immer beschützt vor den Wespen auf dem Obstkuchen meiner Mutter, dem Truthahn der Nachbarn, dem fauchenden Kater, den Jungs, die dich mit Schneebällen bewarfen und später in Gedanken vor allem Bösen. Das habe ich deinem Vater versprochen. Ich werde es immer tun, auch jetzt.“
„Danke, Joseph“, sagte sie und trocknete ihr nasses Haar mit einem Handtuch, das auch auf dem Bett bereitlag.
Joseph ging in sein Dienstzimmer , er rief seinen Vater an und schilderte ihm den Vorfall. Dieser war lange sprachlos, so dass Joseph die Stille unheimlich wurde.
Dann sprach er leise und bestimmt: „Du tust gar nichts und du hälst Marie von allem und allen fern. Ich erledige das bis morgen früh.“
Joseph kehrte in sein Zimmer zurück, Marie hatte die trockenen Kleider angezogen und die nassen auf die Heizung gelegt. Als er eintrat, war sie dabei Lucas zu streicheln. Joseph legte seine Dienstjacke ab.
Jetzt saßen sie sich gegenüber, die junge Frau und der Mann aus zwei verschiedenen Hemisphären und sie sahen sich schweigend an, die Kinder von einst.
Joseph stellte zwei Tassen Tee auf den Tisch. Ihre Augen trafen sich; Wehmut, Trauer, Sehnsucht nach einer Welt, die es nicht gab.
Im Morgengrauen fuhr ein Wagen vor. Ein elegant gekleideter Mann sprang heraus, nachdem sein Fahrer ihm die Tür öffnete. Er legte sofort mit polternder Stimme und russischen Kraftausdrücken los:
„Wer hat es gewagt meine Agentin zu verhaften, Oberstleutnant Wild, das wird für Sie Konsequenzen haben. Ich werde Ihren General informieren. Bringen Sie die Dame sofort in mein Fahrzeug und den Hund, welchen sie als Tarnung dabei hatte, ebenfalls. Oberstleutnant, Sie werden mich begleiten.
In der Zwischenzeit war das Grenzregiment angetreten. Alle standen eingeschüchtert in Reih und Glied. Nur einer wagte zu flüstern: “ Jetzt hat der Wild es endgültig versch…“
Joseph hörte den Kommentar, verzog aber keine Mine. Er nahm auf dem Rücksitz des Wagens neben Marie Platz. Im Fußraum lag der kleine Setter, der aufmüpfig an Josephs Stiefel nagte. Wahrscheinlich wäre er lieber bei seinem Vater Lucas geblieben.
Der Wagen fuhr los und keiner sprach ein Wort.
Sie fuhren über holprige Straßen die Grenze entlang. Als Joseph den kleinen Setter dezent vom Nagen seines Schuhwerks abhalten wollte, traf seine Hand auf die von Marie, die auf dem Rücken des Hundes lag. Die beiden Hände verkrampften sich ineinander. Die Zeit schien plötzlich still zu stehen.
Sie fuhren an eine der geheimen, sogenannten operativen Grenzschleusen, die vom Zentralkomitee der SED eingerichtet wurden, um Funktionäre in beide Richtungen zu schleusen und die auch Agenten des Warschauer Pakts zur Verfügung standen.
Der Russe verschwand mit Marie und dem Welpen in einer überdimensionalen Betonröhre und kehrte kurz danach allein zurück.
Eine Stunde später hielt der Wagen wieder vor der Kaserne, Joseph stieg aus, murmelte „spasiba“ und obwohl Lucas ihn freudig begrüßte, empfand er eine große unerträgliche Leere in seinem Inneren.
Er versuchte seine Stube aufzuräumen. In den noch nassen Handtüchern, in seinen Kleidungsstücken, die er am Abend davor Marie zurechtlegte, überall war noch ihr Duft zu spüren. Der muffige Geruch seines Kasernenzimmers war verschwunden.
„So muss das wahre Leben sein, so wird es sich anfühlen“, dachte er.
Für einen Augenblick war er glücklich.
Im folgenden Frühjahr kam Bewegung in das Grenzgebiet. Oberstleutnant Wild war damit beschäftigt den Abbau der Selbstschussanlagen zu überwachen. Anschließend kamen Spezialisten, um die vergrabenen Minen zu entsichern und abzutransportieren.
Joseph strich Lucas übers Fell und flüsterte ihm zu:“ Das tun sie für dich, du Grenzgänger. Du musst dich schon entscheiden: pflichtbewusster Parteihund oder Liebhaber der „Wessi - Setter“-Hündinnen. Könntest du lesen, wüsstest du, dass es seit letztem Jahr die Verordnung zur Familienzusammenführung zwischen Ausländern und DDR-Menschen gibt. Und du bist doch ein Mensch und kein Hund bei deinen hohen Ehrungen. Und du bist ja auch manch einem „homo sapiens“ überlegen, denn du kapierst schneller als mancher Zweibeiner und bist treuer und weniger verlogen.“
Der alte Wild konnte seinem Sohn aber die wahren Gründe für die Grenzumbauten nennen:
„Ein Milliardenkredit, den der gewiefte Schalk und der dicke Bayer Franz Joseph ausgehandelt haben, lässt Wunder geschehen. Scheinbar pfeifen wir aus dem letzten Loch und brauchen die Hilfe des „Klassenfeindes“, meinte er.
Joseph war mal wieder erstaunt über die Informationsquellen seines Vaters, welche dieser auch seinem Sohn nie preisgab. Die Verbindungen des alten „Fuchses“ schienen aber weit nach oben zu reichen.
An einem verregneten Abend machte Oberstleutnant Wild nur widerwillig seinen letzten Kontrollgang. Er forderte Lucas auf ihn zu begleiten, doch dieser rollte sich auf seiner Decke zusammen und tat so als würde er schlafen. „Faulpelz“ schimpfte Joseph und er verließ allein die Stube.
Als er gerade dabei war, missmutig die Außentür der Kaserne zu öffnen, wurde er aus seiner Lethargie gerissen. Eine Leuchtrakete bohrte sich in ungefähr 200 Meter Entfernung in den Himmel. Es folgte ein ohrenbetäubendes Sirenenheulen. Joseph drückte den Alarmknopf und ließ die Mannschaft antreten.
Es dauerte nicht lange, da tauchten zwei Grenzsoldaten auf, die eine weinende Frau vor sich her schubsten. Sie war durchnässt und beteuerte immer wieder: „ Ich habe doch nur diesen kleinen Ausreißer gesucht“. In ihrem Arm hielt sie ein kleines nasses fiependes Bündel.
„Nenne uns sofort deine Helfer, wenn wir sie finden, werden wir sie erschießen“, brüllte Feldwebel Schneider, der für seine Linientreue bekannt war. Er war euphorisch und überdreht. Er stieß die Frau wieder nach vorne. Das Bündel glitt ihr aus dem Arm und ein durchnässter kleiner Setter fiel zu Boden.
Der Feldwebel holte in seiner Rage aus, um dem kleinen Hund einen Tritt zu verpassen. Blitzschnell verbiss sich Lucas, dessen Anwesenheit bis jetzt niemandem aufgefallen war, im Bein des wütenden Grenzers. Dieser zog seine Waffe, um auf Lucas zu schießen.
Joseph, der bis jetzt wie gelähmt dastand, erkannte die Gefahr für Lucas. Er schlug dem Feldwebel die Waffe aus der Hand und sagte mit zitternder Stimme zu seinen stellvertretenden Offizier: „Genosse, bringen Sie den Lümmel in den Bau. Er war anwesend, als ich der Kompanie mitteilte, dass dieser Hund durch seine besonderen Verdienste den Schutz von oberster Stelle genießt. Und führt die Frau zum Verhör in meine Stube. Ich will nicht gestört werden. Ein Posten soll vor meiner Tür Stellung beziehen.“
In der Zwischenzeit waren für Joseph die Zusammenhänge klar und er wunderte sich selbst über die Ruhe, die von ihm ausging.
Als er mit der Frau allein war, bot er ihr einen Stuhl an und sagte mit zitternder Stimme: „Sie sind doch Marie, Sie haben mich bestimmt auch erkannt, ich bin Joseph. Sie nickte.
Er ging an seinen Schrank suchte ein sauberes Hemd sowie eine Sporthose und Socken, legte alles aufs Bett und sagte:
„Ich muss einen klaren Kopf bekommen und telefonieren, ich bin gleich wieder hier. Es wird Sie niemand stören. Diese Kleidungsstücke sind zwar nicht in ihrer Größe, aber sie sind trocken.“
Der kleine Setter hatte sich auf Lucas Hundebett breit gemacht und war dabei das eine Ende der Decke anzunagen. Lucas lag daneben und er beobachtete ihn voller Bewunderung.
Als Joseph zur Tür ging, sah er, dass Marie heimlich versuchte ihre Tränen wegzuwischen.
„Marie, ich habe dich immer beschützt vor den Wespen auf dem Obstkuchen meiner Mutter, dem Truthahn der Nachbarn, dem fauchenden Kater, den Jungs, die dich mit Schneebällen bewarfen und später in Gedanken vor allem Bösen. Das habe ich deinem Vater versprochen. Ich werde es immer tun, auch jetzt.“
„Danke, Joseph“, sagte sie und trocknete ihr nasses Haar mit einem Handtuch, das auch auf dem Bett bereitlag.
Joseph ging in sein Dienstzimmer , er rief seinen Vater an und schilderte ihm den Vorfall. Dieser war lange sprachlos, so dass Joseph die Stille unheimlich wurde.
Dann sprach er leise und bestimmt: „Du tust gar nichts und du hälst Marie von allem und allen fern. Ich erledige das bis morgen früh.“
Joseph kehrte in sein Zimmer zurück, Marie hatte die trockenen Kleider angezogen und die nassen auf die Heizung gelegt. Als er eintrat, war sie dabei Lucas zu streicheln. Joseph legte seine Dienstjacke ab.
Jetzt saßen sie sich gegenüber, die junge Frau und der Mann aus zwei verschiedenen Hemisphären und sie sahen sich schweigend an, die Kinder von einst.
Joseph stellte zwei Tassen Tee auf den Tisch. Ihre Augen trafen sich; Wehmut, Trauer, Sehnsucht nach einer Welt, die es nicht gab.
Im Morgengrauen fuhr ein Wagen vor. Ein elegant gekleideter Mann sprang heraus, nachdem sein Fahrer ihm die Tür öffnete. Er legte sofort mit polternder Stimme und russischen Kraftausdrücken los:
„Wer hat es gewagt meine Agentin zu verhaften, Oberstleutnant Wild, das wird für Sie Konsequenzen haben. Ich werde Ihren General informieren. Bringen Sie die Dame sofort in mein Fahrzeug und den Hund, welchen sie als Tarnung dabei hatte, ebenfalls. Oberstleutnant, Sie werden mich begleiten.
In der Zwischenzeit war das Grenzregiment angetreten. Alle standen eingeschüchtert in Reih und Glied. Nur einer wagte zu flüstern: “ Jetzt hat der Wild es endgültig versch…“
Joseph hörte den Kommentar, verzog aber keine Mine. Er nahm auf dem Rücksitz des Wagens neben Marie Platz. Im Fußraum lag der kleine Setter, der aufmüpfig an Josephs Stiefel nagte. Wahrscheinlich wäre er lieber bei seinem Vater Lucas geblieben.
Der Wagen fuhr los und keiner sprach ein Wort.
Sie fuhren über holprige Straßen die Grenze entlang. Als Joseph den kleinen Setter dezent vom Nagen seines Schuhwerks abhalten wollte, traf seine Hand auf die von Marie, die auf dem Rücken des Hundes lag. Die beiden Hände verkrampften sich ineinander. Die Zeit schien plötzlich still zu stehen.
Sie fuhren an eine der geheimen, sogenannten operativen Grenzschleusen, die vom Zentralkomitee der SED eingerichtet wurden, um Funktionäre in beide Richtungen zu schleusen und die auch Agenten des Warschauer Pakts zur Verfügung standen.
Der Russe verschwand mit Marie und dem Welpen in einer überdimensionalen Betonröhre und kehrte kurz danach allein zurück.
Eine Stunde später hielt der Wagen wieder vor der Kaserne, Joseph stieg aus, murmelte „spasiba“ und obwohl Lucas ihn freudig begrüßte, empfand er eine große unerträgliche Leere in seinem Inneren.
Er versuchte seine Stube aufzuräumen. In den noch nassen Handtüchern, in seinen Kleidungsstücken, die er am Abend davor Marie zurechtlegte, überall war noch ihr Duft zu spüren. Der muffige Geruch seines Kasernenzimmers war verschwunden.
„So muss das wahre Leben sein, so wird es sich anfühlen“, dachte er.
Für einen Augenblick war er glücklich.
An einem der folgenden Tage kam der Mann in dem schwarzen Wolga erneut bei Josephs Vater vorbei.
Nachdem sie drei Becher Wodka geleert hatten, sagte der Russe in seinem ulkigen Deutsch: „Grenze ist Problem für Sohn. Neue Rabota für Major Wild Schreibtisch in Erfurt.“
Die Versetzung ließ nicht lange auf sich warten. Seine neue Dienststelle war das Grenzkommando Süd in Erfurt. Natürlich wurde Joseph gleichzeitig für seine „Verdienste für die sowjetische Brudernation“ zum Major befördert. An seiner Tür wurde ein glänzendes Messingschild „Stellvertretender Dienstellenleiter Genosse Major Wild“ angebracht.
Auf seinem Tisch häuften sich Akten, die er „gelegentlich“ durchsehen sollte. Unter seinem Tisch in einem bequem gepolsterten Weidenkorb ruhte Lukas. Sein Parteihalsband zeigte Abnutzungsspuren, seine Lefzen und seine Augenbraun hatten ihr dunkles Braun verloren und ein weißgrauer Schleier auf dem Nasenrücken verlieh ihm die Überlegenheit und Würde eines alten Herren, der voller Stolz sein Leben gemeistert hat.
Besonders freute er sich auf die Spaziergänge im ega-Park oder im nahen Steigerwald. An sonnigen Tagen ging es manchmal nach Dienstschluss in den Zoopark. Besonders die Voliere mit den Fasanen hatte es Lucas angetan. Bei dem kleinsten Hauch von Wildduft verharrte Lucas für Minuten in seiner für Vorstehhunde typischen Pose. Menschen, oft Kinder, blieben bei dieser außergewöhnlichen Vorstellung stehen und Joseph dozierte jedes Mal, dass dies die Achtung vor einer anderen Kreatur sei, die bei uns Menschen oft abhandengekommen ist.
Die Jahre vergingen.
Den Urlaub verbrachte Joseph bei seinen Eltern. Er begleitete seinen Vater bei seinen Reviergängen und wenn Lucas einem Fasan vorstand und dieser mit einem empörten Schrei hochging, ließ der alte Mann die Flinte sinken und sagte etwas lakonisch: „Ich habe gedacht, es sei eine Henne und weibliches Wild hat bei mir das ganze Jahr Schonzeit.“ Aber auch manch kapitalen Rehbock ließ er weiterziehen mit der Begründung, dass er keine Berechtigung habe, der Natur solch ein Prachtwerk zu entnehmen.
Joseph lächelte vor sich hin, doch Lucas „verstand die Welt nicht mehr“, schließlich war er ein „hochdekorierter“ Jagdhund.
Der alte Wild lästerte dann: „Lucas, du hältst dich gut, wahrscheinlich überlebst du deinen Gönner Honi, dem es bald an den Kragen gehen wird.“
Dabei vermieden es Vater und Sohn über Politik zu sprechen und wenn sie es doch taten, hatte scheinbar jeder das Gefühl, sich vor dem anderen rechtfertigen zu müssen, warum er zu einem Teil dieses Systems, das sich in Auflösung befand, geworden war.
Die hohlen Reden von Honecker, Mielke und Krenz waren ihnen genau so fremd wie die Losungen der Montagsdemonstrationen: “Wir sind das Volk“.
„Sind auch wir das Volk?“, fragte eines Abends Joseph ironisch seinen Vater. Dieser zuckte die Achseln.
Eines Morgens beim Frühstück sagte die Mutter ganz plötzlich: „Wie ihr wisst, habe ich es bis jetzt abgelehnt in meine alte Heimat zu reisen, jetzt verspüre ich aber ein Bedürfnis endgültig Abschied zu nehmen und noch einmal die Luft unserer Felder zu atmen und die Sonne hinter dem Hügel in Böhmen aufgehen zu sehen.“ Joseph war bereit, den Wunsch der Mutter zu erfüllen und einige Tage später fuhren Mutter und Sohn, natürlich war auch Lucas dabei, los.
Sie übernachteten in Prag und fuhren am nächsten Morgen nach Wahlburg zu einem kleinen
Dorf mit einem tschechischen Ortsschild. Sie standen vor einem Haus, das mit einer gelblichen Farbe, die an manchen Stellen abblätterte, notdürftig gestrichen war.
Das alte Tor zierte noch immer das bronzene Schild, das der Großvater in Prag anfertigen ließ: ein Setter in Vorstehpose mit der Innschrift:“ Hier wache ich“. Der Glanz war verblichen, es war durch die vielen kalten Winter stumpf geworden.
Eine Frau, die im Garten Unkraut jätete, bemerkte die beiden und kam auf sie zu.
Zuerst beäugte sie das fremde Auto, dann zeigte sie auf Lucas und auf das Schild am Hoftor und sagte in einem gebrochenen Deutsch: „gleiche Hund, ich liebe Hunde“. Sie streichelte Lucas zärtlich über den Rücken.
Die tschechische Frau glaubte zuerst, dass auch sie in die deutsche Botschaft nach Prag wollten.
Joseph gelang es, der Frau verständlich zu machen, dass dies das Elternhaus seiner Mutter sei und diese das Bedürfnis hatte, das alles noch einmal zu sehen. Die Mutter stand wortlos da mit feuchten Augen, den Blick in die Ferne auf die Hügel gerichtet.
Die fremde Frau verstand nicht, was sich hier abspielte, dennoch war sie ergriffen und bat die beiden ins Haus.
Josephs Mutter bedankte sich freundlich, bat Joseph aber sie nach Hause zu fahren. Auf der Fahrt zurück sagte sie zu ihrem Sohn: „Jetzt konnte ich Abschied nehmen, danke, dass du mich begleitet hast.“
Eines Abends, als sie alle im elterlichen abhörsicheren „Schlafzimmerbunker“ saßen und das Westfernsehn eingeschaltet hatten, klopfte es an der Tür. Der Vater war aufgescheucht, machte den Fernseher aus und ging zur Tür.
Draußen stand der russische Diplomat, er war in Eile: „Friedrich, mein Freund, ich komme um Daswidanie zu sagen, ich muss zurück nach Moskau, Konetz , Ende aus. Du warst viele Jahre mein Freund, Gorbatschov wird euch die Freiheit geben, ich weiss es.“ Wie immer tranken sie ein Glas Wodka auf der Terrasse und der Russe verschwand wieder in der Dunkelheit.
In der Folgezeit überschlugen sich die Ereignisse und die Medien in Ost und West strengten sich an, um bei der Berichterstattung mithalten zu können:
Joseph staunte, denn der Schießbefehl, denn es ja offiziell nie gab, wurde aufgehoben. Er musste an die junge Frau denken, die vor seinen Augen verblutete.
Ungarische Grenzer bauten an der Grenze zu Österreich den Stacheldraht ab.
Tausende brave DDR Bürger flohen über Ungarn und die Tschechoslowakei in die Bundesrepublik.
In Leipzig gingen die Menschen zu Tausenden auf die Straße Er sah in den Fernsehnachrichten die Bilder von Menschenmassen, die den Grenzübergang Bornholmer Straße überqueren und die Berichte von feiernden Menschen am Brandenburger Tor.
Und Major Joseph Wild, ließ ihn das alles kalt?
Bestimmt nicht, aber er war heimatlos geworden, genau wie seine Mutter damals. Diese floh Richtung Deutschland und er floh nun in seine innere Welt, die recht klein war. Er tat das, was er schon immer tun wollte. Er begann zu schreiben über grüne Wiesen, die Sonne am Morgen, den Gesang des Rotkehlchens, das Schreien der Wildgänse, die frei durch die Welt ziehen. Innere Emigration nannte man das bei Schriftstellern, die sich im Dritten Reich in sich selbst zurückzogen, weil sie nicht dazugehören wollten.
Für Joseph hatte sich alles verändert und er war müde, genau wie Lucas, den er an manchen Tagen richtig überreden musste seinen weichen Korb zu verlassen.
War das DDR-Regime gut? Bestimmt nicht.
Ist das, was jetzt auf die Menschen zukam besser? Er wusste es nicht, es war eine Welt, die man ihm Jahrzehnte als Feindbild schilderte. Sollte er sich plötzlich in dieser neuen Welt wohlfühlen?
Als er wieder in Erfurt war, wurde Major Wild von Generalmajor Teichmann beauftragt, den Abbau der Grenzanlagen zu überwachen.
Joseph schrieb einen Brief an Minister Eppelmann mit folgendem Inhalt:
„Sehr geehrter Herr Minister,
Ich habe die 1510 km lange Grenze nicht gebaut. Ich wollte sie nicht. Sie hat mich von lieben Menschen getrennt. Ich hatte aber auch nicht den Mut, den Staat und seinen Stacheldraht zu hinterfragen. Sollen diejenigen, die diese monströsen Abtrennungen errichtet haben, sie auch abtragen. Bitte nehmen sie meine Kündigung an. Hochachtungsvoll, Joseph Wild .“
Danach fuhr er mit Lucas zu seinen Eltern zurück. Er spielte mit seinem Vater Schach und half der Mutter im Garten, bis plötzlich ein Anruf seine Gedanken durcheinanderwirbelte.
Marie bat ihn um ein Treffen in Oberberg.
Er hatte sich vorgenommen den Westen nie zu betreten, doch das alles war jetzt nicht mehr wichtig.
Er nahm Lucas an die Leine, hob den alten Knaben auf den Beifahrersitz seines Lada und fuhr los. Zwischen Unter- und Oberberg waren die Grenzzäune abgetragen. Die hässlichen Betonpfeiler und der Stacheldraht waren verschwunden und Joseph fuhr einfach über die Grenze, so als hätte es sie nie gegeben. Wie einfach konnte die Welt sein, dachte er.
Halbstarke Jungs in einem schnittigen BMW überholten ihn grölend, scheinbar amüsierten sie sich über sein für sie ulkiges Fahrzeug.
Ohne Schwierigkeiten fand er das Café, das ihm Marie als Treffpunkt nannte.
Da er etwas zu früh ankam, hob er Lucas aus dem Auto und nahm auf der Terrasse Platz.
Eine junge Bedienung fragte ihn nach seinen Wünschen und als er zögerte sagte sie freundlich: „Keine Sorge, für die von drüben geht alles aufs Haus. Soll ich Ihnen eine Westcola bringen oder ein schönes hessisches Bier? Joseph lehnte dankend ab und bestellte ein Wasser.
Da hielt auch schon ein Audi Kombi vor der Gaststätte. Eine junge Frau stieg aus, gefolgt von einem kleinen Mädchen, das sofort, als sie Lucas auf der Terrasse sah auf ihn zustürzte: Du musst Lucas sein, der Vater unserer Brüder Captain und Condor.
Eine junge Frau folge ihr mit einem Setter an der Leine: Entschuldige Joseph, meine Tochter Corinna ist impulsiv, wenn es um Setter geht.
Sie umarmte Joseph und presste sich fest an ihn: „Das wollte ich schon damals tun, als ich auf deiner Stube an der Grenze war. Das ist Captain, der Grenzgänger. Das hat er wohl von seinem Vater. Er wollte scheinbar schon damals zu dir. Jetzt sollst du ihn haben. Wir haben noch seinen Bruder zu Hause, ein friedlicher Zeitgenosse, das Gegenstück von diesem Rabauken.“
Marie versuchte zu scherzen, was ihr kaum gelang.
Sie nahmen auf der Terrasse Platz. Für Joseph überschlugen sich die Ereignisse, er konnte nicht mehr klar denken, dennoch versuchte er alles zu sortieren: Marie ist Mutter und die kleine Corinna sieht aus wie damals die kleine Marie mit den roten Bäckchen. Er dachte, ich bin zu spät, weil ich damals nachdem wir uns wiedersahen zu feige war, ihr durch die Röhre in den Westen zu folgen oder später den Stacheldraht durchzuschneiden und sie zu suchen.“ Und ihm fiel Gorbatschows lapidarer Satz ein, von dem man gar nicht weiß, ob er ihn wirklich gesagt hat: „Wer zu spät kommt…“
Über Captain freute er sich riesig. Dieser legte, nachdem er seinen Vater abgeschnuppert hatte, seinen Kopf auf Josephs Schoß und sah ihn mit seinen kastanienbraunen Augen an.
„Er wird seinem Vater das Alter leichter und mir das Leben erträglicher machen, so sind wir wenigstens nicht allein“ sagte er zu Marie.
Diese senkte den Blick und strich ihrer Tochter übers Haar.
Joseph stand auf, er verabschiedete sich von der kleinen Corinna und sagte: “Danke, dass du mir den Captain schenkst, ich und Lucas werden gut auf ihn aufpassen.“ Er reichte auch Marie die Hand.
Marie presste ihre kleine Faust in seine Handfläche, so wie sie es als Kind immer tat, wenn sie sich vor etwas fürchtete. So standen sie einen Augenblick.
Dann lösten sich ihre Hände und Joseph ging zu seinem Auto. Captain folgte ihm, so als wäre er in seiner Obhut aufgewachsen.
Er stieg in seinen alten Lada und fuhr wieder zurück. Zurück ins Niemandsland.
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Eine Frau und ihr Hund
eine Kurzgeschichte
Alles begann mit einer Autofahrt.
Der Mann blickte zu seiner Frau auf den Beifahrersitz. Sie hielt ein Settermädchen im Arm, das sich fest an sie presste. Das Setterkind blickte unentwegt zu ihr hoch, so als wollte es flehen: “Bitte bringt mich nie mehr zurück.“ Die Frau erwiderte, so als hätte sie den Blick verstanden: „Ich verspreche es dir.“
Der Mann war noch zu sehr mit dem vorher Erlebten und dem traurigen menschlichen Umfeld beschäftigt, in welches der Welpe hineingeboren wurde: Verlustängste? Liebe, die zu Hass wurde? Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom?
Und auch er sagt laut: “Auch ich verspreche Dir, wir werden dich beschützen vor allem Lautem und Bösen, allen zum Trotz.“
Das Setterkind verbringt unbeschwerte Tage mit der neuen Familie in Frankreich, spielt im Garten und wenn es müde wird, schläft es auf Schoß der Frau ein.
Aber irgendwie ist dieser kleine Setter anders als alle Welpen, die vorher bei der Familie aufwuchsen. Trotz seiner hervorragenden Nase geht er nicht auf Erkundungstouren, sondern hält sich immer im Umfeld der Frau auf und folgt ihr auf Schritt und Tritt, wie die Gänseküken von Konrad Lorenz es taten. Ihre erste Autofahrt auf dem Arm der Frau hatte eine Bindung aufgebaut für ein ganzes Leben.
Anfangs denkt man, es gäbe vielleicht körperliche Beschwerden, die ihren Bewegungsdrang hemmen. Sie wird von einem Tierarzt gründlich durchgecheckt. Sie ist kerngesund.
Manchmal aber, wenn sie in ihrer Nähe nicht nur Wild vermutet, sondern dank ihrer ausgezeichneten Nase über dessen Existenz Bescheid weiß oder mit ihrer Freundin aus dem Odenwald unterwegs ist, dreht sie auf und quittiert ihre Aktion mit einem perfekten Vorstehen, um nach dem Abstreichen des Federwilds sofort wieder die Nähe der Frau zu suchen.
Aber sie ist wahrlich kein „Prüfungshund“, der sich herumkandieren lässt.
Über ein Feld hetzen, wenn ihre Nase ihr im Vorfeld sagt, dass es kein Wild gibt, nur um „Finderwillen“ zu zeigen, weil dies ihr befohlen wird, findet sie blöd. Und die erschrockenen Volierehühner sieht sie nicht als Wild, wahrscheinlich tun sie ihr leid.
Im menschlichen Umfeld fühlt sie sich wohler. Sie hat längst verstanden, dass die meisten Menschen nicht laut, sondern lieb sind und eine ist für sie die liebste. Sie blickt die Frau mit ihren Kastanienaugen an und weckt Erinnerungen an Generationen.
Sie beherrscht aber auch die Fähigkeit mit ihrer Beschützerin verbal (Quengeln, Fiepen, Jaulen, Piensen) oder nonverbal (durch Blicke) zu kommunizieren.
Es sind vielfältige „verschlüsselte Gespräche“, diese öffentlich wiederzugeben, wäre ein Vertrauensbruch beiden gegenüber. Meist geht es um die Futterabfolge, deren Begriffe der menschlichen Speisefolge entlehnt sind oder Erziehungsmaßnahmen, die überflüssig sind und deshalb nicht fruchten. „Angeblich“ reagiert „die Kleine“, die in der Zwischenzeit zu einer stattlichen Setterdame herangewachsen ist, auf das Wort „Steh“. Mehr ist aber auch nicht nötig.
Eines ist aber sicher: die beiden Mädels, wie die Frau die Kleine und ihre Halbschwester nennt, sind zwar unserer Sprache nicht mächtig, verstehen aber jedes Wort.
Gut, dass sie nicht schreiben können, sonst würden sie bei jeder Zurechtweisung eine Akte anlegen, die jeden Stasibericht in den Schatten stellen würde.
Und die Frau ist stolz, wenn ihr kluger Hund vom Spaziergang an ihrer Seite einen Apfel nach Hause trägt. Die Frau meint: „Es ist besser einen Apfel als ein „vergammeltes“ Kaninchen zu apportieren“.
Und wenn sich eine Autotür öffnet, nimmt „die kleine Lady“ die Gelegenheit wahr und stürmt hinein. Insgesamt liebt sie das Auto der beiden, sie erkennt es sogar am Motorgeräusch, denn alles begann mit einer Autofahrt, ihrer erste Fahrt in eine neue, schönere Welt.
Gordi der Lawinen - Rettungshund
eine Kurzgeschichte
Ein Mann, der als Kind bei Nachbarn einen Wurf Gordon Setter Welpen mitbetreuen durfte, will die schönen Erinnerungen noch einmal wahr machen. Er findet eine kleine Gordon Setter Hündin bei einer renommierten Züchterin in Hessen. Diese ermuntert den Mann später mit der Kleinen zu züchten, da dieser Welpe etwas Besonderes sei.
Und sie ist wahrlich eine Augenweide. Sie wächst prächtig und sein Besitzer ist sicher, mit dieser Hündin- mit dem Kosenamen „Gordi“ - würde er seinen lang gehegten Traum verwirklichen.
Eines Tages bei einem Spaziergang trägt der halbwüchsige Welpe einen großen Stock in der Schnauze. Der besorgte Besitzer fürchtet, der Welpe würde sich die Zähne verletzen und versucht ihm den Stock aus dem Fang zu nehmen. Dabei sieht er, dass drei der kleinen Zähnchen nach dem bereits erfolgten Zahnwechsel fehlen, was ihm anschließend durch einen Tierarzt bestätigt wird.
Nicht für die Zucht geeignet, entscheiden die Funktionäre. An diesen fünf Millimeter großen fehlenden Prämolaren sollten seine Hoffnungen scheitern? Er war untröstlich.
Doch nirgends sind die Gesetze so hart und so konfus wie in der Hundezucht.
Es gibt Hunderassen, deren Züchter Vorbeißer (unteren Schneidezähne stehen vor den oberen), Ektropium (unteres Lid hängt herab) oder ein komplett fehlendes Haarkleid (Nackthunde) und so einiges mehr als Rassemerkmal betrachten, bei anderen Rassen wieder sind das zuchtausschließende Mängel.
Der kleine Sohn des Mannes, der das Jammern mitbekommt, versteht die Welt nicht mehr. Er versichert seinem Vater, dass Gordi der liebste Hund sei, den es gibt. Dass sie ihm gelegentlich die Hausschuhe klaue, sei doch nicht schlimm, sie bringe sie doch jedes Mal wieder zurück.
Zwei Wochen später verkauft der törichte Mann, als sein Sohn in der Schule ist, die Hündin an einen Gastwirt aus Bayern, der einen jungen Hund mit guter Nase sucht, um ihn als Rettungshund auszubilden.
Der Mann hat noch ein gutes Gewissen dabei, da der Rettungshundeführer, ein freundlicher, aber etwas einsilbiger Mensch, ihm versichert, dass in seiner Gastwirtschaft wahre Leckerbissen auf Gordi warten und dass die Arbeit dem Hund viel Spaß machen wird.
Ein Jahr ist vergangen, der Name Gordi in der Familie scheinbar vergessen. Der Mann muss seinem Sohn keine Lügengeschichten mehr erzählen. Auch die Wogen in seinem Inneren hatten sich geglättet und er kann wieder ruhig schlafen.
Und dann kommt der Tag, als er im Postkasten einen Brief aus Bayern findet. Ein kariertes Blatt scheinbar aus einem alten Heft gerissen mit folgendem Satz: „Heute hat Gordi einem Menschen das Leben gerettet.“
In den folgenden Jahren erhält er in den Wintermonaten drei weitere Briefe mit dem gleichen Inhalt.
Wie den ersten Brief versteckt der Mann die weiteren Briefe in seinem Schreibtisch.
Der Junge wächst heran, er ist klug und wissbegierig.
Nachdem der Mann sich von der Zuchtidee verabschiedet und aus dem Tierheim einen großen zottigen Hund nach Hause bringt, hilft der Junge diesen von Kletten zu säubern, zu baden und zu kämmen.
Und plötzlich sagt er, indem er seinen Kopf auf den Rücken des Hundes legt: „Die Haare sind pechschwarz, wie die von Gordi.“
Der Mann legt verstört den Kamm bei Seite und sagt nach längerem Schweigen:
„Nichts ist so schlimm wie eine Lüge. Die Geschöpfe, die uns anvertraut werden, darf man nie verraten. Zucht heißt oft der Natur ins Handwerk pfuschen. Drei kleine Zähne machen noch keinen klugen und liebenswerten Hund aus. Junge, ich habe versagt. Es tut mir leid“.
Noch versteht der Junge nicht, was sein Vater meint.
Dieser geht zu seinem Schreibtisch und überreicht dem Jungen die Briefe aus Bayern. Der Junge überfliegt sie und rennt davon.
Einige Tage gehen sich beide aus dem Weg, doch plötzlich nach dem Abendessen sagt der Junge zu seinem Vater: „In einer Woche haben wir Weihnachtsferien. Bitte bring mich zu Gordi.“ Dieser nickt nur und verschwindet in seinem Arbeitszimmer.
Beide kommen an einem Samstag in Grainau in der Nähe von Garmisch an. Der Junge stürmt in die Gaststätte. Vor dem Kamin steht ein Weidenkorb, darin liegt auf einem weichen Kissen ein alter Hund. Sein pechschwarzer Rücken und sein vom Alter weiß gewordener Kopf bilden einen Kontrast. So viele Jahre sind vergangen und dennoch bewegt die Hündin leicht ihre Rute und zieht die Lefzen hoch zu einem Lachen, sowie sie als Welpe den Jungen stets begrüßt hat.
Der Mann kommt auch zum Korb, streicht dem Hund über den Kopf geht dann zum Wirt, der auch fassungslos die Szene beobachtet und legt diesem ein Bündel Scheine auf den Tresen und sagt: „Es war kein redliches Geschäft.“ Dann setzt er sich auf einen Stuhl und schweigt.
Auch der Wirt kann mit der Situation nicht umgehen und verlässt den Raum.
Etwas später kommt seine Frau mit einer Schüssel Weißwürste und bittet die beiden zu bleiben. Ein Zimmer habe sie bereits zurecht gemacht. Wenigstens jetzt sollte man sich besser kennenlernen.
Der Junge ist glücklich und sein Vater zu müde, um zu widersprechen.
Am folgenden Tag überredet die Frau die beiden, vor der Abfahrt wenigstens einen Spaziergang mit Gordi durch die verschneite Landschaft zu machen. Auch diesmal fügt sich der Vater.
Als die beiden mit Gordi zum Wandern aufbrechen, ruft die Frau ihnen hinterher, dass sie in der Nähe des Ortes bleiben sollen, da weiter oben akute Lawinengefahr bestehe.
Der Junge ist außer sich. Er tobt mit Gordi durch die Landschaft und diese kann trotz ihres Alters gut mithalten. Der Mann folgt den beiden etwas in Gedanken versunken, aber doch glücklich.
Ohne es zu wollen, entfernen sie sich recht weit vom Ort.
Als Gordi merkt, dass der Mann zu weit zurückbleibt, dreht sie um und läuft kläffend zu diesem hin.
Der Mann geht in die Hocke und bürstet ihr zärtlich mit der Hand den Schnee aus dem Fell.
Im gleichen Augenblick ertönt ein donnerndes Geräusch und eine Lawine stürzt den Berg hinunter. Instinktiv drückt der Mann die Hündin an sich.
Einen Augenblick später ist die Landschaft nicht wiederzuerkennen. Riesige Schneemassen soweit das Auge reicht und nirgends ist der Junge zu sehen.
Panisch sucht der Mann sein Handy und ruft den Gastwirt an. Dieser versteht sofort und löst Alarm aus.
Auch Gordi hat verstanden und setzt sich in Bewegung. Wie ein junger Hund bezwingt sie die Schneemassen, hält dann plötzlich inne, bellt etwas krächzend, wie es alte Hunde tun und beginnt mit den Vorderpfoten an einer Stelle wie rasend zu graben. Auch der Mann setzt seine Hände ein und hilft ihr dabei. Nach kurzer Zeit wird ein Zipfel der Jacke des Jungen sichtbar. Der Hund verbeißt sich darin und zieht mit Leibeskräften.
Als die Retter ankommen, ist der Junge bereits von den Schneemassen befreit. Gordi liegt neben ihm und atmet schwer. „Es ist das Herz“, sagt der Gastwirt. Der Junge wird sofort zwecks Kontrolle ins Krankenhaus gefahren und Gordi in die Tierklinik.
Am Abend sitzen alle im Gasthaus um den Kamin. Der Gastwirt flüsterte dem Jungen zu, dass der Herrgott es gut mit ihm meine, und dass heute für ihn ein Glückstag sei. Auch Gordi ist wieder die alte. Sie kaut an einem Kalbsknochen und wenn der Junge sie anspricht zieht sie die Lefzen zu einen Lächeln hoch.
Als sie am folgenden Morgen sich bereits verabschiedet hatten und im Auto sitzen, kommt die Wirtsfrau mit Gordi an der Leine, öffnet die hintere Wagentür lässt Gordi hineinspringen und richtet aus, dass ihr Mann sich entschuldige und mitteilen lasse, dass unredliche Verkäufe ja rückgängig gemacht werden müssten und dass er sowieso einen jungen Hund für den Rettungsdienst brauche.
Sie wischt sich eine Träne weg, drückt dem Jungen die Herztabletten für Gordi in die Hand und geht zurück in die Gaststätte. Von der Tür ruft sie noch dem Mann und dem Jungen, die versteinert im Auto sitzen, zu, dass es Zeit sei, endlich loszufahren.
Natürlich wird Gordi zu Hause nach Strich und Faden verwöhnt.
Natürlich verträgt sie sich gut mit dem Hund aus dem Tierheim.
Natürlich kann diese Geschichte wahr sein, wenn auch nicht in allen Details.
Sonderbarer Silvesterabend
Ich laufe mit unseren beiden Settern den üblichen Weg. Die Nacht bricht herein, wie jeden Abend.
Auf dem geteerten Waldweg kommt mir ein Paar entgegen. Ein junger Mann schiebt seine Frau im Rollstuhl. Sie lachen und sind glücklich. Ein glückliches Neues Jahr!
Wir laufen weiter, eine Frau spricht mich an. Ich erkenne sie wieder, sie hat vor kurzem von ihrem Golden Retriever Conner Abschied nehmen müssen. Sie ist traurig und erzählt mir wieder die Leidensgeschichte ihres verstorbenen Hundes.
Bisou, die die menschliche Gefühlswelt genau einschätzen kann, drückt sich an sie. Die Frau streicht ihr über den Kopf und sagt: „ Ich glaube, ich werde mich doch wieder auf die Suche begeben. Vielleicht wird es ein Setter wie du, Bisou“. Sie wünscht uns „ein glückliches Neues Jahr“ und geht weiter.
Wir begegnen noch der Dame mit ihren kleinen rumänischen Mischlingen, dem Pudelmix mit seiner lustigen Frisur aus dem Tierheim in Kosovo und den beiden streitsüchtigen Shepherds , die heute Abend ganz still an uns vorbei gehen. Ein glückliches Neues Jahr!
Heute ist alles anders. Auf der Wiese, dem Spielplatz der Hunde, ist Ruhe. Über dem kleinen See daneben ziehen die Nebel auf.
Auch meine beiden Hundedamen haben zum ersten Mal keine Lust zu toben. Sie stehen und halten die Nase in den Wind, die Behänge etwas aufgerichtet, und lauschen.
Und plötzlich glaube ich ein fernes Jaulen zu hören. Es klingt wie das Aufbegehren der Hunde in einem Zwinger, der bestimmt zwei Kilometer von unserem Haus in Frankreich entfernt ist, wenn der Besitzer die Fütterungszeiten mal wieder vergessen hat.
Die Klagelaute werden lauter und lauter. Und ich bilde mir ein, dass ich den „Sklavenchor“ aller Hunde dieser Welt höre – aus den „perreras“ aus Spanien, den französischen “fourrières", aus den Auffangstationen der Hundefänger in Ungarn oder Rumänien und überall auf der Welt. Ein glückliches Neues Jahr?
Ich drücke Bisou und Jela an mich und auch sie wollen plötzlich nach Hause.
Trotz Böllerverbot fliegen am nahen Ortsrand die Leuchtraketen durch die Nacht, so als wäre es Krieg.
Die Lichterketten der Häuser leuchten uns den Weg. Verzierte goldene Bäume, Torbogen tausendfach beleuchtet, güldene Terrassen, Rehlein an Hauswänden, bunte Lichterspiele.
Hier scheint die Welt in Ordnung zu sein.
Ich hatte vergessen zu erwähnen, dass wir auch an der Hütte des „Einsiedlers“ vorbeikamen. Er saß trotz Kälte auf seinem Holzstuhl vor dem Zelt und wärmte seine Hände an sieben hell brennenden Kerzen. „Ein glückliches Neues Jahr!“ ruft er uns nach.
Die Werra, dieser müde durch Salzlaken geschädigte Fluss, der im thüringischen Schiefergebirge entspringt, fließt die deutsch–deutsche Grenze entlang und hat viel gesehen: die willkürliche Teilung einer Nation, das Leid der Menschen auf beiden Seiten der Grenze, die hysterische Abschottung der DDR durch Beton und Stahl, Minenfelder, Hundetrassen und Selbstschussanlagen. Auch die Gewehrsalven der Grenzsoldaten und die Todesschreie unschuldiger Menschen blieben ihr nicht verborgen. Fast befreit trägt sie die Last ihrer Erinnerungen in die Weser, um sie danach in der weiten Nordsee zu versenken.
Die Erinnerungen der Menschen an ihre Untaten und Grausamkeiten, an ihren Verbrechen gegen die Menschlichkeit, befohlen von einem korrupten und verlogenen System, 1000 Opfer des DDR Grenzregimes, diese lassen sich nicht wegspülen.
Der junge Grenzoffizier Josef Wild ließ sich auf einem parallel zur Grenze angelegten Fahrweg mit Betonplatten stehend von seinem Fahrer die Grenze entlang kutschieren. Die Pose war beeindruckend. Die eine Hand an der Hosennaht, die andere als Stütze auf dem Rahmen der Windschutzscheibe. Seine steingraue Uniform mit grüner Paspelierung und grünem Mützenrand war neu. Er hatte die Offiziersschule in Plauen, der Kaderschmiede der DDR-Grenzoffiziere, als Jahrgangsbester abgeschlossen. Eigentlich wollte er Germanistik studieren, denn die Literatur hatte es ihm angetan. Als Jugendlicher verschlang er alle Bücher, die ihm in die Hände kamen, vorrangig klassische Literatur. Als ihn sein Vater einmal, anlässlich einer überregionalen LPG-Sitzung mit nach Weimar nahm, stand er vor dem Standbild von Goethe und Schiller und weinte. „Diese beiden haben uns in der Welt nicht blamiert, wie es durch die Nazis geschah. Unsere Dichter, Maler und Komponisten sind alles, was uns Deutschen geblieben ist“, sagte er später zu seinem Vater.
Und jetzt war er als Leutnant Teil des Grenzkommandos Süd, GKS, Stab Erfurt, weil die Partei es so wollte und sein Vater nicht den Mut hatte, den Genossen zu widersprechen.
Ursprünglich war sein Vater Friedrich Wild ein streitbarer Sozialdemokrat, aber nach der Zwangsvereinigung von KPD und SPD gab er klein bei. Um sicher zu gehen, schickten ihn die Genossen für zwei Jahre nach Moskau auf die Hochschule für Ackerbau und Viehzucht. Er kam scheinbar geläutert zurück und vertrat in der Öffentlichkeit die Grundsätze der Partei. Er wurde 1955 in einem Ort in der Nähe von Langensalza zum LPG-Vorsitzenden ernannt. Nach außen war er stets linientreu und bemüht in der LPG die Erträge zu steigern, denn nur so konnte die DDR den Verlockungen des Westens standhalten. „Satte Menschen sind friedlich“ war seine Devise.
Seine Mutter war eine schüchterne Flüchtlingsfrau aus dem Sudetenland, die auf der Flucht vor den Russen ihre Familie verlor und die versuchte sich allein nach Frankfurt durchzuschlagen. Eigentlich war sie nicht allein, denn einer der Jagdhunde ihres Vaters, ein
roter Setter, wich nicht von ihrer Seite. Und wenn es mal brenzlig wurde und es galt sie zu beschützen, fletschte er die Zähne und wurde zum Raubtier.
Sie saß drei Tage am zerstörten Bahnhof von Unterberg mit ihrem abgemagerten Hund und wartete, dass ein Zug kam, doch der Bahnverkehr war längst eingestellt und so kam auch kein Zug, dafür aber Josephs Vater, der zuerst auf den Hund aufmerksam wurde und sein Herz höher schlagen ließ. Er fragte nach dem Namen des Hundes und wollte auf ihn zugehen und ihn streicheln, doch die Frau wehrte ab: „Ich bin die Susanne, er heißt Bodo und greift jeden fremden Mann, der mir zu nahe kommt, an“, sagte sie.
„Wollen wir mal sehen“ sagte Josephs Vater und er strich dem Hund vorsichtig über den Kopf. Dieser blickte mit seinen sanften Augen zu ihm hoch und beschnupperte ihn.
„Wahrscheinlich riecht er unsere Hündin Bianca. Als ich von der Front verwundet zurückkam, fand ich in unserem zerbombten Haus nur noch den Setter. Meine Eltern hatten den Krieg nicht überlebt.
„Wenn Sie Hunger haben, Susanne und sich aufwärmen möchten, können Sie mich begleiten, ich habe zwei Zimmer notdürftig repariert und außerdem habe ich heute mit der Flinte meines Vaters, die ich in den Trümmern fand, einen Hasen geschossen.“ Die Frau nickte, nahm Bodo an die Leine und folgte wortlos.
Ein Jahr danach kam Joseph zur Welt.
Und dieser fuhr jetzt auf einem holprigen Grenzweg, sah von Zeit zu Zeit auf die westdeutsche Seite und dachte an die kleine Marie aus Oberberg: „Wenn sie ihn so sehen würde“, doch er verwarf den Gedanken sehr schnell, denn sie lebte jetzt im Westen und gehörte zu den imperialistischen Klassenfeinden.
Früher verband die beiden Dörfer Unterberg und Oberberg eine einfache Straße und die Kinder beider Orte spielten miteinander. Die Bewohner beider Dörfer kannten sich und nicht selten wurden auch Ehen zwischen jungen Menschen beider Orte geschlossen.
Auf der Potsdamer Konferenz wurde durch die Siegermächte Deutschland willkürlich aufgeteilt und plötzlich gehörte Unterberg zur russischen Besatzungszone und Oberberg zur amerikanischen.
Die ersten Jahre nach der Teilung änderten kaum etwas am Leben der Menschen. Armut, Hunger und Trauer um die im Krieg Gefallenen gab es überall in Deutschland.
Jeder versuchte sich selbst zu helfen, so auch Friedrichs Vater. Morgens in aller Herrgottsfrüh nahm Friedrich Wild Bianca und Bodo an die Leine, die zerlegte Flinte war im Rucksack verstaut, sein Nachbar, der hagere Müller stand schon vor dem Hoftor und beide schlichen sich in die Felder. Die Hunde suchten die Wiesen ab und jedes Mal, wenn sie Wild witterten, standen sie wie angewurzelt, so dass sich Friedrich anschleichen konnte. Ein Knall und schon gab es einen Hasen, einen Fasan oder Rebhühner für den Rucksack. Natürlich bekamen auch die Hunde, die nicht sehr wählerisch waren, etwas von der Beute ab.
Nachmittags suchten die beiden Männer nach Obst in den Obstwiesen, die nicht mehr bestellt und so von Brennesel überwuchert waren. Jetzt waren auch die Kinder dabei. Marie, die Nachbarstochter, und Joseph.
Wenn die beiden keine Lust mehr hatten Beeren zu pflücken, spielten sie mit Bodo, dem Flüchtlingshund und Bianca, der Trümmerhündin, wie Josephs Mutter die beiden manchmal nannte, auf der Wiese. Maries Vater sagte dann zu Josef: „Du musst mir versprechen, auf sie aufzupassen, dass sie nicht in den Bach fällt. Sie ist so stürmisch wie ein junger Setter.“ Josef erwiderte dann: „Mach ich, ich verspreche es, ich werde immer auf sie aufpassen.“ Marie wurde bei diesen Worten ganz rot und als sie allein waren, schenkte sie ihm ein weißes Taschentuch mit angeblich seinem eingestickten Namen, der nur aus einigen unbeholfenen Stichen bestand.
Ein bescheidenes Leben in einer zerstörten Welt bahnte sich an und die angebliche Grenze interessierte keinen. Bis zu dem Tag Anfang 1952, der alles veränderte.
Holzfäller aus den thüringischen Wäldern wurden angekarrt, aber auch andere Menschen aus den Dörfern der Werra entlang. Sie wurden von Volkspolizisten begleitet und hatten die Aufgabe, das Gelände an der Grenze frei zu machen, zu glätten und einen Grenzstreifen zu ziehen.
SED-Funktionäre, die nach Unterberg kamen, erkundigten sich nach Menschen, die unzuverlässig und nicht linientreu seien. Man munkelte, dass diese in den nächsten Tagen ins Landesinnere umgesiedelt werden würden. Diese Aktion hatte den menschenverachtenden Namen „Ungeziefer“. Zwei Funktionäre erkundigten sich ausführlich bei Friedrich Wild, den sie für einen der ihrigen hielten, über seinen Nachbarn Hans Müller. Während des Gesprächs stellte sich heraus, dass sie gut informiert waren und dass sie auch über die morgendlichen „Jagdzügen“ der beiden Bescheid wussten.
„Wir nehmen es ihnen ja nicht übel, dass sie ihre Familie versorgen, aber sie müssen mit uns zusammenarbeiten, da sie als Sozi seit 1946 jetzt auch zur SED gehören.“ Dies bejahte Friedrich natürlich, gelobte Zusammenarbeit und wartete nur, bis beide weggefahren waren, um über den Gartenzaun seinen Nachbar zu warnen.
Am nächsten Morgen, als Joseph Marie zum Spielen abholen wollte, war das Haus leer.
Später erfuhr man, dass Hans Müller in der Nacht seine Schwiegereltern und die beiden Schwager in Oberberg besucht habe. Es fanden sich acht mutige Männer, die ihm halfen sein gesamtes Hab und Gut über die provisorische Grenze zu bringen.
Die Partei schien aber von Friedrichs Antwort auf die Frage, ob er von dem nächtlichen Auszug der Nachbarn nichts mitbekommen habe, nicht überzeugt. Dieser versicherte, er habe versucht seine Zahnschmerzen mit Schnaps zu ertränken und fest geschlafen.
Einige Tage danach erhielt er die Mitteilung, dass ihm von höchster Stelle für zwei Jahre ein Stipendium zum Studium nach Moskau, das er nicht ablehnen könne, zugesprochen wurde.
Seine Frau war verzweifelt, doch Friedrich Wild meinte nur: „Ablehnen ist zwecklos, vielleicht warten sie gerade darauf, dass wir einen Fehler machen. Du und Joseph werdet gut versorgt sein.“
Der kleine Joseph schlich an den folgenden Tagen immer wieder ums Nachbarhaus, es konnte doch nicht wahr sein, dass seine Freundin ihn verlassen hat. Sie waren doch gestern noch zusammen Maikäfer für die Hühner sammeln.
Die Straße an der Grenze wurde immer holpriger und die Fahrt immer schwieriger. Leutnant Joseph wachte aus seinen Träumen auf und plötzlich kam er sich lächerlich in dieser Pose vor, erinnerte sie ihn doch eher an die Bonzen des dritten Reiches, denen das Volk zujubelte. Ihm jubelte niemand zu und als sie eine Anhöhe hoch fuhren, waren sie gut auf dem anderen Teil der Grenze sichtbar und prompt von einer Gruppe junger Klassenfeinde aus ihrem Ford Capri mit einem Hupkonzert begrüßt.
Er nahm wieder auf dem Beifahrersitz Platz, wandte sich zum Rücksitz und streichelte lange in Gedanken versunken seinen jungen irischen Setter Lucas.
Als er seine Tour beendet hatte, stieg er auf den Kontrollturm. Vorher musste er sich von einem Untergebenen die alten Witzeleien anhören: „Ach, das Schoßhündchen lebt ja noch, hatte wohl Glück, dass er den Trassenhunden nicht zu nahe kam, denn diese kennen keinen Pardon, weder mit Mensch noch Tier, das sind echte DDR-Schäferhunde.“ Da ihm die Sprüche auf die Nerven gingen, sagte er nur: „Morgen zwei Schichten für dich“ und nahm auf der oberen Etage eines Kontrollturms Platz. Mit seinem Zeiss-Fernrohr hielt er Ausschau nach den Republikflüchtigen. Oder suchte er vielleicht die Wiesen im Feindesland nach einer jungen Frau mit einem roten Hund ab, die jeden Abend einen Setter spazieren führte?
Wenn er sie sah, zoomte er sie heran, so nahe, dass er ihr Gesicht und ihre Augen sehen konnte und er hatte keine Zweifel: die gleichen Augen, dieselben Grübchen in den Wangen. Es musste Marie sein. Und wenn der Setter dann mal wieder einen Hasen hochmachte und ihm das Geleit gab, dachte er an die boshaften Worte seines Vaters: “Setter bevorzugen Frauen, weil sie diese besser austricksen können.“
Mit hereinbrechender Nacht, übergab er das Kommando an seinen Untergebenen, ging in die Kaserne, legte sich auf das Bett und dachte jeden Abend das Gleiche: „Gott bewahre uns vor einem Grenzgänger, ich will keinen Menschen töten.“ Seine Mutter, die eine gläubige Frau war, sagte immer: „Bete, wenn du in Nöten bist, aber leise, denn nur die Gedanken sind frei.“ Und er wusste auch an diesem Abend nicht, wie er sich bei einem wirklichen Zwischenfall verhalten würde. Gut, dass er ein Zimmer für sich hatte, denn das Misstrauen der einzelnen Offiziere untereinander war groß, jeder konnte zur Stasi gehören.
Lucas nahm neben ihm Platz, drückte sich fest an ihn und so schliefen sie ein.
Eigentlich dürfte es Lukas gar nicht geben, denn in der DDR gab es für alles Reglementierungen und selbstverständlich auch für die Hundezucht. In jedem Wurf durften nur acht Welpen am Leben bleiben. Die anderen wurden „gemerzt“. „Welch hässlicher Ausdruck“ schimpfte Josephs Vater, natürlich nur, wenn sie allein waren. „Merzen statt Töten, wir Deutschen sind Meister im Beschönigen und Verfälschen der Worte. Und dabei widerspricht diese Aussortierung allen Gesetzen der Genetik“ Denn von dieser Wissenschaft, die allmählich auch in der Tierzucht Einzug hielt, hatte er bei Fortbildungen über die Auswahl der Zuchttiere in der Viehzucht einiges mitbekommen.
„Wie kann ich sehen, welcher Hund über die besten Erbmerkmale verfügt, wenn ich manchmal ein Drittel nach der Geburt töten muss? Das sind faschistische Methoden“, schimpfte er abends, wenn das Hoftor verschlossen war und er und seine Frau sich ins Schlafzimmer zurückgezogen hatten, wo auch die Körbe für die Hunde und der Fernseher stand. Was ihn genauso nervte war der „Antrag auf Deckrüdenzuweisung“, den er ausfüllen sollte. „Bald wird auch für die Menschen gelten: eine Genossin und ein Genosse und vorher ein Antrag an die Partei!“ schimpfte er. Obwohl seine Frau ihn warnte, ließ er es sich nicht nehmen, jeden Abend das Westfernsehen einzuschalten und wenn Brandt eine Rede hielt, hörte er andächtig zu.
Das Schlafzimmer hatte keinen Telefonanschluss und konnte so nicht verwanzt werden. Als LPG-Vorsitzender waren ihm die Stasimethoden nicht fremd. Das ist unser sicherer abhörgeschützter Bunker lästerte er manchmal, wenn er mit seiner Frau allein war.
Und Joseph flüsterte er öfter zu: „ Wir wären Narren, wenn wir uns ihnen widersetzten, denn sie haben die Macht. Mit den Wölfen heulen heißt nicht ein Wolf zu sein. Früher, als die Kirchenglocken läuteten, haben unsere Setter auch geheult, aber sie waren beileibe keine Wölfe. Joseph, du musst ihnen immer sagen, was sie hören wollen, Aufrichtigkeit und Zusammenhalt gibt es nur in der Familie.“
Randbemerkung des Autors: Ob Vater und Sohn, die ja beide zu Aufsteigern und Profiteuren dieses Systems wurden, obigem Grundsatz treu blieben, ist fraglich.
Während eines Besuchs bei seinen Eltern, stellte Leutnant Joseph sofort fest, dass sein Vater an diesem Tag etwas fahrig und leicht nervös war. Er bat zum ersten Mal seinen Sohn, die Uniform abzulegen, er sagte nur :“So ist es mir lieber, so sehe ich meinen Sohn und nicht die geballte Staatsgewalt“, danach bat er ihn ins Schlafzimmer und führte ihn an die Wurfkiste: „Neun gleiche und gesunde Welpen und einer muss getötet werden, das geht nicht in meinen Kopf!“
Joseph streichelte die Welpen, jeden einzelnen, wie er es als Kind schon immer getan hatte, dann richtete er sich auf und sagte: „Vor der Wurfabnahme komme ich wieder und dann nehme ich den Welpen mit dem weißen Brustfleck mit. Er wird Lukas heißen. Dann sind es nur noch acht. Leutnant Joseph Wild ist nicht verpflichtet, Auskunft über die Herkunft seines Jagdhundes zu geben.“
Es trifft sich gut, da sie mir sowieso den Jagdschein als kleine Anerkennung zugeschickt haben.
Erleichtert umarmte der Vater seinen Sohn.
Und so nahm das Schicksal seinen Lauf. Lucas wuchs zu einem prächtigen Setter heran. Er war hochnäsig und schön. Wenn die „Trassenhunde“, die es der Grenze entlang an manchen Stellen noch gab, ihn wütend ankläfften, drehte er überheblich den Kopf in die andere Richtung. Joseph tadelte ihn dann: „Die armen Kerle würden gern mit dir tauschen, sei nicht so arrogant.“
Abends, wenn sie allein im Wachturm saßen, scherzte Joseph: „Wenn du ein Mensch wärst, würde ich dir mein Zeiss-Fernglas ausleihen. Die unerzogene Setterhündin im Feindesland, die eine Frau an der Leine hinter sich herzieht, ist eine wahre Pracht. Lucas hob dann die Nase und begann zu schnuppern und Joseph war sicher, dass sein roter Freund alles verstand.
Am 1. Mai, am sogenannten Internationalen Kampf- und Feiertag der Werktätigen für Frieden und Sozialismus, fuhr Leutnant Joseph mit Lucas in die Stadt. Er trug wie die meisten Grenzer bei ihren seltenen Ausgängen keine Uniform. Die Beliebtheit der „Elitetruppe“ hielt sich bei den Genossen in Grenzen. Bei einem Tanzfest - Lucas lag brav ohne Leine unter einem Biertisch - lernte er die FDJ-Sekretärin der Gegend kennen. Diese war wenig zimperlich und lud ihn sofort zu sich in die Wohnung ein. Im Treppenhaus zeigte sie Joseph eine Stelle, wo er Lucas anleinen könne. Damit endete die Liebelei, bevor sie begonnen hatte.
Bei einer hübschen Genossin auf einem LPG-Fest waren es die Katzen, die Lucas durch das Haus scheuchte. Die Krönung seiner Störmanöver leistete sich Lucas, als er bei einem gemütlichen Spaziergang am Bach Josephs Auserwählte schockte, indem er einer Ente hinterher schwamm und das nasse Federvieh der jungen sensiblen Kunststudentin vor die Füße legte.
„Du machst mich zum alten Junggesellen mit deiner flegelhaften Art“, schimpfte Joseph, um dann am Abend sein Fernglas zur Hand zu nehmen und die „kapitalistischen“ Wiesen abzusuchen.
Ohne große Aufregung verging ein Tag wie der andere. Acht Stunden Dienst, acht Stunden Bereitschaft, acht Stunden Schlaf. Besondere Vorkommnisse gab es kaum: ein eingeschlafener Grenzposten, der in den Bau musste, Missachtung des Rauchverbots beim Dienst, Streit schlichten zwischen den Soldaten und wieder war für die Betroffenen Bau fällig.
Doch dann kam der Tag, den Joseph nie vergessen würde. Seine Gruppe hatte an diesem Abend Bereitschaft. Er hatte den Kontrollgang abgeschlossen und war gerade dabei „keine besonderen Vorkommnisse“ in seinen Bericht zu schreiben, als das Sirenengeheul ihn aufschreckte. Leuchtraketen tauchten den Grenzstreifen in ein grelles Licht, dann folgte eine Gewehrsalve. Joseph stürzte zur Tür hinaus und trommelte seine Mannschaft zusammen.
Das Bild, das sich Joseph bot, war grauenvoll.
Eine junge Frau lag blutüberströmt auf dem Grenzstreifen. Sie schrie vor Schmerzen. Neben ihr kniete ein Grenzsoldat und stammelte immer wieder: „Bitte vergeben sie mir, ich wollte doch nur einen Warnschuss abgeben.“
Joseph versuchte die Frau aufzurichten, doch sie sank immer wieder in sich zusammen, dabei flüsterte sie mit schwacher Stimme: „Ich wollte doch nur zu meinem Mann. Wir haben in Ungarn am Plattensee geheiratet. Ich trage sein Kind in mir.“
Joseph sah verzweifelt in die Runde: „Wo sind die Sanitäter? Schafft sie endlich herbei“, schrie er mit heiserer Stimme. Als diese kamen, war es zu spät. Die Frau starb in Josephs Armen.
Am nächsten Morgen erfuhr man, dass sich der Schütze in der Nacht erschossen habe. Es war ein junger schmächtiger Mann, der so gerne Musik studieren wollte. Er hatte sich freiwillig zur Grenze gemeldet, um anschließend zum Studium zugelassen zu werden.
Am nächsten Tag kam General Oberst Erich Franz aus Berlin. Leutnant Joseph Wild erhielt vorher einen Anruf, er solle alle dienstfreien Grenzsoldaten für Punkt 12 Uhr zum Appell antreten lassen.
Leutnant Joseph Wild erstattete Bericht: Vorkommnisse der letzten Nacht: Zwei Todesopfer, ein Grenzsoldat und eine Privatperson. Der Generaloberst winkte ab, zog ein Papier aus der Tasche und las: „Fähnrich Ulf Fink hat durch seinen Heldenmut einen Grenzdurchbruch von Ost nach West verhindert. Die DDR-flüchtige Person wurde von ihm gestellt. Sein heldenhafter Dienst für die deutsche demokratische Republik macht uns stolz. Er ist in Erfüllung seiner patriotischen Pflicht gestorben. Am 1. Dezember, dem „Tag der Grenztruppen“, werden wir seiner Gedenken“.
Scherzhaft fügte er hinzu: „Auf Salutschüsse werden wir hier verzichten, sonst glaubt der imperialistische Westen, dass wir ihn angreifen.“
Er warf einen Blick auf Lucas, der sich für die Vorträge nicht zu interessieren schien und gemütlich in die Sonne blinzelte. Der Hund missfiel ihm und so grunzte er beim Warten auf seinen Fahrer, der dabei war, die Hintertür des schwarzen Moskwitsch zu öffnen: „Du taugst nicht als Trassenhund, weil dir der Biss fehlt und als Jagdhund verwechselt man dich mit einem Reh.“
Und die tote, namenlose, vergessene Frau?
Auf der anderen Seite der Grenze wartete ein Mann tagelang vergebens.
Der Oberst war bereits eingestiegen, doch das Fahrzeug fuhr nicht los. Alle standen in Reih und Glied aufgereiht mit der Hand an der Mütze um den Gast zu verabschieden.
Dieser unterhielt sich mit seinem wild gestikulierenden Adjutanten, von dem alle wussten, dass er zur Staatssicherheit gehörte, im Inneren des Wagens. Plötzlich stieg der Oberst wieder auf aus, wandte sich mit folgenden Worten an Leutnant Wild: „Genosse Wild, ich suspendiere Sie mit sofortiger Wirkung vom Dienst. Sie haben Sympathie zu einer Republikflüchtigen gezeigt und erste Hilfe geleistet, das ist untersagt. DDR-Flüchtlinge sind Verbrecher. Ihr Stellvertreter übernimmt ab sofort all ihre Pflichten.“
Joseph wagte zu erwidern: „Es war eine schwer verletzte, schwangere Frau.“
„Also zwei Flüchtige“ sagte der Oberst. Er stieg ein und das Auto setzte sich in Bewegung.
Joseph übergab alle Protokolle seinem Untergebenen, tauschte die Uniform gegen seinen schlichten Anzug, nahm Lucas an die Leine und ging zum Bahnhof. Einige der Soldaten riefen ihm hinterher: „Wild, du bist ein Verräter“. Die Fahrt mit dem Zug zu seinen Eltern war durch das zweimalige Umsteigen recht mühsam. Mit dem Dienstwagen brauchte er vorher nur eine knappe Stunde. Er traf am späten Nachmittag zu Hause ein. Als er das Tor öffnete, traute er seinen Augen nicht. In der Einfahrt stand ein schwarzes Fahrzeug mit Diplomatennummer. Auf der Veranda saß sein Vater und trank Wodka mit einem schwarz gekleideten Mann. Dieser rief ihm zu: „Syn moyego druga, Sohn von Freund, was für ein roter sobaka hast du, ist sicher russisch. Lass hier be tvoy Vater. Er macht Schmutz in mashinui. My idem v kazarmy, fahren zurück. Joseph konnte nicht antworten. Er sah seinen Vater an, dieser nickte. Er umarmte seine Mutter und sie fuhren los. Die ganze Strecke sprach der unheimliche Mann kein einziges Wort.
Als sie in der Kaserne ankamen, war es fast dunkel und dennoch standen alle in Reih und Glied. Selbst der Oberst, der wieder angereist war, riss die Hacken zusammen und salutierte. Der Diplomat würdigte ihn keines Blickes. Zu Joseph sagte er: „Zieh uniformu an, naden'te uniformu leytenant“.
Er küsste Joseph nach russischem Brauch auf die Wange, drehte sich zu Oberst Franz und brüllte ihn an: „Mach keine Fehler Genosse Oberst, ich lasse für dich Gulag in Sibirien wieder aufbauen. Die Sowjetunion ist groß und wir sagen dir, was gut oder schlecht ist.“ Er zwinkerte Joseph zu, stieg in den Wagen und der Fahrer fuhr los.
Oberst Franz winkte seinen Fahrer herbei, murmelte mit finsterer Miene zu Joseph: „Nichts für ungut Leutnant Wild, nehmen Sie sich in Acht“ und weg war er.
Natürlich löste der Diplomatenbesuch bei Friedrich Wild im Dorf heftige Spekulationen aus: Wild ein KGB Spion, Wild als zukünftiger Außenminister der DDR? Andere glaubten zu wissen, dass der alte Wild als junger Mann bei seinem Studium in Moskau durch einen waghalsigen Sprung in die Moskwa dem Kind eines hohen Regierungsbeamten das Leben gerettet habe. Letztere Variante könnte der Wahrheit näher kommen.
Für Leutnant Joseph Wild war diese Demütigung durch seinen Vorgesetzten eine Wende in seinem Leben. Das Heitere und Leichte, das trotz dieses grotesken Dienstes in ihm schlummerte, war über Nacht verschwunden. Besonders die Schadenfreude seiner Untergebenen bei seiner Suspendierung nagte in ihm.
Zu seinem Setter Lucas blieb er weiterhin freundlich. Wenn sie abends allein im Zimmer waren, sprach er mit ihm. Oft war es belangloses Zeug oder es waren Kindheitserinnerungen an die Zeit mit Marie in Unterdorf. Lucas hörte aufmerksam zu und man konnte glauben, dass er alles verstand, denn bei Geschichten, die auch ihn betrafen, begann er plötzlich mit der Rute zu wedeln. Oft erzählte er Lucas auch wie schön es wäre, mit der jungen Frau mit dem Setter durch die grünen Wiesen einer freien Welt zu laufen. Wenn er dann den Finger auf den Mund legte und zu Lucas sagte: „Unser Geheimnis“, fiepte diese, so als hätte er alles verstanden.
Im Alltag war Joseph wie ausgewechselt. Er hatte endlich das begriffen, was viele Menschen aus den Ostblockstaaten ausmachte: eine strikte Trennung zwischen Innen- und Außenleben.
Nach außen verkörperte Leutnant Wild den DDR-Offizier, der Wert auf strikten Dienst nach Vorschrift legte.
Unpünktlichkeit bei Dienstantritt bedeutete für die Soldaten Streichung des Ausgangs für einen Monat; Trunkenheit bedeutete drei Tage Arrest. Einschlafen während des Grenzdienstes bedeutete Verlust des Urlaubs.
Er führte die gefürchteten Politabende mit Frage-Antwort-„Spiel“ wieder ein.
Wenn Fragen wie „Warum müssen wir die DDR-Grenze beschützen?“ lapidar mit „um Flüchtlinge zu erschießen“ von einem Soldaten beantwortet wurde, betraf die Reglementierung nicht nur den Betreffenden, sondern auch seinen Zugführer. Beide mussten hundert Mal den Satz „Verletzung der Grenze von Ost nach West durch Saboteure und Reaktionäre aus dem Westen müssen verhindert werden. DDR-Flüchtige sind zu stellen“ schreiben.
Natürlich führte diese Maßnahme dazu, dass das Verhältnis zwischen Fähnrichen und den Untergebenen nicht das Beste war. Hass, Misstrauen und Verpetzen waren an der Tagesordnung.
Besonders schlecht kamen bei ihm die Söhne des Staatsicherheitsapparats weg. Oft prahlten diese verwöhnten Jasager mit der Tätigkeit der Eltern. Für sie war der Grenzdienst nur ein Sprungbrett für einen Studienplatz und deshalb waren sie bemüht sich anzubiedern und zu gefallen.
Leutnant Wild scherte sich wenig darum, Hauptsache war, dass die Stasispitzel in der Kaserne sein Durchgreifen zum Wohle des Arbeiter- und Bauernstaates an ihre Vorgesetzten weitergaben, was natürlich regelmäßig erfolgte.
Eine Beförderung ließ bei einem derartigen Pflichtbewusstsein nicht lange auf sich warten.
Oberleutnant Wild wurde jetzt mit anderen Aufgaben betraut. Er übte ab sofort auch Kontrollfunktionen über andere Grenzsektionen aus. Die Auseinandersetzungen mit dem „Fußvolk“ blieben ihm erspart.
Ihm stand ab sofort ein geräumiges möbliertes Zimmer zur Verfügung.
Bei seinen „Dienstfahrten“ verzichtete er manchmal auf seinen Fahrer, so dass er zwischendurch an einem stillen Ort anhalten und mit Lucas einen Spaziergang machen konnte.
Private Gespräche mit Soldaten lehnte er ab. Er hasste geradezu Menschen, die versuchten durch Schmeicheleien sein Wohlwollen zu erkaufen.
Er erinnert sich immer wieder an die Worte, die sein Vater ihm bei Dienstantritt mitgab:“ Suche dir deine Freunde selbst aus und sei vorsichtig und wählerisch. Halte Menschen auf Abstand, die dich angeblich bewundern, sie erhoffen sich nur Vorteile, du bist ihnen egal, sie werden dich eiskalt verkaufen. In dieser Welt gibt es viele Denunzianten, benutze sie, aber halte sie immer auf Abstand.“
Joseph war oft einsam, doch nie allein, denn er hatte Lucas, der stets an seiner Seite war.
Und da waren ja auch noch die Besuche bei seinen Eltern. Joseph genoss diese Tage. Am liebsten saß er mit seiner Mutter auf der Veranda und lauschte ihren Geschichten über den Bauernhof ihrer Eltern im Sudetenland. Herrliche Wälder, Flussauen in einem satten Grün mit weidenden Kühen, ein Garten voller Geflügel; eine beschauliche Welt, bis die Russen kamen und über das Gartentor hinweg zwei der drei Jagdhunde des Vaters erschossen. In der gleichen Nacht packte die Familie ihren Leiterwagen und sie fuhren los.
Wenn der pompöse russische Freund des Vaters auftauchte, blieb sie höflich, doch sie mochte ihn nicht.
Oft pflegte sie zu sagen: „Die Welt kann man nicht durch Arbeitslager besser machen, sondern nur durch Bildung.“ Was würde ein Dostojewski, Tolstoi, Gogol, Bulgakow oder ein Puschkin denken, wenn sie diese „armselige Diktatur des Proletariats“ und die „geschundene russische Seele“ erleben müssten?“
Joseph war verblüfft über derartige Aussagen der Mutter und er fragte sie, woher sie all diese Autoren kenne und sie bemerkte nur, dass diese Schriftsteller genau wie Goethe und Schiller auch ihren Platz in der Weltliteratur hätten.
„Die heutige Jugend kennt solche Bücher nicht, dafür müssen junge Menschen einen Strittmatter lesen oder sie werden mit Theorien über den „Sozialistischen Realismus“- eine groteske Erfindung der Kulturfunktionäre-„ gefüttert“, fügte sie hinzu.
Auch Lucas schienen solche Gespräche zu interessieren. Oder lauschte er nur so andächtig den Worten der Mutter, weil sie fast zufällig einen Belohnungshappen fallen ließ?
Allein der Vater wurde bei solchen Gesprächen unruhig und von Zeit zu Zeit schlug er vor, das Thema weiter im abhörsicheren „Schlafzimmerbunker“ weiterzuführen.
Irgendwie schien der Vater mit seinen Gedanken weit weg zu sein.
Als ihn Joseph endlich fragte, was los sei, platzte es aus ihm heraus: „In einer Woche soll hier eine Treibjagd zu Ehren unseres großen Genossen Honecker stattfinden. Die Maisernte ist noch in vollem Gange und die Zuckerrübenernte ist auch noch nicht abgeschlossen. Gestern erhielt ich die Anweisung, den Mais samt Kolben einzuackern, damit alles „blitz-blank“ sei. Es ist ein Verbrechen. Da müht man sich ein ganzes Jahr mit dem Getreide ab, um vor der Ernte mehr als zehn Tonnen Mais zu verscharren, damit die Optik stimmt. Übrigens ist der Genosse Oberleutnant Joseph Wild auch als Schütze eingeladen, welch eine Ehre. Ich soll den Treiber machen. Gut, dass der Dorfarzt mir bereits eine Verstauchung des linken Köchels bescheinigt hat“, fügte er spöttisch hinzu.
Bevor sich Joseph verabschiedete, nahm er seine Mutter, die er bedingungslos liebte, in den Arm und flüsterte ihr zu:
„Ich verspreche dir, Mutter, in meinem nächsten Urlaub werden wir beide den Ort deiner Kindheit und Jugend besuchen. Die Tschechoslowakische Republik ist jetzt unser kommunistisches Bruderland und ein Visum dürfte für mich kein Problem sein“.
Er war überrascht als sie ihm mitteilte, dass sie dies nicht wünsche: „Ich will die Bilder meiner Kindheit nicht zerstören durch eventuelle unangenehme Überraschungen“, sagte sie, was ihr Sohn durchaus verstand.
Lucas lag jetzt entspannt bei den anderen Hunden, er schien zu schlafen, doch mit einem Auge beobachtete er ständig Joseph, denn es könnte ja das Zeichen zum Aufbruch geben. Als dieser seine Jacke überzog, war Lucas plötzlich hellwach. Das fiel auch der Mutter auch und sie meinte, dass Hund und Herr ein hervorragendes Team seien, da Lucas jede kleine Geste Josephs verstand.
Da Oberstleutnant Wild freitags noch Dienst hatte, fuhr er Samstagmorgen nach Hause zurück, um bei der Treibjagd dabei zu sein. Es stand außer Frage, dass ein Fernbleiben für ihn Konsequenzen bedeutet hätte. Schweren Herzens nahm er auch Lucas mit, denn er kannte all die traurigen Geschichten, dass bei solchen Veranstaltungen die schießwütigen Teilnehmer nicht selten einen Irischen Setter mit einem Reh verwechselt hätten. Auf der Fahrt hielt Joseph seinem Gefährten eine Standpauke nach der anderen, dass dieser stets in seiner Nähe zu bleiben habe, und dass kein Wild so verführerisch rieche, um diese Regel zu brechen.
Als sie durch die Hauptstraße des Dorfes fuhren, sah dieses wie verwandelt aus. Junge Pioniere in weißen Hemden mit blauen Halstüchern hielten Plakate mit der Inschrift „Wir kämpfen um hohe Lernergebnisse“ hoch, andere versuchten eifrig die Grundschüler in Reih und Glied am Straßenrand aufzustellen.
Überall gab es Plakate mit Honeckers Gesicht und dazu passende Losungen: „Vorwärts immer, Rückwärts nimmer.“
„Meinem Friedensstaat, meine Friedenstat“, Joseph musste dabei unweigerlich an die getötete Frau an der Grenze denken.
Zwei junge Frauen hielten ihre Losung „Folgt dem Beispiel unserer Partei, arbeitet und lebt sozial“ so hoch, dass sie umkippte und die Kleinsten überdeckte. Zwei Kinder rannten in Panik davon.
Zwei Freunde seines Vaters aus der LPG trugen ein Schild: „Gute Qualität in der Arbeit ist ein Beitrag zur Stärkung der DDR“.
Joseph wurde zur Seite gewinkt. Er hielt seinen Lada an und stieg aus.
Im gleichen Moment brauste die Autokolonne des Personenschutzkommandos vorbei. Es folgten „fremdartige Geschöpfe“ aus kapitalistischer Produktion (Volvo, Mercedes G, Citroen CX Prestige, Toyota), die Fahrzeuge der Diplomaten und hohen Funktionäre, gefolgt von einem grünen Range Rover mit einem massiven Rammschutz, elektrischer Seilwinde und großen Scheinwerfern. Ein blasses Gesicht mit schwarzer Hornbrille auf dem Rücksitz schien zu winken. Oberleutnant Wild schlug automatisch die Haken zusammen und salutierte.
Als Nachhut folgten zwei Geländewagen mit Wachleuten.
Zurück blieben in Staub eingehüllte Trabis am Straßenrand und Menschen, die ihre Losungen zusammenrollten und sich auf den Rest des freien Tages freuten. Die Kinder packten ihren Fußball aus und verschwanden auf dem Bolzplatz des Dorfes.
Oberstleutnant Wild war vorerst einmal beschäftigt den aufgeregt kläffenden Lucas zu beruhigen, denn diesem war das alles nicht geheuer.
Joseph stattete seinen Eltern einen kurzen Besuch ab. Nachdem er seine Uniform durch die Jagdkleidung ausgetauscht hatte, fuhr er ins Jagdrevier. Er fuhr an kahlen „abrasierten“ Feldern vorbei. An manchen Stellen wurde das Maisstroh mit den reifen Kolben nicht ganz untergepflügt und Joseph musste an die traurigen Worte seines Vaters denken.
Nach zweimaliger Ausweiskontrolle wurde er den Schützen zugeteilt und er durfte das riesige Zelt betreten. Massive Stützpfeiler aus Metall, die Wände und der Boden mit Tannenreisig bedeckt. Ein Duft von frisch geschlagenen Tannen übertönte den Zigarettenqualm. Etwas abgelegen gab es das Zelt der Treiber, das weniger aufwendig ausgestattet war. Nach einigen Minuten wurde Oberstleutnant Wild an den Ehrentisch gebeten.
Er trat an den Tisch und salutierte in perfekter Manier.
Der Mann mit der schwarzen Hornbrille blätterte in seinen Aufzeichnungen. Als er den Namen fand, sah er hoch: „Genosse Oberstleutnant Wild, nach Aussagen unseres russischen Freunds sollen Sie einer der Besten sein. Als Offizier der Grenztruppe kämpfen Sie am antiimperialistischen Schutzwall an vorderster Front. Waidmannheil, Genosse Oberstleutnant. Abtreten.“ „Danke der Ehre, Genosse Staatsratsvorsitzender“ erwiderte der junge Grenzoffizier.
Erst dann sah Honecker Lucas, der an der linken Seite seines Herrn artig in der Sitzposition verharrte.
„Aber was wollen Sie denn bei einer Großwildjagd mit diesem Hühnerhund?“ Joseph strich Lucas über den Kopf und erwiderte: „ Er ist jeder Aufgabe gewachsen und hat meine Erwartungen stets erfüllt.“ Der Oberstleutnant schlug die Hacken zusammen, salutierte und zog sich zurück. Das Gelächter am Tisch bekam er nicht mehr mit, aber er fragte sich, ob er mit Lucas nicht zu sehr „aufgetragen“ habe.
Nach der Vorstellung aller Gäste rief der Jagdleiter die Beteiligten zum Aufbruch auf:
„Sputet euch ein bisschen, ihr wisst, Genosse Mittag will um 18 Uhr seinen ersten Hirsch schießen.“ Der Witz schien angekommen zu sein und alle setzten sich in Bewegung.
Am Waldrand mit Ausblick auf eine ausgedehnte Wiese befanden sich die Kanzeln.
Für die hohen Parteifunktionäre und die honorigen Staatsgäste wurde eine Tribüne aufgestellt mit bequemen Sitzen und einer Balustrade zum Auflegen der Waffen. Oberstleutnant Wild und die anderen Offiziere verteilte man auf Hochsitze im gebührenden Abstand zur Ehrentribüne.
Plötzlich vernahm man Treiberlärm und etwas später wurde ein Rudel stattlicher Rothirsche, die aus ungarischen Gehegen stammten, auf die Wiese getrieben. Die Tiere, die kaum in der Lage waren richtig zu laufen, blieben erschöpft in der Mitte der Wiese vor der Ehrentribüne stehen. Und nun begann ein ohrenbetäubendes Geknalle und viele Hirsche brachen an Ort und Stelle zusammen, andere schleppten sich noch trotz Verletzungen ins Dickicht des Waldes.
Joseph dachte, dass dies Zustände wie im Mittelalter bei den Jagden der Feudalherren wären und ihm fiel das Gedicht aus Sturm und Drang von G. A. Bürger ein:
„Wer bist du Fürst? Wer bist du, dass, durch Saat und Forst, das Hurra deiner Jagd mich treibt, entatmet, wie das Wild?“ Er liebte als Jugendlicher diese literarische Epoche des 18. Jahrhunderts voller Gefühle und Aufbegehren. Hatte sich die Welt nicht weiterentwickelt?
Nach wenigen Minuten war der Spuk vorbei. Eine eisige Totenstille überzog die Natur.
Zur Jagd gehörte auch das Dinner im Jagdzelt. Es bestand aus erlesenen Wildspezialitäten und bot für die Teilnehmer Gelegenheit zu diskreten Geschäftsabschlüssen. Die meisten der honorigen Gäste hatten sich schon in das grüne Jagdzelt zurückgezogen, um einen Aperitif einzunehmen.
Doch diesmal war es anders. Der kapitale ungarische Sechzehnender, den man Honecker vor die Flinte trieb und den er erlegte, war wie vom Erdboden verschwunden. Man wusste aber, dass der Staatsratsvorsitzende alle von ihm erlegten Tiere fotografiert und kategorisiert wissen wollte und dass er dabei ein richtiger Pedant war. Oft schoss er in einer Jagdsaison mehr als hundert Rothirsche.
Zu allem Übel waren an diesem Tag einige der Hundeführer schon zurück ins nahe Jagdhotel gefahren, denn das Gekläffe der Hunde würde die Unterhaltung stören. Es wurde langsam dunkel. Der hektische Jagdleiter sah Lucas an Josephs Seite und bat Oberstleutnant Wild mit seinem Hund bei der Nachsuche mitzuhelfen.
Alle Hunde wurden auf der Wiese angesetzt. Die Bracken an langer Schleppleine versuchten mit tiefer Nase Spuren aufzunehmen, doch das war bei dem vorherigen Gemetzel nicht einfach, da es viele Blutspuren gab.
Lucas richtete seine Nase in den Wind und stürmte los. Joseph folgte ihm, was bei dem Tempo des Hundes nicht einfach war.
Prompt kam der bissige Kommentar des Jagdleiters: „Der störrische Rote ist weg auf Nimmerwiedersehen!“
Auf einer Lichtung fand Joseph Lucas. Er stand regungslos vor einem Gebüsch. Von Zeit zu Zeit bellte er kurz, um seinem Herrn den Standort anzuzeigen.
Das traurige Bild, das sich Joseph bot, wird er nie vergessen. Er sah einen mächtigen Hirsch mit riesigem Geweih. Das Tier lag im hohen Gras. Als es Joseph sah, hob es seinen Kopf und blickte ihn an. Es war ein durchdringlicher Blick eines edlen Geschöpfes, das scheinbar nicht verstand, warum die Spezies Mensch, die ihn jahrelang versorgte, heute tötete.
Als die anderen Hundeführer mit dem Jagdleiter ankamen, war der Hirsch bereits tot.
Joseph saß auf einem Baumstumpf, Lucas lag neben ihm und beide blickten in die großen Augen des Hirsches, die sich nicht schließen wollten.
Einige Wochen waren vergangen, Joseph und Lukas lebten wieder in ihrem Offizierszimmer in der Grenzkaserne, da erreichte Joseph ein Brief aus Berlin. Der Brief enthielt ein Schriftstück von dem Jagdleiter, dem zuständigen Minister Mielke und dem Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker unterzeichnet mit folgendem Inhalt:
Der irische Setter Lukas hat durch seinen jagdlichen Einsatz bei der Nachsuche, geführt von Oberstleutnant Joseph Wild, das Waidwerk unseres Staatsratsvorsitzenden gekrönt und den kapitalsten Hirsch, den er je erlegt hatte, durch Totverbellen angezeigt. Eine silberne Plakette an der Trophäe wird stets daran erinnern.
Ab sofort trägt der Rüde den Titel „Held der sozialistischen Arbeit“ und dieser ausgezeichnete Hund steht unter dem Schutz des Staates. Seine Ernährungs- und Tierarztkosten werden vom Staat getragen. Die Tötung oder Verletzung des Tieres wird unter Strafe gestellt. Das beiliegende Halsband in den Staatsfarben der DDR mit dem Namen des Besitzers Genosse Oberstleutnant Wild ist ein Beweis unserer Anerkennung.
Als am folgenden Wochenende Joseph seine Eltern besuchte und über die Auszeichnung von Lukas berichtete, amüsierte sich sein Vater prächtig. Er verneigte sich vor dem sozialistischen Helden Lucas und sagte ihm eine glänzende kommunistische Karriere voraus.
Sonntagabend kehrte Joseph in die Grenzkaserne zurück, hängte eine Kopie der Urkunde an die Mitteilungstafel, rief anschließend die Soldaten zusammen, legte Lucas vor versammelter Mannschaft das Halsband an und erinnerte seine Untergebenen daran, dass er erwarte, dass ab sofort seinem Hund, die Achtung zu teil werde, die ihm zusteht und er ergänzte:
„Dem Setter Lucas steht ab sofort jede Bewegungsfreiheit zu. Der Leinenzwang für den prämierten „Parteihund“ ist aufgehoben. Eine Verwechslung mit einem anderen Hund oder Wildtier ist durch das Halsband unmöglich. Witzeleien oder Späßchen auf Kosten von Lucas bedeuten Bunker. Seine körperliche Unversehrtheit steht an erster Stelle. Zuwiderhandlungen bedeuten Militärgericht.“
Als Joseph wieder allein in seiner Stube war, musste er erst einmal kräftig lachen. Er stellte sich immer wieder die Grenzsoldaten vor, die sich seinen Vortrag mit verdutzten Gesichtern anhörten.
Abends saß er auf seinem Wachturm und beobachtete mit seinem Fernglas die Wiesen im „Feindesland“. Und wieder sah er die junge Frau, die verzweifelt versuchte ihren Setter anzuleinen. Sie schien auf ihn einzureden und er ließ sie auch bis auf einen Meter an sich herankommen, um dann das Weite zu suchen. Joseph amüsierte sich köstlich bei diesem Anblick und dachte nur: „Lucas würde ich das nicht durchgehen lassen.“
Leider holten ihn in den nächsten Tagen seine selbstsicheren Gedanken ein, denn nach dem Abendspaziergang hob plötzlich Lucas seine Nase in den Wind, er schien mit seinen Lefzen die Witterung zu kauen, er begann zu winseln und plötzlich war er verschwunden.
Joseph pfiff mit seiner Trillerpfeife, was das Zeug hielt, doch der Rotschopf war nirgends zu sehen.
Ein Stück Wild? Unwahrscheinlich, denn der gut ausgebildete Jagdhund war gehorsam und Hetzen war nicht seine Sache.
Joseph ging zum Wachturm zurück, beauftragte zwei Grenzer, die Botschaft an alle Wachsoldaten weiter zu geben, dass der „Parteihund“ Freigang habe und jeder verpflichtet sei, dafür zu sorgen, dass dieser unbeschadet zu seinem Besitzer zurückfinde.
Er ließ sich seine Verärgerung und Enttäuschung über seinen „Streuner“ nicht anmerken, nahm sein Fernglas, um den Kontrollstreifen zu beobachten, denn an einigen Stellen des Zaunes gab es Öffnungen zum Durchgang des Wildes. Dadurch wollte man verhindern, dass „falscher Alarm“ ausgelöst wurde.
Auf dem Kontrollstreifen war kein Hund zu sehen, aber der Anblick, der sich ihm bot, als er sein Fernglas über die Wiesen jenseits des Zaunes schweifte, ließ ihm den Atem stocken:
Zwei Setter tobten über die Wiese. Sie jagten sich gegenseitig hielten inne, legten die Vorderpfoten auf den Boden, musterten sich, um dann ihren wilden Tanz fortzuführen.
(Auf die Technik von Zeiss –Jena ist Verlass und Joseph war nah am Geschehen.)
Die Frau versuchte die Hündin am festzuhalten, was ihr nicht gelang, dann fasste sie den Rüden am Halsband, schien inne zu halten, ging in die Hocke und studierte scheinbar die Gravur.
Plötzlich lachte sie, ihr wurde scheinbar einiges klar. Im gleichen Augenblick riss sich der Rüde los, stürmte zur Hündin und dann war es geschehen. Die Frau ging zu beiden Hunden strich ihnen mit der Hand über den Kopf und wartete geduldig bis sie sich lösten.
Sie leinte die Hündin an und ging Richtung Dorf. Beide drehten sich noch einige Male um und sahen zurück. Die vorher von Leben pulsierende Wiese war jetzt leer. Die Frau hob die Hand und winkte Richtung Niemandsland. Es war ihr bewusst, dass diese Geste nirgends ankam.
Oder doch?
Joseph ließ sein Fernglas sinken, stieg den Wachturm hinab und traute seinen Augen nicht, denn im Gras lag ein kräftig hechelnder schuldbewusster Lucas. Er strich dem hoch dekorierten „Republikflüchtling“ sanft über den Oberkopf, leinte ihn an und ging mit ihm in seine Stube. Lucas leerte eine Schüssel Wasser und legte sich auf seine Decke.
Joseph dachte: Leben kann so schön und ehrlich und ohne Grenzen sein. Fontane würde mit Wüllersdorf sagen: “diese Tiere sind uns über.“
Kurzgeschichten:
Eine Frau und ihr Hund
Gordi, der Lawinen- Rettungshund
Sonderbarer Silvesterabend
Das Zusammenleben zwischen Mensch und Hund hat mich fasziniert und bewegt. Es war mir stets ein Anliegen dieses komplexe Verhältnis in meinen Erzählungen zum Ausdruck zu bringen.
Doch es gibt eine Geschichte, die dennoch so schwer in Worte zu fassen ist, da so einfach, so groß und so wahr.
Eine Frau und ihr Hund
eine Kurzgeschichte
Alles begann mit einer Autofahrt.
Der Mann blickte zu seiner Frau auf den Beifahrersitz. Sie hielt ein Settermädchen im Arm, das sich fest an sie presste. Das Setterkind blickte unentwegt zu ihr hoch, so als wollte es flehen: “Bitte bringt mich nie mehr zurück.“ Die Frau erwiderte, so als hätte sie den Blick verstanden: „Ich verspreche es dir.“
Der Mann war noch zu sehr mit dem vorher Erlebten und dem traurigen menschlichen Umfeld beschäftigt, in welches der Welpe hineingeboren wurde: Verlustängste? Liebe, die zu Hass wurde? Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom?
Und auch er sagt laut: “Auch ich verspreche Dir, wir werden dich beschützen vor allem Lautem und Bösen, allen zum Trotz.“
Das Setterkind verbringt unbeschwerte Tage mit der neuen Familie in Frankreich, spielt im Garten und wenn es müde wird, schläft es auf Schoß der Frau ein.
Aber irgendwie ist dieser kleine Setter anders als alle Welpen, die vorher bei der Familie aufwuchsen. Trotz seiner hervorragenden Nase geht er nicht auf Erkundungstouren, sondern hält sich immer im Umfeld der Frau auf und folgt ihr auf Schritt und Tritt, wie die Gänseküken von Konrad Lorenz es taten. Ihre erste Autofahrt auf dem Arm der Frau hatte eine Bindung aufgebaut für ein ganzes Leben.
Anfangs denkt man, es gäbe vielleicht körperliche Beschwerden, die ihren Bewegungsdrang hemmen. Sie wird von einem Tierarzt gründlich durchgecheckt. Sie ist kerngesund.
Manchmal aber, wenn sie in ihrer Nähe nicht nur Wild vermutet, sondern dank ihrer ausgezeichneten Nase über dessen Existenz Bescheid weiß oder mit ihrer Freundin aus dem Odenwald unterwegs ist, dreht sie auf und quittiert ihre Aktion mit einem perfekten Vorstehen, um nach dem Abstreichen des Federwilds sofort wieder die Nähe der Frau zu suchen.
Aber sie ist wahrlich kein „Prüfungshund“, der sich herumkandieren lässt.
Über ein Feld hetzen, wenn ihre Nase ihr im Vorfeld sagt, dass es kein Wild gibt, nur um „Finderwillen“ zu zeigen, weil dies ihr befohlen wird, findet sie blöd. Und die erschrockenen Volierehühner sieht sie nicht als Wild, wahrscheinlich tun sie ihr leid.
Im menschlichen Umfeld fühlt sie sich wohler. Sie hat längst verstanden, dass die meisten Menschen nicht laut, sondern lieb sind und eine ist für sie die liebste. Sie blickt die Frau mit ihren Kastanienaugen an und weckt Erinnerungen an Generationen.
Sie beherrscht aber auch die Fähigkeit mit ihrer Beschützerin verbal (Quengeln, Fiepen, Jaulen, Piensen) oder nonverbal (durch Blicke) zu kommunizieren.
Es sind vielfältige „verschlüsselte Gespräche“, diese öffentlich wiederzugeben, wäre ein Vertrauensbruch beiden gegenüber. Meist geht es um die Futterabfolge, deren Begriffe der menschlichen Speisefolge entlehnt sind oder Erziehungsmaßnahmen, die überflüssig sind und deshalb nicht fruchten. „Angeblich“ reagiert „die Kleine“, die in der Zwischenzeit zu einer stattlichen Setterdame herangewachsen ist, auf das Wort „Steh“. Mehr ist aber auch nicht nötig.
Eines ist aber sicher: die beiden Mädels, wie die Frau die Kleine und ihre Halbschwester nennt, sind zwar unserer Sprache nicht mächtig, verstehen aber jedes Wort.
Gut, dass sie nicht schreiben können, sonst würden sie bei jeder Zurechtweisung eine Akte anlegen, die jeden Stasibericht in den Schatten stellen würde.
Und die Frau ist stolz, wenn ihr kluger Hund vom Spaziergang an ihrer Seite einen Apfel nach Hause trägt. Die Frau meint: „Es ist besser einen Apfel als ein „vergammeltes“ Kaninchen zu apportieren“.
Und wenn sich eine Autotür öffnet, nimmt „die kleine Lady“ die Gelegenheit wahr und stürmt hinein. Insgesamt liebt sie das Auto der beiden, sie erkennt es sogar am Motorgeräusch, denn alles begann mit einer Autofahrt, ihrer erste Fahrt in eine neue, schönere Welt.
Gordi der Lawinen - Rettungshund
eine Kurzgeschichte
Ein Mann, der als Kind bei Nachbarn einen Wurf Gordon Setter Welpen mitbetreuen durfte, will die schönen Erinnerungen noch einmal wahr machen. Er findet eine kleine Gordon Setter Hündin bei einer renommierten Züchterin in Hessen. Diese ermuntert den Mann später mit der Kleinen zu züchten, da dieser Welpe etwas Besonderes sei.
Und sie ist wahrlich eine Augenweide. Sie wächst prächtig und sein Besitzer ist sicher, mit dieser Hündin- mit dem Kosenamen „Gordi“ - würde er seinen lang gehegten Traum verwirklichen.
Eines Tages bei einem Spaziergang trägt der halbwüchsige Welpe einen großen Stock in der Schnauze. Der besorgte Besitzer fürchtet, der Welpe würde sich die Zähne verletzen und versucht ihm den Stock aus dem Fang zu nehmen. Dabei sieht er, dass drei der kleinen Zähnchen nach dem bereits erfolgten Zahnwechsel fehlen, was ihm anschließend durch einen Tierarzt bestätigt wird.
Nicht für die Zucht geeignet, entscheiden die Funktionäre. An diesen fünf Millimeter großen fehlenden Prämolaren sollten seine Hoffnungen scheitern? Er war untröstlich.
Doch nirgends sind die Gesetze so hart und so konfus wie in der Hundezucht.
Es gibt Hunderassen, deren Züchter Vorbeißer (unteren Schneidezähne stehen vor den oberen), Ektropium (unteres Lid hängt herab) oder ein komplett fehlendes Haarkleid (Nackthunde) und so einiges mehr als Rassemerkmal betrachten, bei anderen Rassen wieder sind das zuchtausschließende Mängel.
Der kleine Sohn des Mannes, der das Jammern mitbekommt, versteht die Welt nicht mehr. Er versichert seinem Vater, dass Gordi der liebste Hund sei, den es gibt. Dass sie ihm gelegentlich die Hausschuhe klaue, sei doch nicht schlimm, sie bringe sie doch jedes Mal wieder zurück.
Zwei Wochen später verkauft der törichte Mann, als sein Sohn in der Schule ist, die Hündin an einen Gastwirt aus Bayern, der einen jungen Hund mit guter Nase sucht, um ihn als Rettungshund auszubilden.
Der Mann hat noch ein gutes Gewissen dabei, da der Rettungshundeführer, ein freundlicher, aber etwas einsilbiger Mensch, ihm versichert, dass in seiner Gastwirtschaft wahre Leckerbissen auf Gordi warten und dass die Arbeit dem Hund viel Spaß machen wird.
Ein Jahr ist vergangen, der Name Gordi in der Familie scheinbar vergessen. Der Mann muss seinem Sohn keine Lügengeschichten mehr erzählen. Auch die Wogen in seinem Inneren hatten sich geglättet und er kann wieder ruhig schlafen.
Und dann kommt der Tag, als er im Postkasten einen Brief aus Bayern findet. Ein kariertes Blatt scheinbar aus einem alten Heft gerissen mit folgendem Satz: „Heute hat Gordi einem Menschen das Leben gerettet.“
In den folgenden Jahren erhält er in den Wintermonaten drei weitere Briefe mit dem gleichen Inhalt.
Wie den ersten Brief versteckt der Mann die weiteren Briefe in seinem Schreibtisch.
Der Junge wächst heran, er ist klug und wissbegierig.
Nachdem der Mann sich von der Zuchtidee verabschiedet und aus dem Tierheim einen großen zottigen Hund nach Hause bringt, hilft der Junge diesen von Kletten zu säubern, zu baden und zu kämmen.
Und plötzlich sagt er, indem er seinen Kopf auf den Rücken des Hundes legt: „Die Haare sind pechschwarz, wie die von Gordi.“
Der Mann legt verstört den Kamm bei Seite und sagt nach längerem Schweigen:
„Nichts ist so schlimm wie eine Lüge. Die Geschöpfe, die uns anvertraut werden, darf man nie verraten. Zucht heißt oft der Natur ins Handwerk pfuschen. Drei kleine Zähne machen noch keinen klugen und liebenswerten Hund aus. Junge, ich habe versagt. Es tut mir leid“.
Noch versteht der Junge nicht, was sein Vater meint.
Dieser geht zu seinem Schreibtisch und überreicht dem Jungen die Briefe aus Bayern. Der Junge überfliegt sie und rennt davon.
Einige Tage gehen sich beide aus dem Weg, doch plötzlich nach dem Abendessen sagt der Junge zu seinem Vater: „In einer Woche haben wir Weihnachtsferien. Bitte bring mich zu Gordi.“ Dieser nickt nur und verschwindet in seinem Arbeitszimmer.
Beide kommen an einem Samstag in Grainau in der Nähe von Garmisch an. Der Junge stürmt in die Gaststätte. Vor dem Kamin steht ein Weidenkorb, darin liegt auf einem weichen Kissen ein alter Hund. Sein pechschwarzer Rücken und sein vom Alter weiß gewordener Kopf bilden einen Kontrast. So viele Jahre sind vergangen und dennoch bewegt die Hündin leicht ihre Rute und zieht die Lefzen hoch zu einem Lachen, sowie sie als Welpe den Jungen stets begrüßt hat.
Der Mann kommt auch zum Korb, streicht dem Hund über den Kopf geht dann zum Wirt, der auch fassungslos die Szene beobachtet und legt diesem ein Bündel Scheine auf den Tresen und sagt: „Es war kein redliches Geschäft.“ Dann setzt er sich auf einen Stuhl und schweigt.
Auch der Wirt kann mit der Situation nicht umgehen und verlässt den Raum.
Etwas später kommt seine Frau mit einer Schüssel Weißwürste und bittet die beiden zu bleiben. Ein Zimmer habe sie bereits zurecht gemacht. Wenigstens jetzt sollte man sich besser kennenlernen.
Der Junge ist glücklich und sein Vater zu müde, um zu widersprechen.
Am folgenden Tag überredet die Frau die beiden, vor der Abfahrt wenigstens einen Spaziergang mit Gordi durch die verschneite Landschaft zu machen. Auch diesmal fügt sich der Vater.
Als die beiden mit Gordi zum Wandern aufbrechen, ruft die Frau ihnen hinterher, dass sie in der Nähe des Ortes bleiben sollen, da weiter oben akute Lawinengefahr bestehe.
Der Junge ist außer sich. Er tobt mit Gordi durch die Landschaft und diese kann trotz ihres Alters gut mithalten. Der Mann folgt den beiden etwas in Gedanken versunken, aber doch glücklich.
Ohne es zu wollen, entfernen sie sich recht weit vom Ort.
Als Gordi merkt, dass der Mann zu weit zurückbleibt, dreht sie um und läuft kläffend zu diesem hin.
Der Mann geht in die Hocke und bürstet ihr zärtlich mit der Hand den Schnee aus dem Fell.
Im gleichen Augenblick ertönt ein donnerndes Geräusch und eine Lawine stürzt den Berg hinunter. Instinktiv drückt der Mann die Hündin an sich.
Einen Augenblick später ist die Landschaft nicht wiederzuerkennen. Riesige Schneemassen soweit das Auge reicht und nirgends ist der Junge zu sehen.
Panisch sucht der Mann sein Handy und ruft den Gastwirt an. Dieser versteht sofort und löst Alarm aus.
Auch Gordi hat verstanden und setzt sich in Bewegung. Wie ein junger Hund bezwingt sie die Schneemassen, hält dann plötzlich inne, bellt etwas krächzend, wie es alte Hunde tun und beginnt mit den Vorderpfoten an einer Stelle wie rasend zu graben. Auch der Mann setzt seine Hände ein und hilft ihr dabei. Nach kurzer Zeit wird ein Zipfel der Jacke des Jungen sichtbar. Der Hund verbeißt sich darin und zieht mit Leibeskräften.
Als die Retter ankommen, ist der Junge bereits von den Schneemassen befreit. Gordi liegt neben ihm und atmet schwer. „Es ist das Herz“, sagt der Gastwirt. Der Junge wird sofort zwecks Kontrolle ins Krankenhaus gefahren und Gordi in die Tierklinik.
Am Abend sitzen alle im Gasthaus um den Kamin. Der Gastwirt flüsterte dem Jungen zu, dass der Herrgott es gut mit ihm meine, und dass heute für ihn ein Glückstag sei. Auch Gordi ist wieder die alte. Sie kaut an einem Kalbsknochen und wenn der Junge sie anspricht zieht sie die Lefzen zu einen Lächeln hoch.
Als sie am folgenden Morgen sich bereits verabschiedet hatten und im Auto sitzen, kommt die Wirtsfrau mit Gordi an der Leine, öffnet die hintere Wagentür lässt Gordi hineinspringen und richtet aus, dass ihr Mann sich entschuldige und mitteilen lasse, dass unredliche Verkäufe ja rückgängig gemacht werden müssten und dass er sowieso einen jungen Hund für den Rettungsdienst brauche.
Sie wischt sich eine Träne weg, drückt dem Jungen die Herztabletten für Gordi in die Hand und geht zurück in die Gaststätte. Von der Tür ruft sie noch dem Mann und dem Jungen, die versteinert im Auto sitzen, zu, dass es Zeit sei, endlich loszufahren.
Natürlich wird Gordi zu Hause nach Strich und Faden verwöhnt.
Natürlich verträgt sie sich gut mit dem Hund aus dem Tierheim.
Natürlich kann diese Geschichte wahr sein, wenn auch nicht in allen Details.
Sonderbarer Silvesterabend
Ich laufe mit unseren beiden Settern den üblichen Weg. Die Nacht bricht herein, wie jeden Abend.
Auf dem geteerten Waldweg kommt mir ein Paar entgegen. Ein junger Mann schiebt seine Frau im Rollstuhl. Sie lachen und sind glücklich. Ein glückliches Neues Jahr!
Wir laufen weiter, eine Frau spricht mich an. Ich erkenne sie wieder, sie hat vor kurzem von ihrem Golden Retriever Conner Abschied nehmen müssen. Sie ist traurig und erzählt mir wieder die Leidensgeschichte ihres verstorbenen Hundes.
Bisou, die die menschliche Gefühlswelt genau einschätzen kann, drückt sich an sie. Die Frau streicht ihr über den Kopf und sagt: „ Ich glaube, ich werde mich doch wieder auf die Suche begeben. Vielleicht wird es ein Setter wie du, Bisou“. Sie wünscht uns „ein glückliches Neues Jahr“ und geht weiter.
Wir begegnen noch der Dame mit ihren kleinen rumänischen Mischlingen, dem Pudelmix mit seiner lustigen Frisur aus dem Tierheim in Kosovo und den beiden streitsüchtigen Shepherds , die heute Abend ganz still an uns vorbei gehen. Ein glückliches Neues Jahr!
Heute ist alles anders. Auf der Wiese, dem Spielplatz der Hunde, ist Ruhe. Über dem kleinen See daneben ziehen die Nebel auf.
Auch meine beiden Hundedamen haben zum ersten Mal keine Lust zu toben. Sie stehen und halten die Nase in den Wind, die Behänge etwas aufgerichtet, und lauschen.
Und plötzlich glaube ich ein fernes Jaulen zu hören. Es klingt wie das Aufbegehren der Hunde in einem Zwinger, der bestimmt zwei Kilometer von unserem Haus in Frankreich entfernt ist, wenn der Besitzer die Fütterungszeiten mal wieder vergessen hat.
Die Klagelaute werden lauter und lauter. Und ich bilde mir ein, dass ich den „Sklavenchor“ aller Hunde dieser Welt höre – aus den „perreras“ aus Spanien, den französischen “fourrières", aus den Auffangstationen der Hundefänger in Ungarn oder Rumänien und überall auf der Welt. Ein glückliches Neues Jahr?
Ich drücke Bisou und Jela an mich und auch sie wollen plötzlich nach Hause.
Trotz Böllerverbot fliegen am nahen Ortsrand die Leuchtraketen durch die Nacht, so als wäre es Krieg.
Die Lichterketten der Häuser leuchten uns den Weg. Verzierte goldene Bäume, Torbogen tausendfach beleuchtet, güldene Terrassen, Rehlein an Hauswänden, bunte Lichterspiele.
Hier scheint die Welt in Ordnung zu sein.
Ich hatte vergessen zu erwähnen, dass wir auch an der Hütte des „Einsiedlers“ vorbeikamen. Er saß trotz Kälte auf seinem Holzstuhl vor dem Zelt und wärmte seine Hände an sieben hell brennenden Kerzen. „Ein glückliches Neues Jahr!“ ruft er uns nach.
Kurzgeschichten:
Eine Frau und ihr Hund
Gordi, der Lawinen- Rettungshund
Sonderbarer Silvesterabend
Das Zusammenleben zwischen Mensch und Hund hat mich fasziniert und bewegt. Es war mir stets ein Anliegen dieses komplexe Verhältnis in meinen Erzählungen zum Ausdruck zu bringen.
Doch es gibt eine Geschichte, die dennoch so schwer in Worte zu fassen ist, da so einfach, so groß und so wahr.
Eine Frau und ihr Hund
eine Kurzgeschichte
Alles begann mit einer Autofahrt.
Der Mann blickte zu seiner Frau auf den Beifahrersitz. Sie hielt ein Settermädchen im Arm, das sich fest an sie presste. Das Setterkind blickte unentwegt zu ihr hoch, so als wollte es flehen: “Bitte bringt mich nie mehr zurück.“ Die Frau erwiderte, so als hätte sie den Blick verstanden: „Ich verspreche es dir.“
Der Mann war noch zu sehr mit dem vorher Erlebten und dem traurigen menschlichen Umfeld beschäftigt, in welches der Welpe hineingeboren wurde: Verlustängste? Liebe, die zu Hass wurde? Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom?
Und auch er sagt laut: “Auch ich verspreche Dir, wir werden dich beschützen vor allem Lautem und Bösen, allen zum Trotz.“
Das Setterkind verbringt unbeschwerte Tage mit der neuen Familie in Frankreich, spielt im Garten und wenn es müde wird, schläft es auf Schoß der Frau ein.
Aber irgendwie ist dieser kleine Setter anders als alle Welpen, die vorher bei der Familie aufwuchsen. Trotz seiner hervorragenden Nase geht er nicht auf Erkundungstouren, sondern hält sich immer im Umfeld der Frau auf und folgt ihr auf Schritt und Tritt, wie die Gänseküken von Konrad Lorenz es taten. Ihre erste Autofahrt auf dem Arm der Frau hatte eine Bindung aufgebaut für ein ganzes Leben.
Anfangs denkt man, es gäbe vielleicht körperliche Beschwerden, die ihren Bewegungsdrang hemmen. Sie wird von einem Tierarzt gründlich durchgecheckt. Sie ist kerngesund.
Manchmal aber, wenn sie in ihrer Nähe nicht nur Wild vermutet, sondern dank ihrer ausgezeichneten Nase über dessen Existenz Bescheid weiß oder mit ihrer Freundin aus dem Odenwald unterwegs ist, dreht sie auf und quittiert ihre Aktion mit einem perfekten Vorstehen, um nach dem Abstreichen des Federwilds sofort wieder die Nähe der Frau zu suchen.
Aber sie ist wahrlich kein „Prüfungshund“, der sich herumkandieren lässt.
Über ein Feld hetzen, wenn ihre Nase ihr im Vorfeld sagt, dass es kein Wild gibt, nur um „Finderwillen“ zu zeigen, weil dies ihr befohlen wird, findet sie blöd. Und die erschrockenen Volierehühner sieht sie nicht als Wild, wahrscheinlich tun sie ihr leid.
Im menschlichen Umfeld fühlt sie sich wohler. Sie hat längst verstanden, dass die meisten Menschen nicht laut, sondern lieb sind und eine ist für sie die liebste. Sie blickt die Frau mit ihren Kastanienaugen an und weckt Erinnerungen an Generationen.
Sie beherrscht aber auch die Fähigkeit mit ihrer Beschützerin verbal (Quengeln, Fiepen, Jaulen, Piensen) oder nonverbal (durch Blicke) zu kommunizieren.
Es sind vielfältige „verschlüsselte Gespräche“, diese öffentlich wiederzugeben, wäre ein Vertrauensbruch beiden gegenüber. Meist geht es um die Futterabfolge, deren Begriffe der menschlichen Speisefolge entlehnt sind oder Erziehungsmaßnahmen, die überflüssig sind und deshalb nicht fruchten. „Angeblich“ reagiert „die Kleine“, die in der Zwischenzeit zu einer stattlichen Setterdame herangewachsen ist, auf das Wort „Steh“. Mehr ist aber auch nicht nötig.
Eines ist aber sicher: die beiden Mädels, wie die Frau die Kleine und ihre Halbschwester nennt, sind zwar unserer Sprache nicht mächtig, verstehen aber jedes Wort.
Gut, dass sie nicht schreiben können, sonst würden sie bei jeder Zurechtweisung eine Akte anlegen, die jeden Stasibericht in den Schatten stellen würde.
Und die Frau ist stolz, wenn ihr kluger Hund vom Spaziergang an ihrer Seite einen Apfel nach Hause trägt. Die Frau meint: „Es ist besser einen Apfel als ein „vergammeltes“ Kaninchen zu apportieren“.
Und wenn sich eine Autotür öffnet, nimmt „die kleine Lady“ die Gelegenheit wahr und stürmt hinein. Insgesamt liebt sie das Auto der beiden, sie erkennt es sogar am Motorgeräusch, denn alles begann mit einer Autofahrt, ihrer erste Fahrt in eine neue, schönere Welt.
Gordi der Lawinen - Rettungshund
eine Kurzgeschichte
Ein Mann, der als Kind bei Nachbarn einen Wurf Gordon Setter Welpen mitbetreuen durfte, will die schönen Erinnerungen noch einmal wahr machen. Er findet eine kleine Gordon Setter Hündin bei einer renommierten Züchterin in Hessen. Diese ermuntert den Mann später mit der Kleinen zu züchten, da dieser Welpe etwas Besonderes sei.
Und sie ist wahrlich eine Augenweide. Sie wächst prächtig und sein Besitzer ist sicher, mit dieser Hündin- mit dem Kosenamen „Gordi“ - würde er seinen lang gehegten Traum verwirklichen.
Eines Tages bei einem Spaziergang trägt der halbwüchsige Welpe einen großen Stock in der Schnauze. Der besorgte Besitzer fürchtet, der Welpe würde sich die Zähne verletzen und versucht ihm den Stock aus dem Fang zu nehmen. Dabei sieht er, dass drei der kleinen Zähnchen nach dem bereits erfolgten Zahnwechsel fehlen, was ihm anschließend durch einen Tierarzt bestätigt wird.
Nicht für die Zucht geeignet, entscheiden die Funktionäre. An diesen fünf Millimeter großen fehlenden Prämolaren sollten seine Hoffnungen scheitern? Er war untröstlich.
Doch nirgends sind die Gesetze so hart und so konfus wie in der Hundezucht.
Es gibt Hunderassen, deren Züchter Vorbeißer (unteren Schneidezähne stehen vor den oberen), Ektropium (unteres Lid hängt herab) oder ein komplett fehlendes Haarkleid (Nackthunde) und so einiges mehr als Rassemerkmal betrachten, bei anderen Rassen wieder sind das zuchtausschließende Mängel.
Der kleine Sohn des Mannes, der das Jammern mitbekommt, versteht die Welt nicht mehr. Er versichert seinem Vater, dass Gordi der liebste Hund sei, den es gibt. Dass sie ihm gelegentlich die Hausschuhe klaue, sei doch nicht schlimm, sie bringe sie doch jedes Mal wieder zurück.
Zwei Wochen später verkauft der törichte Mann, als sein Sohn in der Schule ist, die Hündin an einen Gastwirt aus Bayern, der einen jungen Hund mit guter Nase sucht, um ihn als Rettungshund auszubilden.
Der Mann hat noch ein gutes Gewissen dabei, da der Rettungshundeführer, ein freundlicher, aber etwas einsilbiger Mensch, ihm versichert, dass in seiner Gastwirtschaft wahre Leckerbissen auf Gordi warten und dass die Arbeit dem Hund viel Spaß machen wird.
Ein Jahr ist vergangen, der Name Gordi in der Familie scheinbar vergessen. Der Mann muss seinem Sohn keine Lügengeschichten mehr erzählen. Auch die Wogen in seinem Inneren hatten sich geglättet und er kann wieder ruhig schlafen.
Und dann kommt der Tag, als er im Postkasten einen Brief aus Bayern findet. Ein kariertes Blatt scheinbar aus einem alten Heft gerissen mit folgendem Satz: „Heute hat Gordi einem Menschen das Leben gerettet.“
In den folgenden Jahren erhält er in den Wintermonaten drei weitere Briefe mit dem gleichen Inhalt.
Wie den ersten Brief versteckt der Mann die weiteren Briefe in seinem Schreibtisch.
Der Junge wächst heran, er ist klug und wissbegierig.
Nachdem der Mann sich von der Zuchtidee verabschiedet und aus dem Tierheim einen großen zottigen Hund nach Hause bringt, hilft der Junge diesen von Kletten zu säubern, zu baden und zu kämmen.
Und plötzlich sagt er, indem er seinen Kopf auf den Rücken des Hundes legt: „Die Haare sind pechschwarz, wie die von Gordi.“
Der Mann legt verstört den Kamm bei Seite und sagt nach längerem Schweigen:
„Nichts ist so schlimm wie eine Lüge. Die Geschöpfe, die uns anvertraut werden, darf man nie verraten. Zucht heißt oft der Natur ins Handwerk pfuschen. Drei kleine Zähne machen noch keinen klugen und liebenswerten Hund aus. Junge, ich habe versagt. Es tut mir leid“.
Noch versteht der Junge nicht, was sein Vater meint.
Dieser geht zu seinem Schreibtisch und überreicht dem Jungen die Briefe aus Bayern. Der Junge überfliegt sie und rennt davon.
Einige Tage gehen sich beide aus dem Weg, doch plötzlich nach dem Abendessen sagt der Junge zu seinem Vater: „In einer Woche haben wir Weihnachtsferien. Bitte bring mich zu Gordi.“ Dieser nickt nur und verschwindet in seinem Arbeitszimmer.
Beide kommen an einem Samstag in Grainau in der Nähe von Garmisch an. Der Junge stürmt in die Gaststätte. Vor dem Kamin steht ein Weidenkorb, darin liegt auf einem weichen Kissen ein alter Hund. Sein pechschwarzer Rücken und sein vom Alter weiß gewordener Kopf bilden einen Kontrast. So viele Jahre sind vergangen und dennoch bewegt die Hündin leicht ihre Rute und zieht die Lefzen hoch zu einem Lachen, sowie sie als Welpe den Jungen stets begrüßt hat.
Der Mann kommt auch zum Korb, streicht dem Hund über den Kopf geht dann zum Wirt, der auch fassungslos die Szene beobachtet und legt diesem ein Bündel Scheine auf den Tresen und sagt: „Es war kein redliches Geschäft.“ Dann setzt er sich auf einen Stuhl und schweigt.
Auch der Wirt kann mit der Situation nicht umgehen und verlässt den Raum.
Etwas später kommt seine Frau mit einer Schüssel Weißwürste und bittet die beiden zu bleiben. Ein Zimmer habe sie bereits zurecht gemacht. Wenigstens jetzt sollte man sich besser kennenlernen.
Der Junge ist glücklich und sein Vater zu müde, um zu widersprechen.
Am folgenden Tag überredet die Frau die beiden, vor der Abfahrt wenigstens einen Spaziergang mit Gordi durch die verschneite Landschaft zu machen. Auch diesmal fügt sich der Vater.
Als die beiden mit Gordi zum Wandern aufbrechen, ruft die Frau ihnen hinterher, dass sie in der Nähe des Ortes bleiben sollen, da weiter oben akute Lawinengefahr bestehe.
Der Junge ist außer sich. Er tobt mit Gordi durch die Landschaft und diese kann trotz ihres Alters gut mithalten. Der Mann folgt den beiden etwas in Gedanken versunken, aber doch glücklich.
Ohne es zu wollen, entfernen sie sich recht weit vom Ort.
Als Gordi merkt, dass der Mann zu weit zurückbleibt, dreht sie um und läuft kläffend zu diesem hin.
Der Mann geht in die Hocke und bürstet ihr zärtlich mit der Hand den Schnee aus dem Fell.
Im gleichen Augenblick ertönt ein donnerndes Geräusch und eine Lawine stürzt den Berg hinunter. Instinktiv drückt der Mann die Hündin an sich.
Einen Augenblick später ist die Landschaft nicht wiederzuerkennen. Riesige Schneemassen soweit das Auge reicht und nirgends ist der Junge zu sehen.
Panisch sucht der Mann sein Handy und ruft den Gastwirt an. Dieser versteht sofort und löst Alarm aus.
Auch Gordi hat verstanden und setzt sich in Bewegung. Wie ein junger Hund bezwingt sie die Schneemassen, hält dann plötzlich inne, bellt etwas krächzend, wie es alte Hunde tun und beginnt mit den Vorderpfoten an einer Stelle wie rasend zu graben. Auch der Mann setzt seine Hände ein und hilft ihr dabei. Nach kurzer Zeit wird ein Zipfel der Jacke des Jungen sichtbar. Der Hund verbeißt sich darin und zieht mit Leibeskräften.
Als die Retter ankommen, ist der Junge bereits von den Schneemassen befreit. Gordi liegt neben ihm und atmet schwer. „Es ist das Herz“, sagt der Gastwirt. Der Junge wird sofort zwecks Kontrolle ins Krankenhaus gefahren und Gordi in die Tierklinik.
Am Abend sitzen alle im Gasthaus um den Kamin. Der Gastwirt flüsterte dem Jungen zu, dass der Herrgott es gut mit ihm meine, und dass heute für ihn ein Glückstag sei. Auch Gordi ist wieder die alte. Sie kaut an einem Kalbsknochen und wenn der Junge sie anspricht zieht sie die Lefzen zu einen Lächeln hoch.
Als sie am folgenden Morgen sich bereits verabschiedet hatten und im Auto sitzen, kommt die Wirtsfrau mit Gordi an der Leine, öffnet die hintere Wagentür lässt Gordi hineinspringen und richtet aus, dass ihr Mann sich entschuldige und mitteilen lasse, dass unredliche Verkäufe ja rückgängig gemacht werden müssten und dass er sowieso einen jungen Hund für den Rettungsdienst brauche.
Sie wischt sich eine Träne weg, drückt dem Jungen die Herztabletten für Gordi in die Hand und geht zurück in die Gaststätte. Von der Tür ruft sie noch dem Mann und dem Jungen, die versteinert im Auto sitzen, zu, dass es Zeit sei, endlich loszufahren.
Natürlich wird Gordi zu Hause nach Strich und Faden verwöhnt.
Natürlich verträgt sie sich gut mit dem Hund aus dem Tierheim.
Natürlich kann diese Geschichte wahr sein, wenn auch nicht in allen Details.
Sonderbarer Silvesterabend
Ich laufe mit unseren beiden Settern den üblichen Weg. Die Nacht bricht herein, wie jeden Abend.
Auf dem geteerten Waldweg kommt mir ein Paar entgegen. Ein junger Mann schiebt seine Frau im Rollstuhl. Sie lachen und sind glücklich. Ein glückliches Neues Jahr!
Wir laufen weiter, eine Frau spricht mich an. Ich erkenne sie wieder, sie hat vor kurzem von ihrem Golden Retriever Conner Abschied nehmen müssen. Sie ist traurig und erzählt mir wieder die Leidensgeschichte ihres verstorbenen Hundes.
Bisou, die die menschliche Gefühlswelt genau einschätzen kann, drückt sich an sie. Die Frau streicht ihr über den Kopf und sagt: „ Ich glaube, ich werde mich doch wieder auf die Suche begeben. Vielleicht wird es ein Setter wie du, Bisou“. Sie wünscht uns „ein glückliches Neues Jahr“ und geht weiter.
Wir begegnen noch der Dame mit ihren kleinen rumänischen Mischlingen, dem Pudelmix mit seiner lustigen Frisur aus dem Tierheim in Kosovo und den beiden streitsüchtigen Shepherds , die heute Abend ganz still an uns vorbei gehen. Ein glückliches Neues Jahr!
Heute ist alles anders. Auf der Wiese, dem Spielplatz der Hunde, ist Ruhe. Über dem kleinen See daneben ziehen die Nebel auf.
Auch meine beiden Hundedamen haben zum ersten Mal keine Lust zu toben. Sie stehen und halten die Nase in den Wind, die Behänge etwas aufgerichtet, und lauschen.
Und plötzlich glaube ich ein fernes Jaulen zu hören. Es klingt wie das Aufbegehren der Hunde in einem Zwinger, der bestimmt zwei Kilometer von unserem Haus in Frankreich entfernt ist, wenn der Besitzer die Fütterungszeiten mal wieder vergessen hat.
Die Klagelaute werden lauter und lauter. Und ich bilde mir ein, dass ich den „Sklavenchor“ aller Hunde dieser Welt höre – aus den „perreras“ aus Spanien, den französischen “fourrières", aus den Auffangstationen der Hundefänger in Ungarn oder Rumänien und überall auf der Welt. Ein glückliches Neues Jahr?
Ich drücke Bisou und Jela an mich und auch sie wollen plötzlich nach Hause.
Trotz Böllerverbot fliegen am nahen Ortsrand die Leuchtraketen durch die Nacht, so als wäre es Krieg.
Die Lichterketten der Häuser leuchten uns den Weg. Verzierte goldene Bäume, Torbogen tausendfach beleuchtet, güldene Terrassen, Rehlein an Hauswänden, bunte Lichterspiele.
Hier scheint die Welt in Ordnung zu sein.
Ich hatte vergessen zu erwähnen, dass wir auch an der Hütte des „Einsiedlers“ vorbeikamen. Er saß trotz Kälte auf seinem Holzstuhl vor dem Zelt und wärmte seine Hände an sieben hell brennenden Kerzen. „Ein glückliches Neues Jahr!“ ruft er uns nach.
ck.
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